Heftroman der

Woche

Neueste Kommentare
Archive
Folgt uns auch auf

Der Detektiv – Der Löwe von Flandern – Teil 7

Walter Kabel
Der Detektiv
Band 20
Kriminalerzählungen, Verlag moderner Lektüre GmbH, Berlin, 1920
Der Löwe von Flandern

Die Horna-Fee Teil 2

Die Jacht näherte sich am folgenden Mittag der Küste Islands. Die Sonne schien. Die Gletschermassen des Vatna-Jökull schillerten und gleißten in ungeheurer Ausdehnung über dem schwarz-grauen Landstreifen.

Harst, der seit Gilpes Abschied jedes Gespräch über das Inselgespenst abgelehnt hatte, prüfte nochmals die Skizze Palperlons und sagte plötzlich: »Es unterliegt ja nun keinem Zweifel mehr, dass James Palperlon mich auf diese unheimliche Fee hat aufmerksam machen wollen. Lieber Tiessen, das Inselchen, an dessen Ostseite nach der See zu die Gestalt stets erscheint, muss ganz nahe an der Fjordmündung liegen. Nach Gilpes Beschreibung hoffe ich die Stelle zu finden, und wenn gerade kein Fischkutter in der Nähe ist, klettere ich bis zu der Terrasse empor. Jakob Pedersen (das war unser Maschinist, Matrose und Koch) kann mich mit dem Beiboot hinüberrudern. Der Optimus selbst verbirgt sich irgendwo in der Nähe in einer Bucht.«

Tiessen schüttelte sehr bedenklich den Kopf. Auch ich warnte Harst.

Und Pedersen meinte: »Herr Harst, den Dübel ook, dat hefft doch noch Tid! Wir möten Sei festzurren, dat Sie uns nich utkniepen!«

»Lieber Pedersen, es ist nicht die geringste Gefahr dabei. Das weiß ich. Ich weiß noch mehr: Es muss einen zweiten Zugang zu der Terrasse geben! Den will ich eben suchen. Wenn wir erst in Barnjaröp sind, werden wir vielleicht von misstrauischen Augen dauernd belauert. Dann haben wir nicht mehr die rechte Bewegungsfreiheit. Ich will Ihnen allen jetzt sofort Folgendes einschärfen: Schraut und ich sind … Maler namens Schmidt und Henke. Wir beide werden so tun, als ob wir nicht nur einen, sondern mehrere Spleens hätten. Wundern Sie sich also nicht, wenn wir plötzlich etwas komisch wirken. Verratet Euch nicht! Seid überaus argwöhnisch gegen jeden. Verplappert Euch nicht, meidet den Alkohol an Land und haltet allezeit die Augen offen. Ganz besonders du, Karl, mit deiner feinen Spürnase kannst uns viel nützen.«

Eine halbe Stunde drauf lag der Optimus dicht vor einer Reihe von Klippen, hinter denen sich die Felsmassen eines ungeheuren Granitblocks von Insel auftürmten.

Es war die Horna-Insel. Deutlich konnte man oben an der von Rissen, Vorsprüngen und balkonähnlichen Felsnasen durchzogenen, etwas schrägen Wand die Terrasse mit ihrer weit vorspringenden Felsendecke erkennen.

Harst stieg in unser Aluminiumboot, in dem Pedersen schon Platz genommen hatte.

Pedersen stieß von der Jacht ab, zog die Riemen durch. Das kleine Boot entfernte sich schnell. Weit und breit war kein lebendes Wesen außer Möwen aller Arten zu sehen.

Zehn Minuten darauf kehrte Pedersen mit dem Beiboot zurück. Wir erblickten dann auch Harst, der bereits langsam und stetig seinen gefahrvollen Weg nach oben fortsetzte. Die Klippen hatten uns zunächst die Aussicht versperrt.

