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Varney, der Vampir – Kapitel 5

Thomas Preskett Prest
Varney, der Vampir
oder: Das Blutfest

Ursprünglich als penny dreadful von 1845 bis 1847 veröffentlicht, als es zum ersten Mal in Buchform erschien, ist Varney, der Vampir ein Vorläufer von Vampirgeschichten wie Dracula, die es stark beeinflusst hat.

Kapitel 5

Die Nachtwache – Der Vorschlag – Das Mondlicht – Das schreckliche Abenteuer

Eine Art Benommenheit überkam Henry Bannerworth. Er saß etwa eine Viertelstunde lang, ohne zu wissen, wo er sich befand, und fast unfähig, irgendetwas in Form von rationalen Gedanken zu erfassen. Es war sein Bruder George, der ihn mit den Worten weckte, als er ihm die Hand auf die Schulter legte: »Henry, schläfst du?«

Henry hatte seine Anwesenheit nicht bemerkt und fuhr auf, als hätte man ihn erschreckt. »Oh, George, bist du es?«, sagte er.

»Ja, Henry, geht es dir nicht gut?«

»Nein, nein, ich war in tiefen Gedanken versunken.«

»Ach! Ich brauche nicht zu fragen, worüber«, entgegnete George traurig. »Ich habe dich gesucht, um dir diesen Brief zu bringen.«

»Ein Brief an mich?«

»Ja, du siehst, er ist an dich adressiert, und das Siegel sieht aus, als käme er von jemandem von Rang.«

»In der Tat!«

»Ja, Henry. Lies ihn und schau nach, wer der Absender ist.«

Als er zum Fenster ging, herrschte im Zimmer genügend Licht, um Henry zu ermöglichen, den Brief zu lesen, was er auch laut tat.

Dieser lautete wie folgt:

Sir Francis Varney lässt Mr. Beaumont seine Grüße ausrichten und ist sehr besorgt zu hören, dass ihn ein familiärer Kummer befallen hat. Sir Francis hofft, dass die aufrichtige und liebevolle Anteilnahme eines Nachbarn nicht als Einmischung empfunden wird und bittet darum, jede Hilfe oder jeden Rat anzubieten, der in seinen Möglichkeiten liegt.

Ratford Abbey

»Sir Francis Varney!«, fragte Henry, »wer ist das?«

»Erinnerst du dich nicht, Henry«, sagte George, »vor ein paar Tagen wurde uns gesagt, dass ein Gentleman dieses Namens der Käufer des Anwesens von Ratford Abbey geworden ist.«

»Oh, ja, ja. Hast du ihn gesehen?«

»Nein, habe ich nicht.«

»Ich möchte keine neuen Bekanntschaften machen, George. Wir sind sehr arm – viel ärmer als der allgemeine Anblick dieses Ortes, von dem wir uns, wie ich fürchte, bald trennen werden müssen, vermuten ließe. Ich muss diesem Herrn eine höfliche Antwort geben, aber sie muss so formuliert sein, dass sie eine gewisse Vertrautheit unterdrückt.«

»Das wird schwierig werden, solange wir hier sind, wenn man bedenkt, wie nahe die beiden Anwesen beieinander liegen, Henry.«

»Oh nein, ganz und gar nicht. Er wird leicht merken, dass wir keine Bekanntschaft mit ihm machen wollen, und dann wird er als Gentleman, der er zweifellos ist, den Versuch aufgeben.«

»Lass es sein, Henry. Der Himmel weiß, dass ich keine Lust habe, mit irgendjemandem eine neue Bekanntschaft zu schließen und erst recht nicht unter unseren gegenwärtigen Umständen der Depression. Und nun, Henry, musst du mir gestatten, da ich mich etwas ausgeruht habe, mit dir deine Nachtwache in Floras Zimmer zu teilen.«

 

 

»Ich würde dir davon abraten, George. Deine Gesundheit ist, wie du weißt, alles andere als gut.«

»Erlaube es mir. Wenn nicht, dann wird die Unruhe, die ich erleiden werde, mir mehr schaden als die Vorsicht, die ich im Zimmer walten lassen werde.«

Dies war ein Argument, dessen Kraft Henry zu stark fühlte, um es im Fall von George nicht zuzulassen. Er machte daher keinen weiteren Einwand gegen seinen Wunsch, an der Nachtwache teilzuhaben.

