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Bergmann und Wilddieb IV

Bergmann und Wilddieb
Eine Novelle von Julius Dornau
Johann Ambrosius Barth Verlag, Leipzig, 1841

Das Schicksal freut sich, Sterbliche zu quälen, und treibt mit ihnen grausam oft sein Spiel.

Horaz

IV.

Die Rettung

Wie lang er in Betäubung dort gelegen,
bemerkt er nicht, er war der Erd’ entbunden,
der Stunden Wechsel konnt er nicht erwägen;
sein Blut war starr, Bewusstsein war entschwunden.
Wie seine Ohnmacht neuen Pulsesschlägen
entweiche, ahnt er nicht, als seine Wunden,
der Adern Stechen, Gliederschmerz ihm zeigt,
dass langsam nur der Tod, besiegt, entweicht.
Byron

Wer schrie? Wessen Kehle stieß den kreischenden Schreckenston aus, der durch Mark und Gebein drang? War es der Bergmann? Der Mann, welcher mit grässlicher Verzweiflungslust der Mündung des Gewehres zugestürzt war, als käme ihm daher der Gruß einer Braut entgegen? Glaubt irgendwer, dass die Lunge dieses Mannes so viel Luft, seine Kehle so viel Kraft gegeben hätte, um solch einen Schrei hervorzustoßen? Niemals! Die Gestalt, die dort leblos am Boden liegt, eine losgeschossene Flinte in der krampfig geschlossenen Rechten und an der Stirn stark blutend – das ist der Jäger. Der Mann, welcher auf den Gefallenen mit leblosem, nichtssagendem Blick niederstiert, aus dessen Ärmel aber ein Quell roten Blutes rinnt – das ist der Bergmann. Er wankt jetzt, vom Blutverlust entkräftet, und ist nahe daran, zu seinem gestürzten Feind hinzusinken.

Da springt ein Dritter, noch Unbekannter, herbei, fängt den Sinkenden in seinen Armen auf, wirft einen wilden Siegerblick auf den gefällten Jäger und trägt seine Last sonder Anstrengung und eilenden Schrittes hinweg. Er war der Retter des Bergmanns. Und doch wäre es besser, er wäre nicht erschienen, besser, er hätte den Jäger zum Mörder werden und die treue Gatten- und Vaterbrust von dem wohl gerichteten Blei zerschmettern lassen.

Aber wie war alles so gekommen? Der Fremde war im Wald ungesehener Zeuge des Vorganges zwischen dem Jäger und Bergmann gewesen, war dann, den Ausgang vorahnend, dem Verfolgenden in wohlbemessener Entfernung gefolgt und, von beiden Parteien unbemerkt, in jenem entscheidenden Moment an die Seite des Schützen gekommen, wo des Bergmanns Leben an der Regung eines Fingergliedes hing. Ein Schlag seiner Faust gegen den Kopf des Jägers entpresste diesem den kreischenden Schmerzensschrei, stürzte ihn bewusstlos nieder, verhinderte aber nicht, dass der Schuss losging und die Ladung zwar nicht in die Brust, wohl aber in den Arm desjenigen drang, den daheim eine kranke Frau und drei hungernde Kinder erwarteten.

Ehe die Erzählung weiter schreitet, muss sie etwas bei dem Unbekannten verweilen, der so plötzlich und tatkräftig in ihr Getriebe eingreift. Er war lang und stark, ebenmäßig und kräftig gebaut – eine Gestalt, die als Modell zu einer Gladiatorstatue vortreffliche Dienste geleistet hätte. Seine Arme strotzten von Stärke und hätten, so schien es, ohne besonderen Kraftaufwand einen Büffel aus den Prärien Südamerikas fällen können. Seine breiten Schultern hätten im Lasttragen vielleicht des Krotoniaten Milo gespottet. Sein runder Kopf, mit dem Rumpf durch einen kurzen Hals verbunden, war mit brennend rotem Haar bedeckt. Leute so altsächsischen Hauptschmucks haben in der Regel ein wohlgeformtes Gesicht und angenehme Züge. Dieses war auch hier der Fall, obwohl ein buschiger Backen- und Kinnbart den Eindruck des Angenehmen geflissentlich schwächte. Eine hohe, freie Stirn, eine stark gebogene Nase, kühn auf geworfene Lippen über zwei Reihen blendend weißer Zähne und weite feuervolle Augen, aus denen Schlauheit und List, Mut und Entschlossenheit sprachen, bezeichnen wohl hinreichend das Äußere des Fremden, der bald mehr in Wort und Tat auftreten und aufs Deutlichste die Beschaffenheit seines Inneren kundgeben wird. Seine Bekannten und Freunde nannten ihn untereinander den Rotkopf, und so heiße er auch hier.

