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Der Detektiv – Der Löwe von Flandern – Teil 4

Walter Kabel
Der Detektiv
Band 20
Kriminalerzählungen, Verlag moderner Lektüre GmbH, Berlin, 1920
Der Löwe von Flandern

Teil 4

Es war mittlerweile beinahe zwölf Uhr geworden. Wir eilten zum Hafen hinab. Die Brigg lag noch an derselben Stelle am Bollwerk im Piperviken. Die Kajütfenster am Heck waren erleuchtet. Wir schlichen über die Laufplanke, über das Achterdeck, standen nun vor der Tür der Kajüte, die so viel Rätsel barg.

Wir hörten jemand sprechen. Zu verstehen war jedoch nichts.

Harst suchte nach einem Tau, ließ sich dann am Heck ein Stück herab, bis er die Fenster in einer Höhe vor sich hatte. Sie waren jedoch verhängt. Als er wieder emporklettern wollte, wurde die Kajüttür plötzlich aufgerissen. Der helle Lichtschein traf Lundström und mich.

Der kleine, magere, bärtige Mensch, der in der Rechten eine Pistole schussbereit hoch hielt, krähte sofort: »Was wollt Ihr Halunken hier? Schert Euch zum Teufel! Ich fackele nicht lange!«

Das war kerniges Deutsch … Lundström grüßte und erklärte schnell gefasst: »Ich bin der Kriminalinspektor Lundström. Ich wollte bitten, ob Sie uns beiden gestatten würden …«

»Beiden, beiden! Da ist doch noch ein Dritter auf dem Kajütdach! Ich habe ihn sehr wohl gehört … Herr Inspektor … Ich gestatte nichts, gar nichts! Ich kenne Sie vom Sehen. Wenn Sie als Beamter verlangen, dass ich Sie einlasse – bitte! Aber nur Sie. Unbeteiligte haben hier nichts zu suchen … gar nichts!«

Da, von oben Harsts Stimme: »Mein Name ist Harald Harst, Landsmann. Ich bin zuweilen aus Liebhaberei …«

»… ja … Detektiv! Weiß ich! Liebhaberdetektive können mir gestohlen bleiben! Ich fordere Sie und den anderen Herrn da auf, mein Schiff schleunigst …«

Harst war mit einem Satz dicht vor der Kajüttür, spähte in den hellen Raum hinein, sagte dann, da der Kleine, Jähzornige erschrocken zurückgetreten war: »Wir gehen ja schon. Guten Abend, Herr Krebs!«

Und dieser Krebs schimpfte nun hinter uns her, dass Lundström seinerseits grob werden wollte.

»Ruhe!«, flüsterte Harst. »Ruhe! Wir hörten doch zwei sich in der Kajüte unterhalten. Der Zweite ist vielleicht …« Er lachte leise.

Mir ging eine Ahnung auf! »Herr Nichts Niemand gewesen!«, vollendete ich.

»Ja … und dieser Herr Nichts war nicht mehr in der Kajüte oder hatte sich versteckt«, meinte Harst gut gelaunt. »Krebs wird sein Gehilfe sein. Na, nun können wir vielleicht unseren Konkurrenten so etwas enthüllen … vielleicht!«

Da es bereits zu spät war, auch zu dunkel, ein Boot zu nehmen und nach dem Optimus zu suchen, schliefen wir bei Lundström, der genügend Lagerstätten für Gäste hatte. Als wir dann morgens gegen viertel neun Uhr beim Frühstück saßen, kam ein Matrose mit einem Brief für den Inspektor und verschwand sofort wieder.

Der Brief lautete:

Der Löwe von Flandern ist vor einer Stunde in den Besitz des hiesigen Steuermanns Olaf Afsgreen übergegangen. Ich hatte die Brigg nur erworben, um die Kajüte ganz genau durchsuchen zu können. Sie hat nach der rechten kleinen Seitenkammer zu ein sehr fein angelegtes Versteck mit Geheimtür, das groß genug ist, sogar schmale Kisten aufzunehmen. Die Polizei hier hat dies Versteck, das leer war, nicht entdeckt. Ich habe es entdeckt! Vielleicht hilft Ihnen und Ihrem plötzlich hier wieder aufgetauchten Bekannten Harald Harst diese Mitteilung ein wenig weiter! Ich selbst verschwinde hiermit wieder in der Versenkung …

Lihin Omen.