»Es wird von Vorteil sein«, sagte George, »wenn wir zu dritt in dieser Sache tätig werden; denn wenn etwas passiert, können zwei zusammen handeln und Flora ist trotzdem nicht allein.«

»Ja, richtig, das ist ein großer Vorteil.«

Ein sanftes, silbriges Licht begann sich nun über den Himmel auszubreiten. Der Mond ging auf. Da die wohltuende Wirkung des Sturms vom Vorabend noch in der Klarheit der Luft vorhanden war, erschienen die Strahlen noch glänzender und schöner als sonst.

Mit jedem Augenblick wurde die Nacht heller. Als die Brüder bereit waren, ihre Plätze im Gemach von Flora einzunehmen, war der Mond schon deutlich aufgegangen.

Obwohl weder Henry noch George etwas gegen die Gesellschaft von Mr. Marchdale einzuwenden hatten, überließen sie ihm die Wahl und drängten ihn geradezu, sich zur Nachtruhe zu begeben, als er sich zu ihnen setzte.

»Erlauben Sie mir, mit Ihnen auf Flora Acht zu geben. Ich bin älter und besitze ein besseres Urteilsvermögen, als Sie es haben können. Sollte wieder etwas auftauchen, so bin ich fest entschlossen, alles zu tun, damit es mir nicht entkommt.«

»Was wollen Sie tun?«

»Mit dem Namen Gottes auf meinen Lippen«, sagte Mr. Marchdale feierlich, «würde ich es angreifen.«

»Sie haben gestern Abend Hand an dieses Ding gelegt.«

»Ja, und ich habe vergessen, Ihnen zu zeigen, was ich herausgerissen habe. Sehen Sie hier, was meinen Sie, was das ist?«

Er holte ein Stück Stoff hervor, auf dem sich ein altmodisches Stück Spitze und zwei Knöpfe befanden. Bei näherer Betrachtung schien es sich um einen Teil des Revers eines Mantels aus alten Zeiten zu handeln.

Plötzlich sagte Henry mit einem Blick voller Besorgnis: »Das erinnert mich an die Kleidermode vor sehr vielen Jahren, Mr. Marchdale.«

»Es löste sich in meiner Hand, als sei es verrottet und unfähig, dem rauen Gebrauch standzuhalten.«

»Was für einen seltsamen, unheimlichen Geruch es hat!«

»Jetzt, wo Sie es erwähnen«, fügte Mr. Marchdale hinzu, »muss ich gestehen, dass es für mich riecht, als käme es direkt aus einem Grab.«

»Ja, das tut es auch. Sagen Sie niemandem etwas von diesem Beweisstück der letzten Nacht.«

»Seien Sie versichert, das werde ich nicht. Ich bin weit davon entfernt, jemandem Beweise für etwas vor Augen zu halten, das ich gerne, sehr gerne widerlegen würde.«

Mr. Marchdale steckte den Teil des Mantels, den die Gestalt getragen hatte, wieder in seine Tasche. Danach begaben sich alle drei in Floras Zimmer.

Es war nur wenige Minuten vor Mitternacht. Der Mond stand hoch am Himmel und eine Nacht von solcher Helligkeit und Schönheit hatte sich selten für längere Zeit gezeigt.

Flora schlief. In ihrer Kammer saßen die beiden Brüder und Mr. Marchdale schweigend, denn sie hatte Anzeichen von Unruhe gezeigt. Sie fürchteten sehr, den leichten Schlummer, in den sie gefallen war, zu stören.

Gelegentlich unterhielten sie sich im Flüsterton, was aber nicht die Wirkung haben konnte, sie zu wecken, denn das Zimmer war zwar kleiner als das, welches sie vorher bewohnt hatte, aber immer noch geräumig genug, um einen gewissen Abstand vom Bett zu ermöglichen.