Er entfernte sich, wie bereits erzählt ist, mit der aufgenommenen Bürde von dem Schauplatz der Gewalttat und des Mordes und ging dem nächsten Dorf zu.

Hier angekommen, bat er um Obdach, Herberge und Pflege des in Ohnmacht Gesunkenen, aber überall, Haus für Haus, wurde er abgewiesen. Endlich setzte er sich auf einem Stein am Wege nieder, legte den Bergmann, der noch immer, starr und steif, ein toter Körper schien, neben sich hin und versuchte durch Reiben mit Schnee Leben in die erstarrten Glieder zurückzubringen, um von dem Unglücklichen selbst dessen Wohnort zu erfahren. Lange blieb sein Bestreben erfolglos. Zuletzt jedoch wich in etwas die kalte, erstarrende Hand der Ohnmacht von seinem Herzen, zerriss das Leichentuch, welches seine Augen bedeckt hatte. Die erste Frage aller, die in bewusstlosem Zustande sich befanden, ist die: »Wo bin ich?«

Antwort war hier nicht von Nöten. Der Frost, der dem Armen durch alle Glieder bebte, und der Anblick der Umgebung sprachen in einer zu deutlichen Sprache.

Er wollte sich erheben und aus den umfassenden Armen seines Begleiters losmachen. Er brauchte seinen rechten Arm dazu. Gott im Himmel! Dieser Arm, mit dem er eine Frau und drei Kinder pflegen, ernähren und bekleiden sollte, dieser Arm, auf den er so viel Zutrauen, so viel Hoffnung gesetzt hatte, dieser war nun zerschossen – wegen eines Korbes voll Waldmoos! Diese Erinnerung erst weckte den Bergmann vollkommen aus seiner Betäubung, und seine Lage in ihrer ganzen Trostlosigkeit und Furchtbarkeit trat vor seine Seele. Sei es, dass diese Aufregung zu gewaltsam und darum wieder zerstörend auf die kaum erwachten Lebensgeister einwirkte, sei es, dass die Bilder, die das innere Auge sah, zu grässlich waren; sei es, dass die Wunde, welche noch nicht verbunden war, über welche aber das geronnene Blut eine herrliche Kompresse gebildet hatte, zu sehr schmerzte: Kurz, auf die wenigen hellen Augenblicke des Bewusstseins folgte wieder die Umneblung der Ohnmacht. Bevor dieses aber geschah, löste sich von dem Herzen und den Lippen des Verstümmelten ein Fluch, ein grässlicher Fluch über sein Geschick und alle, die ihm als dessen Schergen erschienen.

Da lag der unglückliche Mann nun abermals auf der kalten Schneedecke – ohne Pflege, ohne eine Samariterhand, die Balsam in die schmerzende Wunde geträufelt hätte, ohne Beachtung mitten in einem bewohnten Ort, nur der Sorge eines Mannes anvertraut, der unter so vieldeutigen Umständen erschienen war.

Ewige Gerechtigkeit über den Sternen, o könntest du doch den der Übertreibung, der Lüge, des Hochverrats an Himmel und Erde zeihen, welcher durch solchen Bericht den Traum von einer vollkommenen Harmonie im Weltenlauf zerstört und durch solche unauflösbare Dissonanzen Herzen und Ohren zerreißt! Stolze Menschheit, könntest du doch den der Verleumdung, der falschen Anklage, des Frevels gegen deine sittliche Reife überführen, welcher nun die hochgestellten Worte Menschenliebe, Mitgefühl und Wohltätigkeit von ihrer hohen Stelle herunterwirft und statt ihrer das Bild des Bergmanns emporhebt! Was aber ist es, das hier unter Menschen, die von Natur doch so wohlgeartet sind, so arge Empfindungslosigkeit, so gänzliche Stumpfheit für fremdes Leiden und Unglück, so kretinoide Gleichgültigkeit heimisch macht?

Nichts anderes als – die Armut! Welch eine ernste, wichtige Anmahnung für eine redliche Gesetzgebung und Verwaltung, immer mehr und mehr zu handeln – zur größeren Ehre Gottes und der Menschheit!

Der Rotkopf war in nicht geringer Verlegenheit darüber, was er mit seinem Schützling beginnen sollte, ja er verwünschte sogar seine Einmischung in den traurigen Handel. Allein sollte er nun etwa dem mitleidslosen Beispiel anderer nachahmen und den Verwundeten hilflos auf der kalten Erde liegen lassen? Es wäre zuverlässig der Tod des Armen erfolgt. Und wäre er dann der Mörder geworden? Nein, kein Gesetz und kein Richterstuhl der Erde hätte ihn verdammen können, wenn er nach dem, was er bereits getan hatte, seinen Geschäften nachgegangen wäre. Aber er tat es nicht, denn es empörte sich gegen solche Härte in ihm die menschliche Natur, sie, welche oft genug mitten aus den Untaten des verrufenen Räubers und Bösewichts sonnig glänzend hervorstrahlt. Er sann auf andere und unfehlbare Mittel der Hilfe und Unterstützung. Plötzlich richtete er sein Haupt empor und schien mit den Maßregeln, die er zu nehmen habe, im Reinen zu sein.