Wir lachten. Und Harst meinte: »Dieser Omen muss reich sein. Er kauft eine Brigg für einen Tag. Na, sehen wir uns das Versteck an.«

Wir taten es. Harst kniete vor der sehr geschickt angelegten Geheimtür, tastete mit der Hand auf dem Boden des Verstecks herum, sagte dabei halblaut: »Ein Mann kann hier zur Not drin hocken! Und … dies hier sind Reste von Schiffszwieback und dies …« Er holte aus der dunkelsten Ecke ein zusammengeballtes Zeitungsblatt hervor. »Und eingewickelte Bananenschalen!«

Dann schien er kein Interesse mehr für die Kajüte zu haben.

Eine Stunde drauf hatten wir den Optimus von unserem gemieteten Segelboot aus zwischen den kleinen Busch bewachsenen Inseln erspäht. Ein lautes Hurra, da sind sie! klang uns entgegen. Karl Malke, unser kleiner Freund, hatte es hinausgejubelt.

Und wieder eine Stunde darauf sagten wir Lundström Lebewohl, den Harst durch die Worte in hoffnungsfreudigste Stimmung versetzt hatte: »Nach einer Woche ist das Geheimnis der Brigg kein Geheimnis mehr. Das verspreche ich Ihnen!«

Vier Tage später waren wir in Amsterdam. Den Optimus hatten wir in Cuxhaven zurückgelassen, waren mit der Bahn nach Holland gefahren.

Wir hatten in einem kleinen Hotel Wohnung genommen, unter anderen Namen, wieder als Vater und Sohn. Ich war zum weißbärtigen alten Herrn geworden. Deutsche Agrarier auf einer Vergnügungsreise wirken so harmlos. Abends waren wir angelangt. Während der Eisenbahnfahrt hatte Harst den Löwen von Flandern mit keiner Silbe mehr erwähnt. Unseren kurzen Aufenthalt in Cuxhaven habe ich hier absichtlich übergangen. Er bot nichts Besonderes. Nur das eine eben, dass Harst dem Inspektor Lundström erklärt hatte, er hoffe in Deutschland das Rätsel zu lösen. Aber daraus war nichts geworden. Cuxhaven war scheinbar eine Niete. Harst war dort vier Stunden allein ausgegangen. Dass er sich nach dem Fischdampfer erkundigen wollte, war ja selbstverständlich. Als er zurückkehrte sagte er nur: »Cuxhaven 3 liegt hier zwar vor Anker, hat jedoch eine andere Besatzung. Wo die bisherige geblieben, weiß kein Mensch. Ich kann mich damit nicht aufhalten, Hollborn, Schmidt und den drei anderen Leuten – denn der Dampfer hatte ja in Christiania fünf Mann an Bord – nachzuspüren. Machen wir, dass wir nach Amsterdam zu Frau Antje Planboom kommen, die, wie wir von Lundström wissen, Jodenbreestraat 21 wohnt. Wenn wir dort kein Glück haben, steht die Sache oberfaul für uns. Dann wird Harald Harst sich vielleicht zum ersten Mal in seinem Leben als Detektiv blamieren!«

Es war nun neun Uhr. Wir hatten auf unserem Zimmer gegessen. Harst saß und rauchte eine seiner geliebten Mirakulum, schaute den tadellosen Rauchringen sinnend nach und hatte die Augen halb zugekniffen.

Ich studierte die deutschen Zeitungen, die wir hier auf dem Bahnhof gekauft hatten.

»Was Neues?«, fragte Harst plötzlich. »Du starrst so interessiert auf eine bestimmte Stelle, dass ich vermute, es gibt dort etwas, »das in unser Fach schlägt.«

»Stimmt. Ein Mord in Hamburg. Ein Seemann ist vorgestern Abend im Hafenviertel erstochen worden. Den Täter hat man verfolgt. Aber er sprang ins Wasser, tauchte und verschwand. Offenbar ein Raubmordversuch. Bei dem Opfer fand man einen Leinwandbeutel mit ein paar Diamanten und einem halben Hundert wertvoller Perlen.«

»Name des Opfers?«

»Der Mann hatte keinerlei Papiere bei sich. Man weiß bisher nicht, wer es ist.«

»Gib bitte mal die Zeitung her.« Harst las den Artikel, überflog dann suchend die Spalten des Beiblattes.

