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Der Welt-Detektiv Band 6

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Der Detektiv – Der ewige Jude – Teil 3

Walter Kabel
Der Detektiv
Band 21
Kriminalerzählungen, Verlag moderner Lektüre GmbH, Berlin, 1920
Der ewige Jude

Teil 3

Mein Leib war tot.

In dieser tiefen Narkose hörte ich flüsternde Stimmen, hörte das Kreischen von Türangeln, das donnerähnliche Zufallen einer schweren Tür.

Dann nichts mehr. Denken konnte ich nicht. Nur mein Gehör vermittelte mir Töne, Geräusche, die bald wieder um mich her laut wurden, wenn auch in Pausen. Mein Hirn nahm sie auf als etwas, das mich nichts anging.

Das dumpfe Rattern von Wagenrädern wurde abgelöst von dem kurzen Aufheulen von Dampfersirenen; polternde hallende Schritte folgten; Flüstern wieder …

Stille abermals … endlose Stille.

Erst nachher erfuhr ich, dass ich volle dreizehn Stunden bewusstlos gewesen war.

Nachher – als Harst uns doch gerettet hatte! Ich war tot. Und die endlose Stille ging über in eine Anzahl von Geräuschen, die ich vielleicht ihrer Bedeutung nach hätte ergründen können, wenn ich zum Denken, Überlegen, Kombinieren fähig gewesen wäre. So aber empfing mein Ohr die Töne, leitete sie lediglich in die Gehirnzellen des Gehörapprats. Hier aber versagte die Weiterleitung.

Dann deutlich eine Stimme:

»Schraut – aufwachen!«

Eine Stimme! Und da … da war plötzlich die Weiterleitung hergestellt!

»Harst!«, jagte der erste Gedanke wieder durch mein Hirn. »Harsts Stimme! Er muss dicht über deinem Kopf sprechen – dicht an deinem rechten Ohr!«

Ich fühlte, dass er meine Schulter rüttelte! Fühlte …! Also war auch die Empfindung mir zurückgegeben.

»Schraut – raffe Dich auf. Es geht um unser Leben!«

Ich wollte die Augen öffnen. Der Wille war da, steigerte sich bis zu einem wilden Kampf gegen die Lähmung, die meinen Körper in Banden hielt.

Dann – die Lider hoben sich, öffneten sich. Meine Pupillen empfingen die Strahlen einer trübe brennenden Laterne.

Harsts Gesicht war dicht über dem meinen.

Er half mir, mich auf der Koje aufzurichten. Neuer Kampf gegen Schwindelanfälle, gegen furchtbare Übelkeit.

Harst nahm mich wie ein Kind in die Arme. Ich sah auf dem zweiten Bett einen gefesselten Menschen liegen. Es ging aus der engen Kajüte hinaus in einen schmalen Gang. Wir schwankten. Wir befanden uns auf einem Segler. Maschinengeräusch war nicht zu hören. Nun eine Hühnerstiege von Treppe aufwärts, hindurch durch eine viereckige Luke an Deck. Nachthimmel über uns, knarrende, prall gefüllte Segel; ich lag hinter einem niedrigen Aufbau. Harst war auf allen vieren davongekrochen.

Ich hob den Kopf, schaute um die Ecke des Kombüsenaufbaus herum. Hinten am Steuer lehnte eine dunkle Gestalt. Das Fahrzeug war ein großer Hochseekutter. Dann – vor der Gestalt wuchs blitzschnell eine zweite hoch; die Gestalten verschwammen in eins; Harst hatte dem Mann am Steuer die Kehle zugedrückt, rang ihn nieder, kam zu mir zurück, trug mich in das Beiboot des Kutters, das im Kielwasser an einer Leine nachschleppte.

Der Kutter, dessen Steuer Harst in der bisherigen Lage festgebunden hatte, trieb weiter. Harst ruderte den Lichtern der nahen Küste zu. Die Lichter mehrten sich, wurden zu Reihen von Bogenlampen.