Bis die Mitternachtsstunde heranrückte, schwiegen sie. Als dar letzte Schlag der Turmuhr verklungen war, überkam sie ein Gefühl des Unbehagens, das ein Wortwechsel entstand, um dieses loszuwerden.

»Wie hell der Mond jetzt ist«, sagte Henry in leisem Ton.

»Ich habe ihn nie heller gesehen«, antwortete Marchdale. »Ich fühle mich, als sei ich sicher, dass wir heute Nacht keinen Besuch mehr bekommen werden.«

»Gestern war es später als heute«, sagte Henry.

»So war es.«

»Dann sollten Sie uns noch nicht zu einem Besuch verhelfen.«

»Wie still das Haus ist!«, bemerkte George. »Es kommt mir vor, als hätte ich es noch nie so intensiv friedlich gefunden.«

»Es ist sehr still.«

»Pst! Sie bewegt sich.«

Flora stöhnte im Schlaf und machte eine leichte Bewegung. Die Vorhänge waren dicht um das Bett gezogen, um ihre Augen vor dem hellen Mondlicht zu schützen, das so strahlend in den Raum strömte. Sie hätten die Fensterläden schließen können, aber das wollten sie nicht, denn dann wäre ihre Wache völlig nutzlos, da sie nicht sehen könnten, ob jemand versuchte, sich Zutritt zu verschaffen.

So mochte noch eine Viertelstunde vergangen sein, als Mr. Marchdale im Flüsterton sagte:  »Mir ist gerade ein Gedanke gekommen, dass das Stück Mantel, das ich letzte Nacht von der Gestalt abgerissen habe, in Farbe und Aussehen dem Kleidungsstil des Porträts in dem Zimmer, in dem Flora zuletzt geschlafen hat, sehr ähnlich ist.«

»Daran habe ich auch gedacht«, sagte Henry, »als ich es zum ersten Mal sah, aber, um die Wahrheit zu sagen, fürchtete ich mich, irgendeinen neuen Beweis für die Heimsuchung der letzten Nacht vorzubringen.«

»Dann hätte ich Ihre Aufmerksamkeit nicht darauf lenken sollen«, sagte Mr. Marchdale, »und ich bedaure, dass ich es getan habe.«

»Nein, machen Sie sich deswegen keine Vorwürfe«, entgegnete Henry. »Sie haben ganz recht, und ich bin es, der törichterweise zu empfindlich ist. Nun aber, da Sie es erwähnt haben, muss ich zugeben, dass ich ein großes Verlangen habe, die Richtigkeit der Beobachtung durch einen Vergleich mit dem Porträt zu prüfen.«

»Das lässt sich leicht bewerkstelligen.«

»Ich werde hierbleiben«, schlug George vor, »für den Fall, dass Flora erwacht, während ihr beide geht, wenn ihr wollt. Es ist nur über den Korridor.«

Henry erhob sich sofort und sagte: »Kommen Sie, Mr. Marchdale, kommen Sie. Wir sollten uns auf jeden Fall sofort von diesem Sachverhalt überzeugen. Wie George meint, ist es nur über den Korridor, und wir können sofort zurückkehren.«

»Ich bin bereit«, sagte Mr. Marchdale mit einem traurigen Unterton.

Es war kein Licht nötig, denn der Mond stand am wolkenlosen Himmel, und da das Haus freistehend war und zahlreiche Fenster hatte, war es so hell wie der Tag.

Obwohl die Entfernung von einer Kammer zur anderen nur über den Korridor verlief, war es ein größerer Raum, als es diese Worte ausdrücken könnten, denn der Korridor war zwar breit, aber auch nicht direkt gegenüber, sondern deutlich verwinkelt. Dennoch war er sicherlich nahe genug, dass jedes Alarmsignal aus einer Kammer ohne Schwierigkeiten in die andere gelangen konnte.

Ein paar Augenblicke genügten, um Henry und Mr. Marchdale in jenem antiken Zimmer zu sehen, in dem das Porträt an der Wandtafel durch den Effekt des Mondlichts, das darüber fiel, äußerst lebendig wirkte.