Er hatte Pedersen befohlen, ihn nach zwei Stunden wieder abzuholen. Der Optimus aber sollte nun sofort die Insel nach Westen zu umrunden und feststellen, wie breit der Meeresarm zwischen ihr und der schmalen Landzunge war, die die Einfahrt in den Horna-Fjord so sehr verengte.

Die Jacht, getrieben von dem Hilfsmotor, war in Kurzem um die Südwestecke der kleinen Insel herum, und wir konnten nun sofort erkennen, dass dieser ungeheure Granitberg von Insel diese Bezeichnung kaum verdiente, da sich eine vielleicht 50 Meter dicke, natürliche Felsenbrücke zu der Landzunge über den schmalen Wasserarm hinweg erstreckte, während unter dieser, in etwa 30 Meter Höhe liegenden Brücke die Fahrrinne durch Riffe und Klippen gänzlich gesperrt war.

Wir stoppten nun, denn ein besseres Versteck für den Optimus konnte es kaum geben als diese Bucht zwischen dem Inselchen und der gleichfalls felsigen steilen Landzunge.

Es war bereits empfindlich kalt. Wir hatten auch schon warme Kleidungsstücke angelegt, ebenso wie Harst noch in Cuxhaven für uns alle Fälle Schafpelze eingekauft hatte.

Endlich war es Zeit, dass Pedersen sich mit dem Beiboot auf den Weg machte. Kurz entschlossen stieg ich mit ein.

Die Sonne war längst verschwunden. Eisige, dünne Nebel führte der Nordost herbei. Wir hatten den kleinen Motor am Heck aufgesteckt. Knatternd sauste das leichte Boot über die schon bedenklich hochgehende See dahin. Wir wanden uns zwischen den Klippen durch, kamen in ruhiges Wasser, legten an, schauten empor zu der Nebel umwogten Höhe der Steilwand. Von Harst nirgends eine Spur. Der Uhrzeiger rückte vor. Zehn Minuten über zwei Stunden … zwanzig Minuten.

Pedersen reichte mir die Cognacflasche. Ich fieberte förmlich. Ich trank und es half. Der Alkohol ist oft wie eine rosige Brille, täuscht uns vieles vor.

Hinter uns jenseits der Klippen brandete das Meer immer stärker.

»Noch eine halbe Stunde, dann sitzen wir hier mit dem offenen Boot fest«, brummte Pedersen. »Die See geht immer höher Ich wünschte …«

Da – links von uns ein Pfiff: Harst!

Gleich darauf saß er im Boot. Pedersen kurbelte schon den Motor an.

Ich hatte Harald nur stumm die Hand gedrückt. Er selbst sprach kein Wort. Und eine Unterhaltung war auch unmöglich. Wir bekamen dauernd Spritzer über Bord, wurden bis auf die Haut nass. Es war eine Fahrt, bei der wir unser Leben jede Sekunde verlieren konnten. Ich schöpfte fortwährend Wasser aus. Harst tat nichts. Er saß zusammengeduckt da und brütete vor sich hin.

Wir erreichten glücklich den Optimus. Aber Pedersens große Cognacflasche war leer geworden.

»Wir bleiben bis zum Morgen hier!«, bestimmte Harst, nachdem er zu den ihn freudig begrüßenden Tiessen und Karl achselzuckend gesagt hatte: »Ich wusste ja: Die Rückfahrt soeben war das Schlimmste!«

Nachdem wir uns angezogen hatten, saßen wir fünf in der Kajüte bei heißem Kaffee, den Jakob Pedersen schnell gebraut hatte.

Vier Augenpaare mahnten Harst zum Sprechen. Er rauchte schon die vierte Mirakulum.

»Ich fand aber etwas anderes«, erklärte Harald nun und legte zwei winzige Gegenstände auf den Tisch.

Ich griff danach. In meiner flachen Hand lagen zwei weißliche Splitter, der eine etwa von Erbsengröße, der andere länglicher und glänzender.