Wir legten abseits des Ortes an. Harst trug mich wieder. Dann sagte er: »Es ist Cuxhaven – bekanntes Terrain! Hin zu Kapitän Kuno Tiessen, unserem alten Gefährten von Christiania und vom Horna-Fjord her!«

Die kalte Luft der Herbstnacht tat mir gut. Ich versuchte, meine eigenen Füße zu gebrauchen. Sie gehorchten. Arm in Arm hasteten wir vorwärts; kamen vor Tiessens kleines Häuschen, trommelten ihn heraus. Seine Jacht Optimus hatte ihren Liegeplatz ganz in der Nähe. Und auf der Jacht schliefen wir dann, bewacht von dem treuen Kapitän, in den warmen, weichen, uns so wohlbekannten Betten volle zwölf Stunden.

Abend war es wieder geworden. Harst war nach Hamburg gefahren. Mit keiner Silbe hatte er unser Abenteuer im Hause Partorius bisher erwähnt, nur gesagt: »Wenn ich zurückkomme, werde ich sprechen.«

Auf Deck hastige Schritte. Harst riss die Tür auf. Das heißt: er war nicht Harst; es war ein älterer einfach gekleideter Seemann mit grauem Kinnbart und verdächtig roter Nase.

Harst im neuen Kostüm! Das deutete auf Sturm, Kampf, Aufregungen.

»’n Abend! Mach fix, Schraut. Da ist dein Anzug!« Er warf mir ein Bündel zu. »Findest alles drin, was du brauchst. In einer Stunde geht unser Zug! Kapitän Tiessen wird uns einen alten Koffer leihen. Ausweispapiere habe ich schon besorgt.«

Er setzte sich, drückte Tiessen die Hand. Ich begann meine Toilette. Und Harst sprach weiter: »Partorius ist nach Lissabon gefahren. Also zu Slami Zchumla. Ich wette: aus Angst vor dem Totengräber-Käfer. Bei Zchumla hofft er auf Rettung vor dem drohenden Dritten. Nicht wahr, Tiessen, Schraut hat Sie doch schon so etwas eingeweiht? Ja, wir sind da im alten Patrizierhaus in eine nette Falle geraten! Ich gebe zu: Ich war ganz ahnungslos! Erst als wir in den Aufzug hineingestoßen wurden, als es zu spät war, durchschaute ich das Ränkespiel. Man muss dort im Haus mit unserem Kommen gerechnet haben. Der Kerl oben am Fenster des Museums war die Wache. Der falsche Jochem machte seine Sache famos. Nun, ich habe die Polizei auf die Bewohner gehetzt. Zur Sicherheit hat man sie alle verhaftet: Köchin, Stubenmädchen, Kutscher mit Familie und Chauffeur! Nur Jochem ist auf freiem Fuß geblieben. Er weiß von nichts. Er hat in jener Nacht in seinem Bett gelegen und fest geschlafen. Die Glocke hat nicht geschellt. Die Bande hatte sie abgestellt.«

»Bande – ja, wer denn?«, warf Tiessen ein.

»Weiß ich noch nicht. Aber es muss von dem Personal jemand dabei gewesen sein. Ich habe Verdacht auf das Stubenmädchen und den Chauffeur. Sie sind erst seit August des Jahres im Hause. Ich bin dort gewesen, nachdem die ganze Gesellschaft in Untersuchung abgeführt war. Ich habe den Fuchsbau von oben bis unten durchstöbert. Jochem half mir. Ich fand vieles, was harmlos aussah und doch nicht harmlos war. So zum Beispiel das bewusste Buch mit dem noch immer zwischen den Blättern steckenden Totenkäfer. Am Rand der rechten Seite war ein Daumenabdruck von einer schmutzigen Kinderhand.«

»Ah, also von der Hand des Mädelchens!«, rief ich dazwischen.