Und dieser Effekt war wahrscheinlich umso größer, weil der Rest des Raumes nicht von den Mondstrahlen beleuchtet wurde, die durch ein Fenster im Korridor und dann an der offenen Tür dieser Kammer auf das Porträt fielen.

Mr. Marchdale hielt das Stück Stoff, das er hatte, dicht an das Gewand des Porträts. Ein Blick genügte, um die wunderbare Ähnlichkeit zwischen den beiden zu zeigen.

»Großer Gott!«, sagte Henry, »es ist dasselbe.«

Mr. Marchdale ließ das Stück Stoff fallen und zitterte.

»Diese Tatsache erschüttert sogar Ihre Zweifel«, sagte Henry.

»Ich weiß nicht, was ich davon halten soll.«

»Ich kann Ihnen dazu etwas sagen, was damit zusammenhängt. Ich weiß nicht, ob Sie meine Familiengeschichte gut genug kennen, um zu wissen, dass einer meiner Vorfahren – ich wünschte, ich könnte sagen, würdige Vorfahren – Selbstmord begangen hat und in seinen Kleidern begraben wurde.«

»Sie … Sie sind sich dessen sicher?«

»Ganz sicher.«

»Ich bin mehr und mehr verwirrt, da jeden Augenblick eine seltsame Tatsache, die diese schreckliche Annahme, vor der wir so sehr zurückschrecken, bestätigt, ans Licht zu kommen scheint und sich unserer Aufmerksamkeit aufdrängt.«

Es herrschte einige Augenblicke lang Schweigen. Henry hatte sich Mr. Marchdale zugewandt, um etwas zu sagen, als im Garten, unmittelbar unter dem Balkon, die vorsichtigen Schritte eines Mannes zu hören waren.

Ein mulmiges Gefühl überkam Henry. Er war gezwungen, sich an die Wand zu lehnen, um sich abzustützen, während er mit kaum artikuliertem Tonfall flüsterte: »Der Vampir … der Vampir! Gott des Himmels, er ist wieder da!«

»Nun, der Himmel gebe uns mehr als irdischen Mut«, rief Mr. Marchdale, der sofort das Fenster aufstieß und auf den Balkon sprang.

Henry erholte sich in einem Augenblick, um ihm zu folgen. Als er auf dem Balkon angekommen war, sagte Marchdale, während er nach unten zeigte: »Dort hat sich jemand versteckt.«

»Wo … wo?«

»Zwischen den Lorbeersträuchern. Ich werde einen gezielten Schuss abgeben und dieses Etwas töten.«

»Halt!«, ertönte eine Stimme von unten, »tun Sie nichts dergleichen, ich bitte Sie.«

»Das ist doch Mr. Chillingworths Stimme«, rief Henry.

»Ja, ich bin es, Mr. Chillingworth in Person«, sagte der Doktor, als er zwischen einigen Lorbeerbüschen hervortrat.

»Wie kommt das?«, fragte Marchdale.

»Ganz einfach, ich habe mich entschlossen, heute Nacht hier draußen Wache zu halten, in der Hoffnung, den Vampir zu fangen. Ich bin hierhergekommen, indem ich über das Tor geklettert bin.«

»Aber warum haben Sie es mir nicht gesagt?«, fragte Henry.

»Weil ich es selbst nicht wusste, mein junger Freund, bis vor anderthalb Stunden.«

»Haben Sie etwas gesehen?«

»Nichts. Aber ich dachte, ich hätte etwas im Park vor der Mauer gehört.«

»In der Tat!«

«Was halten Sie davon, Henry«, fragte Mr. Marchdale, »hinunterzusteigen und den Garten und das Gelände zu inspizieren?«

»Ich bin bereit; aber erlauben Sie mir zuerst, mit George zu sprechen, der sich sonst über unsere lange Abwesenheit beängstigt zeigen könnte.«

Henry ging rasch zum Schlafgemach von Flora und sagte zu George: »Hast du etwas dagegen, eine halbe Stunde hier allein gelassen zu werden, George, während wir den Garten untersuchen?«

»Ich habe nichts dagegen. Bleib hier, während ich einen Degen aus meinem Zimmer hole.«