Die Deckenlampe des Wohnsalons brannte so hell, dass ich eigentlich hätte erkennen müssen, um was es sich handelte. Schließlich fragte ich unsicher: »Stearin … von Kerzen?«

»Beinahe, mein Alter, beinahe!«

Karl Malke bat sich die beiden Stückchen aus, musterte sie, hielt sie dicht unter die Lampe, machte ein Gesicht, als ob er vor einer geheimnisvollen Leiche stände und … legte beide wieder auf den Tisch.

»Stearin … würde auch ich sagen!«, erklärte er. »Nur etwas rötlich schimmert das eine Stückchen.«

»Ganz recht. Und das ist wichtig«, erwiderte Harst.

Hiermit war aber auch die Fee für heute erledigt. Harst steckte die Stückchen wieder ein und begann mit Tiessen eine Schachpartie.

Morgens um acht Uhr kam ich an Deck. Ringsum alles weiß. Es hatte in der Nacht geschneit. Drüben im Nordwesten schimmerte die Eiswüste des Vatna-Jökull.

Hinter mir eine Stimme.

»In all dieser Reinheit, in dieser so gut wie unberührten Natur sinnen Menschen auf unfassbare Schandtaten!«, sagte Harst leise. »Menschen, die vielleicht mit dem Verbrechergenie Palperlon in Verbindung stehen. Schraut, was meinst du wohl: Wozu ließ man die zehn jungen Leute verschwinden … wozu?«

Ich hatte selbst schon darüber nachgedacht. »Ich weiß es nicht. Etwa um sie zu berauben?«

»Niemals? Überlege: Was können denn Seeleute und einfache isländische Bauernsöhne oder Fischer an Wertgegenständen bei sich haben? Nein – hier handelt es sich um etwas anderes, aber  um was? Ich finde keine Erklärung. Tatsächlich nicht, mein Alter. Harald Harst versagt hier. Versagt heute noch. Aber … ich werde von hier nicht eher weichen, bis ich denjenigen entdeckt habe, der die weibliche Gestalt dort als Lockmittel auf den Felsen schickt! Ein Lockmittel ist es natürlich. Die ganze Sache ist darauf angelegt, gerade junge Leute zu verführen, sich auf die Steilwand zu wagen. Ich wünschte, ich könnte mal hinauf, wenn diese böse Fee oben sichtbar ist. Dann sollte es ihr übel ergehen!«

Dass dies keine leere Drohung war, sah ich seinem Gesicht an. Bald tauchte die Ortschaft Barnjaröp auf. In einem kilometerbreiten Einschnitt zwischen den hohen Nordufern lagen weit zerstreute Steinhaufen, sämtlich mit Grastorf gedeckt. Nur um die Holzkirche herum machte das Ganze den Eindruck eines Dorfes. Der Hafen mit zwei langen Einlegebrücken und einem Wellenbrecher war größer, als man hier vermutete.

Wir machten dicht neben einem hart am Ufer stehenden Gasthof fest. Es war der einzige in Barnjaröp. Ein Zollbeamter kam an Bord. Die üblichen Formalitäten waren schnell erledigt. Eine Privatjacht von so schmuckem Aussehen wie der Optimus schmuggelt nicht. In Kurzem sammelten sich Neugierige an. Der Ortsvorsteher erschien und machte uns sozusagen seine Antrittsvisite. Er sprach fließend Englisch und war ein älterer, schwerblütiger Mann.