»Aha, hier unter Letzte Nachrichten steht es. … Höre: »Der Ermordete (vergl. Mord im Hafenviertel) ist durch ein paar Seeleute als der mehrfach vorbestrafte Steuermann der Handelsmarine Franz Hollborn identifiziert worden. Man kann nur annehmen, dass Hollborn die Diamanten und Perlen auf unredliche Weise erworben hat. Er war ein internationaler Abenteurer schlimmster Sorte … und so weiter.«

Harst ließ das Blatt sinken. »Na, mein Alter, was sagst du nun …? Sagen musst du jetzt etwas. Oder du bist nicht wert, mein Privatsekretär zu sein.«

»Ich bin es wert«, scherzte ich. »Ich sage: Vielleicht hängen die Diamanten und Perlen mit dem Löwen von Flandern zusammen.«

»Ganz recht. Nur: das vielleicht streiche. Ich wette: Sie stammen von der Brigg. Denke an die höhnische Frechheit des Schlanken und … an Heine!«

Ich zuckte förmlich zusammen, rief leise: Das Gedicht … das Gedicht!«

»Ja! Du hast Diamanten und Perlen, hast alles was Menschenbegehr! Nun, ich will dir verraten, dass ich mir damals, als ich diesen Vers las, sofort dachte: Ohne Grund ist diese Seite des Heine-Bandes fraglos nicht aufgeschlagen und der Dolch darüber gelegt worden! … Und – bei Lundström wurde mir bestätigt, dass es sich hier um Diamanten und Perlen handelt, als wir in seinem Arbeitszimmer spät abends unseren Fall erörterten und ich das Fahndungsblatt aufgeschlagen auf dem Schreibtisch sah. Der gute Lundström hätte ebenfalls auf den Gedanken kommen können, dass der Juwelenraub bei dem chinesischen Händler in Colombo auf Ceylon vielleicht zu dem Löwen von Flandern in recht enger Beziehung steht. Mir fiel diese Möglichkeit sofort ein, weil nämlich der Raub gerade zwei Tage vor der Abfahrt der Brigg aus Colombo verübt wurde, wobei die beiden von dem Gehilfen des Chinesen beobachteten Täter dem Opfer die Kehle durchgeschnitten haben. Der Gehilfe konnte die beiden einigermaßen der Polizei beschreiben: gutgekleidete Europäer, Vollbärte, Brillen. Und die Polizei in Colombo vermutete dann, diese Gauner seien per Schiff ausgerückt.«

»Ah … Hollborn vielleicht und dessen Steuermann Schmidt!«

Harst schüttelte den Kopf. »Glaube ich nie und nimmermehr. Überlege dir doch das, was wir über die Brigg und den Fischdampfer wissen. Es ist als sicher anzunehmen dass Hollborn die Brigg wirklich überfallen hat. Er hatte ja – ich will dies jetzt nachholen – den Cuxhaven 3 nämlich nur für vierzehn Tage gemietet, Sicherheiten hinterlegt und mit eigenen Leuten den Dampfer dann bemannt und ist ausgefahren … angeblich, weil er neue gute Fischgründe entdeckt hätte, die er abgrasen wollte.«

»Allerdings, dann …«

»Ja – wenn Lundström so schlau gewesen wäre, sich auch ein wenig näher mit Cuxhaven 3 zu beschäftigen, hätte er unbedingt sofort herausfinden müssen, dass dieser Hollborn ein recht fragwürdiges Subjekt war und dass alles darauf hindeutete, nur er selbst könne den Löwen von Flandern in der Nordsee angehalten haben. Ich betone, angehalten haben. Den Ausdruck überfallen wollen wir besser streichen. Ich würde mich für Frau Antje Planboom nicht interessieren, wenn ich eben nicht den Verdacht hätte, ihr Mann habe mit Hollborn gemeinsame Sache gemacht!«

»Verdacht? Hm, der Grund hierfür?«

»Weil Hollborn die Brigg nach Christiania einschleppte. Dadurch wurde Planboom vor pekuniärem Schaden bewahrt. Die Ladung gelangte in den Besitz der betreffenden Firma, und der Versteigerungserlös fiel Frau Antje zu, der – hm – der Witwe, die … keine Witwe ist. Planboom dürfte noch leben, schätze ich!«

Mir wurde wieder mal wirr im Kopf. »Du, das ist tatsächlich eine verwickelte Geschichte!«, meinte ich.