Henry tat dies, und als George mit einem Degen zurückkam, den er immer in seinem Schlafzimmer aufbewahrte, meinte er: »Nun geh, Henry. Ich ziehe eine Waffe dieser Art den Pistolen vor. Bleib nicht länger weg als nötig.«

»Das werde ich nicht, George, sei dessen versichert.«

Dann wurde George allein gelassen, und Henry kehrte auf den Balkon zurück, wo Mr. Marchdale auf ihn wartete. Es war eine schnellere Art, über den Balkon zu klettern, um in den Garten zu kommen, als jede andere, und die Höhe war nicht so groß, dass es sehr unangenehm wäre. Also wählten Henry und Mr. Marchdale diesen Weg, um Mr. Chillingworth zu begleiten.

»Sie sind zweifellos sehr überrascht, mich hier zu finden«, sagte der Doktor, »aber Tatsache ist, dass ich mich halb entschlossen hatte, zu kommen, während ich hier war; jedoch hatte ich es nicht sorgfältig geplant, deshalb habe ich Ihnen nichts davon gesagt.«

»Wir sind Ihnen sehr zu Dank verpflichtet«, erwiderte Henry, »dass Sie den Versuch gemacht haben.«

»Ich wurde dazu von einem Gefühl der größten Neugierde getrieben.«

»Sind Sie bewaffnet, Sir?«, fragte Marchdale.

»In diesem Stock«, sagte der Doktor, »ist ein Schwert, auf dessen exquisite Beschaffenheit ich mich verlassen kann. Ich habe die Absicht, jeden zu durchbohren, den ich wahrnehme und der auch nur im Geringsten wie ein Vampir aussieht.«

»Da bin ich ganz Ihrer Meinung«, erwiderte Mr. Marchdale. »Ich habe hier ein Paar Pistolen, die geladen sind. Nehmen Sie eine, Henry, wenn Sie wollen, und dann sind wir alle bewaffnet.«

Sie machten, auf alle Eventualitäten vorbereitet, einen Rundgang durch das Haus, fanden aber alle Türen fest verschlossen und alles so ruhig wie gewöhnlich.

»Wir sollten uns nun den Park außerhalb der Gartenmauer ansehen«, meinte Mr. Marchdale.

Dem wurde zugestimmt. Während sie durch den Park gingen, schlug Mr. Marchdale vor: »Es liegt eine Leiter an der Wand. Wäre es nicht ein guter Plan, sie genau an der Stelle aufzustellen, über die der vermeintliche Vampir letzte Nacht gesprungen ist, und so von einer erhöhten Position aus einen Blick auf die offenen Wiesen zu werfen. Wir könnten uns leicht auf der Außenseite hinunterlassen, wenn wir etwas Verdächtiges sehen.«

»Kein schlechter Plan«, konstatierte der Doktor. »Machen wir es so?«

»Gewiss«, antwortete Henry.

Sie trugen die Leiter, die zum Beschneiden der Bäume benutzt worden war, zu der Stelle am Ende des langen Weges, an der der Vampir nach so vielen vergeblichen Versuchen seine Flucht aus dem Anwesen bewerkstelligen konnte.

Sie beeilten sich, die lange Baumreihe hinunterzusteigen, bis sie die genaue Stelle erreichten, und dann stellten sie die Leiter so nahe wie möglich an die Stelle, wo Henry in seiner Verwirrung am Abend zuvor die Erscheinung aus dem Grab hatte aufsteigen sehen.

»Wir können einzeln hinaufsteigen«, sagte Marchdale, »es ist genügend Platz für uns alle da, um oben auf der Mauer zu sitzen und zu beobachten.«

Ein paar Minuten später hatten sie ihre Positionen auf der Mauer eingenommen. Obwohl die Höhe nur geringfügig war, fanden sie, dass sie eine viel umfassendere Aussicht hatten, als sie sie auf andere Weise hätten erreichen können.