Harst begann nun (wir hatten uns inzwischen schöne blonde Bärte wachsen lassen, Harst sogar eine üppige Künstlermähne) den etwas angeknacksten Maler zu spielen. Der Isländer erhielt Rotwein vorgesetzt, die besten Zigarren und … allerlei harmloses Gerede, das Harst wie Wasser über die Zunge kam. Allerdings mit Kunstpausen! Denn der Maler Henke stotterte stark, was häufig auf Tiessens braunes Indianergesicht ein Lächeln lockte. Harsts Geschick, ein Gespräch ganz unmerklich auf einen bestimmten Gegenstand zu lenken, erstrahlte in hellstem Glanz. Nach zehn Minuten hatte er den Herrn Ortsvorsteher beim Thema Aberglaube, und bei der dritten Flasche Rotwein erzählte uns Sven Björka alles, was er grausig Geheimnisvolles von der Horna-Fee wusste und größtenteils ja als Amtsperson miterlebt hatte. Wir taten, als wüssten wir von alledem nichts – nichts! Neues erfuhren wir kaum.

Harst schien nicht recht an diesen Spuk zu glauben. Da wurde Sven Björka ganz erregt. Der Wein hatte seine Schuldigkeit getan.

»Selbst die klügsten beiden Männer von Barnjaröp zweifeln nicht daran«, meinte er fast beleidigt. »Ihr Landsmann Schlimp, der hier seit zehn Jahren ansässig ist, und der Privatgelehrte Master Thomas Preegrave, ein Engländer, haben sich persönlich überzeugt, dass es sich um eine wirkliche Erscheinung handelt, bevor noch der Detektiv aus Kopenhagen kam. Und die beiden Herren hören das Gras wachsen. Schlimp ist in den zehn Jahren hier ein reicher Mann geworden, und auch Preegrave ist ein Praktikus, wenn auch Gelehrter, der jetzt mit dem Schoner Old England, der hier gerade entladen wird, gute Geschäfte macht. Er sammelt Versteinerungen, packt sie in Kisten und schickt sie nach London, verdient viel Geld damit.«

»Wa … as für Ver … Versteinerungen?«, fragte Maler Henke da und warf mir einen Blick zu, den ich nicht recht zu deuten wusste.

»Nun – versteinerte Krebse, Muscheln und Ähnliches.«

»So … so.«

Ich stutzte. Dieses So so war für mich wie das Signal Achtung.

Aber Harst sprach bereits von anderen Dingen, ob es hier besonders malerische Punkte gebe, und so weiter.

Sven Björka empfahl uns unter anderem die natürliche Felsenbrücke zwischen der Horna-Insel und der Landzunge. »Die ist schon oft fotografiert und gezeichnet worden. Auch Preegraves Frau ist Malerin, aber nur so zum Vergnügen. Aber seit Langem geht sie kaum mehr aus. Sie ist kränklich. Die raue Luft hier verträgt nicht jeder. Wer sich in drei Jahren nicht daran gewöhnt, zieht am besten wieder weg von hier. Preegrave ist jedoch schon zu sehr mit seinem schönen Landsitz verwachsen, um uns wieder zu verlassen.« Sven Björka verabschiedete sich dann bald, lud uns für den Abend zu sich ein und ging etwas unsicher auf den Beinen von dannen.

Wir schauten ihm nach.

»Du hast Verdacht gegen diesen Preegrave geschöpft?«, fragte ich leise.

»Ja, aber nicht hinsichtlich des Spuks, mein Alter. Nur der Versteinerungen wegen. Es ist nämlich barer Unsinn, dass jemand damit viel Geld verdienen kann. Und gar kistenweise sendet er sie per Schiff nach London! Schwindel ist das! Ich werde dahinter kommen. Schau nicht nach links jetzt, Schraut. Ich nehme an, dass es der Engländer ist, der dort auf dem Deck des Schoners steht. Ah – da werden ja bereits Kisten von den Wagen abgeladen und aufgestapelt. Wahrscheinlich enthalten sie die Versteinerungen. Besinne dich: Björka erwähnte, dass Preegrave auch ein chemisches Laboratorium in seinem Haus hätte. Der Engländer wohnt ganz abgelegen drüben nach Südwest zu in einem Tal. Nur einen einzigen Diener hält er, einen Spanier. Wir werden uns nachts die Kisten mal genauer ansehen.«