»Scheinbar. Sobald wir erst wissen, wer der Flüchtling ist, der aus dem Kajütfenster hinter dem Kohlenkahn verschwand und der ein Stück unter Wasser schwamm, also tauchte …« Er betonte das verschwand und tauchte unmerklich, und in demselben Moment fiel mir die Notiz unter Letzte Nachrichten ein, wo es doch auch hieß: »… sprang ins Wasser, tauchte und verschwand«, sodass ich nun ausrief: »Du vermutest, dieser Mörder und der Flüchtling …«

»Natürlich vermute ich, dass es sich um denselben Mann handelt, der vielleicht Hollborn das wieder abnehmen wollte, was dieser ihm geraubt hatte, ein Gauner dem anderen: Diamanten und Perlen!«

Wie ein Blitz wurde es Licht in meinem Hirn. »Der Flüchtling kann einer der Räuber aus Colombo sein …«

»… und kann sich in dem Versteck in der Kajüte, wo doch Brotkrumen und Bananenschalen auf bescheidene Mahlzeiten hindeuteten, verborgen haben, bis er sich dann in Christiania herauswagte. Es kann einer der Mörder des Chinesen sein! Kann! Aber … das schwebt noch alles zu haltlos in der Luft. Genauso wie meine Annahme, dass Hollborn sowohl die vier indischen Matrosen der Brigg als auch deren Steuermann Rouvier und den anderen Colomboer Räuber zu den Fischen geschickt hat, mit Planboom gemeinsame Sache machte, der die beiden Diamantendiebe in Colombo heimlich an Bord nahm. … Alles Vermutungen, Kombinationen, die uns ja nun ein ungefähres Bild von den wirklichen Vorgängen geben, die aber mir nicht genügen können. Ich will Klarheit haben, mein Alter. Also gehen wir in die Jodenbreestraat 21.«

Dort, wo sich die Jodenbreestraat zu einem winzigen Platz erweitert, wo sich rechts und links kleine Gärtchen an den Kanälen hinziehen, wo hohe Lagerspeicher armselige Häuschen zu erdrücken scheinen, lag Nummer 21.

Wir waren im Schatten der Gebäude bis an das Haus herangeschlichen. Keine Menschenseele ringsum; nur wenige erhellte Fenster. Wir hockten uns der 21 gegenüber in der Einfahrt eines Speichers zusammen und betrachteten das zweistöckige, uralte Wohnhaus, neben dem links ein Garten lag. Über den Zaun zum Kanal zu hingen Netze. Eine Laterne stand gerade vor dem Gärtchen.

»Nirgends Licht!«, flüsterte Harst. »Es dürfte dort drei Wohnungen geben, Erdgeschoss und die beiden Stockwerke. Aber wo wohnt nun unser Mann?«

Ein Polizist schlenderte vorüber. Harst huschte ihm nach, kam nach einer Weile zurück.

»Erdgeschoss!«, sagte er. »Der Beamte war weniger maulfaul als sonst hier das Volk. Er kennt Kapitän Planboom, hat auch schon von dem geheimnisvollen Verschwinden der Besatzung der Brigg gehört. Frau Antje will morgen Amsterdam verlassen und nach Den Haag ziehen. Die Möbel werden morgen früh per Kahn fortgeschafft. Hm – hier darf der tote Planboom sich ja nicht mehr sehen lassen. Im Haag aber …« Er schwieg, packte meinen Arm.

Ich sah einen Mann, der sich soeben blitzschnell über den Gartenzaun schwang und in Richtung Kanal zu in der Dunkelheit untertauchte.

»Vorwärts!«, mahnte Harst. »Die Glocken stimmen einen ganz feierlich. Aber, unser Geschäft hat nichts mit Poesie und Frömmigkeit zu tun. Wir sind hinter Mördern her … Halt!« Er zog mich wieder in die Einfahrt zurück. »Da … ein zweiter Mann! Der hat bestimmt keine guten Absichten. Schau, auch er klettert über den Zaun. Nun hat er sich der Länge nach hingeworfen; er kriecht weiter. Du, dass ist einer, der dem Ersten auf den Fersen war. Sollte etwa …« Kurze Pause. »Ein Gedanke: Wir nehmen ein Boot dort weiter links und rudern an die Wasserfront von Nummer 21 heran. Vielleicht kommen wir so schneller zum Ziel!«