»Die Schönheit einer Nacht wie dieser zu betrachten«, sagte Mr. Chillingworth, »ist eine ausreichende Entschädigung dafür, dass ich den weiten Weg auf mich genommen habe.«

»Und wer weiß«, bemerkte Marchdale, »vielleicht sehen wir noch etwas, das ein Licht auf unsere gegenwärtige Ratlosigkeit wirft. Gott weiß, dass ich alles in der Welt geben würde, was ich mein eigen nennen kann, um Sie und Ihre Schwester, Henry Bannerworth, von der furchtbaren Wirkung zu befreien, die die Vorgänge der letzten Nacht auf Sie haben müssen.«

»Dessen bin ich mir sicher, Mr. Marchdale«, sagte Henry. »Wenn das Glück von mir und meiner Familie von Ihnen abhinge, wären wir wirklich glücklich.«

»Sie schweigen, Mr. Chillingworth«, stellte Marchdale nach einer kurzen Pause fest.

»Pst!«, sagte Mr. Chillingworth, »pst!«

»Großer Gott, was hören Sie?«, flüsterte Henry.

Der Doktor legte seine Hand auf Henrys Arm, während er sagte: »Dort drüben, rechts, steht eine junge Linde.«

»Ja … ja.«

»Richten Sie Ihren Blick von dort aus in einer horizontalen Linie so nah wie möglich in Richtung des Waldes.«

Henry tat dies, stieß er einen plötzlichen Ausruf der Überraschung aus und deutete auf eine Erhebung, die wegen der vielen hohen Bäume in ihrer Nähe noch teilweise in Schatten gehüllt war.

»Was ist das?«, fragte er.

»Ich sehe …«, antwortete Marchdale. »Beim Himmel! Es ist eine menschliche Gestalt, die dort ausgestreckt liegt.«

»Wie im Tod.«

»Was kann das sein?«, fragte Chillingworth.

»Ich wage es nicht zu sagen«, antwortete Marchdale, »aber in meinen Augen sieht es aus wie die Gestalt desjenigen, den wir letzte Nacht verfolgt haben.«

»Der Vampir?«

»Ja … ja. Sehen Sie, die Mondstrahlen berühren ihn. Jetzt weichen die Schatten der Bäume langsam zurück. Gott des Himmels! Die Gestalt bewegt sich.«

Heinrichs Augen waren auf diesen furchterregenden Gegenstand fixiert. Nun bot sich eine Szene, die sie alle mit Verwunderung und Erstaunen erfüllte, vermischt mit Gefühlen der größten Furcht und des Schreckens.

Als die Mondstrahlen infolge des immer höher am Himmel aufsteigenden Lichts diese Gestalt, die ausgestreckt auf dem ansteigenden Boden lag, berührten, fand in ihr eine merkliche Bewegung statt. Die Glieder schienen zu zittern. Obwohl sie sich nicht erhob, zeigte der ganze Körper Zeichen von Vitalität.

»Der Vampir … der Vampir!«, murmelte Mr. Marchdale. »Daran kann ich nicht mehr zweifeln. Wir müssen ihn letzte Nacht mit den Pistolenkugeln getroffen haben, und die Mondstrahlen erwecken ihn jetzt zu neuem Leben.«

Henry erschauderte, auch Mr. Chillingworth wurde blass. Aber er erholte sich als Erster wieder soweit, dass er einen Vorschlag machen konnte. »Lassen Sie uns hinabsteigen und zu dieser Gestalt hinaufgehen. Es ist eine Pflicht, die wir uns selbst und der Gesellschaft gegenüber schuldig sind.«

»Warten Sie einen Moment«, sagte Mr. Marchdale, während er eine Pistole hervorholte. »Ich bin ein treffsicherer Schütze, wie Sie wissen, Henry. Bevor wir uns von dieser Position, in der wir uns befinden, entfernen, erlauben Sie mir, auszuprobieren, was für eine Tugend in einer Kugel stecken kann, um diese Gestalt wieder zu Fall zu bringen.«

»Er erhebt sich!«, rief Henry aus.

Mr. Marchdale richtete die Pistole auf das Wesen. Er zielte sicher und bedächtig, und dann, gerade als die Gestalt sich aufzurichten schien, feuerte er. Mit einem plötzlichen Ruck fiel sie wieder um.