»Natürlich! Wir werden die Kleine finden, wenn wir nur erst aus Lissabon zurück sind. Bis dahin bleiben die Leute sämtlich in Haft. Wer unschuldig ist, wird von mir reichlich entschädigt werden. Nun noch kurz etwas über unsere Befreiung: Ich gab für unser Leben keinen Pfifferling mehr, als die große Chloroformflasche von der Decke des Aufzugs durch das harte Aufstoßen herabfiel und zerschellte. Immerhin hatte ich noch die geringe Hoffnung, dass man uns zunächst nur wehrlos machen würde. Ich täuschte daher früher als nötig völlige Bewusstlosigkeit vor, sank um, obwohl ich noch bei Besinnung war und fiel absichtlich mit dem Mund gerade dicht über die breiteste Spalte der Fußbodendielen, wo wenigstens etwas Luft eindrang. So kam es, dass mein Chloroformrausch nur ganz leicht war. Ich erwachte bereits, als wir in einem geschlossenen Wagen durch die Straßen fuhren, hütete mich aber, auch nur die geringste Bewegung zu machen, behielt die Augen fest geschlossen, spielte dann auch an Bord des Kutters weiter den völlig Betäubten, bis es Nacht war, bis ich den bei uns wachenden Kerl unschädlich in die Koje packen konnte. Die Hauptsache ist, dass wir jede Spur hinter uns verwischen. Also reinen Mund gehalten, bester Tiessen. Wir werden nach Bremen reisen, dort zu reichen Engländern werden. Schraut spielt die Gattin des würdigen Master Howart Hopkins, der kein Wort Deutsch verstehen wird.«

Gleich darauf verabschiedeten wir uns von Tiessen, der uns einen so abgeschabten Lederkoffer mitgegeben hatte, dass dieser zu biederen Seeleuten vortrefflich passte.

Und wieder zwei Tage später machte es sich das Ehepaar Hopkins in seiner Kabine 1. Klasse des Lloyddampfers Hektor bequem. Frau Dasy Hopkins war nierenleidend und sollte den Winter in Ägypten zubringen. Sie kam nie an Deck. Das Ehepaar speiste in seiner Kabine. Und das Ehepaar waren wir: Harst und Schraut!

Am zweiten Tag abends saßen wir an dem kleinen Klapptischchen unserer Kabine, rauchten und unterhielten uns flüsternd.

»Morgen früh wird sich dein Zustand verschlechtern«, meinte er. »Denn abends sind wir in Lissabon. Wir müssen Grund haben, die Fahrt zu unterbrechen. Also richte dich danach. Für diese Kabinenhaft wird dich Lissabon entschädigen. Ich freue mich auf den Besuch bei Slami Zchumla. Wenn wir doch Palperlon dort erwischten! Wenn …! Ich möchte mal wieder in Ruhe Detektiv spielen. Dieses ewige auf der Hut sein habe ich beinahe satt. Die Geschichte in dem Lastenaufzug war selbst für meine Nerven eine zu harte Probe. Hätten die Schufte uns dort eine halbe Stunde liegen lassen, wäre es für immer mit uns aus gewesen.«

Am nächsten Abend hatte das Ehepaar Howart und Dasy Hopkins in dem deutschen Fremdenheim der Frau Schumann in der Rua Augusta (Straße) Wohnung genommen. Zwei nette Zimmer im Hochparterre, die nach einer stillen Seitengasse hinauslagen. Harst war diese Pension von dem Kapitän unseres Dampfers empfohlen worden. Unsere Zimmer boten den Vorteil, dass wir durch die Fenster unbemerkt nachts ein- und ausgehen konnten, ein großer Vorteil für Leute unseres Schlages. Frau Schumann war eine ältere, sehr liebenswürdige Dame, die mit ihren beiden Töchtern das über 40 Zimmer verfügende Haus verwaltete. Das Fremdenheim war gut besetzt. Lissabons milde, wenn auch regnerische Winter sind berühmt und locken aus England viele Damen mit schwachen Lungen in die portugiesischen Hauptstadt.

Um halb zehn abends wurde uns das Essen in unserem Salon serviert. Fräulein Hedwig Schumann, eine Jungfrau von reichlich 35 Jahren, leistete uns Gesellschaft und zeigte sich sehr besorgt um mein Befinden. Dass wir Deutsche und ich gar ein Mann war, ahnte sie auch nicht im Entferntesten. Sie war freundlich und zutraulich, sprach fließend Englisch und erzählte, dass ihr Vater hier Oberkellner gewesen war, dass sie nun schon 25 Jahre in Lissabon wohnten, aber im Frühjahr das Pensionat verkaufen und nach Deutschland zurückkehren würden. Ich beteiligte mich wenig an der Unterhaltung, denn mein Englisch war nicht erstklassig und hätte mich zu leicht verraten können. Master Hopkins-Harst dagegen spielte beinahe den Schwerenöter und brachte dann langsam, aber sicher Fräulein Schumann auf das Thema Altstadt von Lissabon, auf die dort zumeist hausenden Juden, und siehe da: Der Köder genügte!