»Dass mich der Donner des Himmels treffe, wenn ich ihm nicht ein Quartier verschaffe, wie er es sein Leben lang nicht gehabt hat! Wahrlich, es ist das Beste, was ein ehrlicher Christenmensch, ohne sich bloßzustellen, tun kann! Nun, nun, mein grüner Waldteufel, du wirst wahrscheinlich künftighin niemanden eine Ladung Pulver und Blei entgegenschicken! Verdammter, hartherziger Eidechsenfänger! Hoffentlich bist du verwundet wie ein angeschossenes Stück Wild. O über das Bubenstück, um nichts und wieder nichts einen so hübschen Jungen zu verstümmeln! Fluch und Hölle dir, Mordkanaille! Hätte ich nur dein Gewehr genommen und ihm einen Waidmann gesetzt, dass aus ihm niemals wieder ein Schrotkorn ans Ziel gelangt wäre!«

Während der Mann dieses erbauliche Selbstgespräch hielt, lud er seine Bürde wieder auf und wandert einem hohen Gebäude zu, welches wie durch sein besseres Äußere, so durch eine Menge an der Tür angenagelter alter und neuer, verwitterter und beschmutzter, aber sorgfältig mit dem landesherrlichen und gerichtsherrschaftlichen Stempel versehener Publikationen, Verordnungen, Taxen und wer weiß, durch welche Dinge noch leicht erraten ließ, dass es das Gerichtshaus, der Sitz des Dorfrichters war. Je näher der Rothaarige den Pforten der Gerechtigkeit kam, desto langsamer und bedächtiger wurden seine Schritte. Es schien, als ob Bedenklichkeiten ganz besonderer Art sein Gemüt oder Gewissen zu beunruhigen begönnen.

Man erzählt, dass Leute von zweideutigem Charakter, Helden der Heerstraße, Taschenerleichterer, Betrüger, den Umkreis eines Gerichtshauses, das Weichbild eines Gefängnisses so viel wie möglich, oft sogar vermittels weiter Umwege vermeiden, und keinem Beobachter ist es entgangen, dass sie sich wie durch einen elektrischen Strom von diesen ihrer Gesundheit höchst unzuträglichen Orten abgestoßen fühlen. Indessen darf aus einer solchen Scheu nicht ein unbedingtes Verwerfungsurteil abgeleitet werden, denn es gibt auch Leute von grundehrlicher Seele und christlich-reinstem Bewusstsein, welche mit mehr oder weniger offenem Widerwillen nahe an den sogenannten Sitzen des Rechts und der Gesetzlichkeit vorübergehen. Bei diesen geschieht es unfehlbar in dem Andenken an so manche durch unwissende, oder vorurteilsvolle und parteiische Gerichtsbeamte über Unschuldige verhängte Kerkerqual und Inquisitionstortur, in der Erinnerung an so manchen – bis in die neueren Zeiten herab vorgekommenen – subtilen und groben Justizmord, in dem Ekel vor manchem plumpen Abzeichen der Gerechtigkeit, wohl gar vor den als ehrfurchtgebietende Hieroglyphen hier und da angemalten Worten Fiat justitia et pereat mundus!1

Wie dem nun immer in dem angeführten Fall sein mochte, die Schritte des Rotkopfs wurden langsamer, je näher er dem bedenklichen Hause kam. Endlich blieb er ganz stehen, sichtbar in wichtige Erwägungen vertieft. Bald jedoch schien er entschlossener wie zuvor und rückte gegen den dorfrichterlichen Palast mit Schritten vor, die so fest, mutvoll und totverachtend erschienen, als habe er in der Napoleonischen alten Garde unter Cambronne gefochten.

»Möge ich«, murmelte er vor sich hin, »verdammt sein, wenn ich nicht ein ehrlicher Mann bin. Ein Schurke, der es anders wissen will! Trete einer auf und sage, dass ich ein Stück von einem …«

Bei diesen Worten hatte er die Tür des bezeichneten Hauses erreicht und brach seine Rede schnell ab, weil er die Vollendung derselben für diesen Ort nicht passend erachten mochte. Er öffnete, trat ein und ging zu dem Gerichtssaal.

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Show 1 footnote

  1. Es soll Gerechtigkeit geschehen, und gehe auch die Welt daran zugrunde!

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