»Ein sehr interessanter Stadtteil!«, meinte das freundliche Mädchen. »Er liegt um das uralte Kastell St. Jorge herum. Die Häuser dort stammen zum Teil noch aus der Maurenzeit, als die Araber hier die Herren waren. Und dann, Master Hopkins, dann wohnt dort ja der berühmteste Mann der Stadt! Vielleicht haben Sie schon von Slami Zchumla, dem Propheten, dem Seher, gehört. Oh, lächeln Sie nicht, Master Hopkins! Dieser jetzt 152 Jahre alte, sehr gelehrte Jude wird hier allgemein verehrt. Früher sagte er viel aus der Hand wahr. Jetzt lebt er zurückgezogener. Er soll sehr reich sein – soll! Aber man weiß über ihn eigentlich so wenig, obwohl er sozusagen mit zu den Sehenswürdigkeiten Lissabons zu zählen ist.«

Master Hopkins meinte, dieser Zchumla würde wohl ein Schwindler sein. Kein Mensch erreiche ein Alter von 152 Jahren.

Da wurde Fräulein Schumann zur warmherzigen Verteidigerin des Sehers. »Master Hopkins – niemals ist er ein Schwindler! Mein Vater starb im vorigen Jahr als 72-jähriger. Mit 25 Jahren war er nach Lissabon gekommen, als Kellner. Damals — und das hat der Vater vielen Zweiflern vorgehalten — war Slami Zchumla bereits ein Greis. Und Vater hat noch vor zwei Jahren ihn einmal besucht und hat ihn völlig unverändert gefunden. Und in derselben Weise könnten hier unzählige alte Leute bezeugen, dass der Seher schon um 1850 herum, als man auf ihn und seine Prophetengabe aufmerksam wurde, mindestens 70 Jahre alt war – mindestens! Er selbst gibt sein Alter wie gesagt auf 152 Jahre an. Und man glaubt es ihm hier ohne Weiteres. Seine Prophezeiungen sind stets eingetroffen. Freilich waren sie meist allgemeiner Natur.«

Master Hopkins-Harst gestattete sich nun zum Nachtisch eine Zigarette, blies Rauchringe, zuckte überlegen die Achseln und fragte, ob man denn so ohne Weiteres den Seher besuchen dürfe und wo er wohne. »Ich möchte ihn mal fragen, ob die Pennsylvania-Aktien endlich wieder steigen werden.« fügte er hinzu.

Fräulein Schumann lachte. »Ich wette, Master Hopkins, wenn Sie dem ehrwürdigen Greis gegenübersitzen, werden Sie nicht nach Börsengeschäften fragen! Jeder, der bei ihm war in seinem armseligen, baufälligen Haus aus der Maurenzeit – jedes Kind kennt es – merkte, dass der Seher für so materielle Fragen zu … zu hoch über derlei Dingen steht; jeder hütete sich von selbst, ihn zu kränken. Das haben mir genug Fremde nachher erzählt, wenn sie bei ihm gewesen waren. Es geht eben ein besonderes Etwas von diesem Mann aus, über den Sterben und Dahinwelken keine Macht haben. Ob er jeden Besuches annimmt? Nein! Viele hat er, ohne sie gesehen zu haben, zurückgewiesen, – scheinbar ohne Grund, – scheinbar! Es soll sich dann aber stets um albern-freche Neugierige gehandelt haben. In den letzten Monaten erfolgten diese Ablehnungen zahlreicher. Nur hin und wieder empfing er noch jemand. Es soll ihm gesundheitlich nicht gut gehen.«

»Lebt er denn ganz allein für sich? Hat er keine Verwandten?«

»Er hatte seine Tochter bei sich, eine alte, sehr bescheidene Person. Sie starb in diesem Frühjahr. Ihr Tod soll ihm sehr nahe gegangen sein. Jetzt haust er allein in dem weitläufigen, maurischen Bau. Seit Langem versorgt ihn die Nachbarschaft mit Speise und Trank. Man stellt ihm das Essen in die Vorhalle, von wo er es sich holt.«