»Sie haben ihn getroffen«, sagte Henry.

»In der Tat«, rief der Doktor aus. »Ich glaube, wir können jetzt gehen.«

»Still!«, sagte Marchdale, »still! Glauben Sie nicht, dass die Mondstrahlen es wiederherstellen werden, so oft ich es auch treffen mag?«

»Ja, ja«, sagte Henry, »das könnte sein.«

»Ich kann das nicht länger ertragen«, sagte Mr. Chillingworth und sprang von der Mauer. »Folgen Sie mir oder nicht! Wie Sie wollen, ich werde den Ort aufsuchen, wo dieses Wesen liegt.«

»Oh, seien Sie nicht zu voreilig«, rief Marchdale. »Sehen Sie, es erhebt sich wieder, und seine Gestalt sieht gigantisch aus.«

»Ich vertraue auf den Himmel und eine gerechte Sache«, sagte der Doktor, während er das Schwert, von dem er gesprochen hatte, aus dem Stock zog und die Scheide wegwarf. »Kommen Sie mit mir, wenn Sie wollen, oder ich gehe allein.«

Henry sprang sofort von der Mauer herunter.

Marchdale folgte ihm mit den Worten: »Kommen Sie! Ich werde nicht zurückschrecken.«

Sie liefen auf die Anhöhe zu, aber bevor sie dort ankamen, erhob sich die Gestalt und lief schnell auf ein kleines Wäldchen zu, das sich in unmittelbarer Nähe der Anhöhe befand.

»Es ist sich bewusst, dass es verfolgt wird«, rief der Doktor. »Sehen Sie, wie es zurückblickt und dann das Tempo erhöht.«

»Schießen Sie auf ihn, Henry«, sprach Marchdale.

Er tat es, aber entweder blieb sein Schuss wirkungslos oder er wurde von dem Vampir nicht beachtet, der den Wald erreichte, bevor sie die Hoffnung haben konnten, nahe genug heranzukommen, um eine Gefangennahme zu bewirken oder zu versuchen, diese zu realisieren.

»Ich kann ihm dort nicht folgen«, sagte Marchdale. »Auf offenem Feld hätte ich es dicht verfolgt, aber ich kann ihm nicht in die Tiefen des Waldes folgen.«

»Die Verfolgung ist dort sinnlos«, meinte auch Henry. »Es ist in die größte Finsternis gehüllt.«

»Ich bin nicht so unvernünftig«, bemerkte Mr. Chillingworth, »als dass ich mir wünschen würde, dass Sie mir an einen solchen Ort folgen. Ich bin völlig verwirrt von dieser Angelegenheit.«

»Und ich«, sagte Marchdale. »Was in aller Welt sollen wir tun?«

»Nichts … nichts!«, rief Henry vehement aus, »und doch habe ich unter dem Baldachin des Himmels erklärt, dass ich, so wahr mir Gott helfe, weder Zeit noch Mühe scheuen werde, um diese höchst furchtbare Angelegenheit aufzuklären. Hat jemand von Ihnen die Kleidung bemerkt, die diese gespenstische Erscheinung trug?«

»Es waren sehr alte Kleider«, antwortete Mr. Chillingworth, »wie sie vielleicht vor hundert Jahren in Mode waren, aber nicht heute.«

»Das war auch mein erster Gedanke«, fügte Marchdale hinzu.

»Und das ist auch mein Eindruck«, sagte Henry aufgeregt. »Liegt es überhaupt im Bereich des Möglichen, dass das, was wir gesehen haben, ein Vampir ist und kein anderer als mein Vorfahre, der vor hundert Jahren Selbstmord beging?«

Die Aufregung war so groß und zeugte von seelischem Leid, dass Mr. Chillingworth ihn am Arm nahm und vorschlug: »Kommen Sie nach Hause! Schluss damit, Sie machen sich nur selbst unglaubwürdig.«

»Nein, nein, nein.«

»Kommen Sie nach Hause, ich bitte Sie. Sie sind viel zu sehr aufgeregt über diese Angelegenheit, um sie mit Ruhe zu betrachten, die man ihr zukommen lassen sollte.«

»Nehmen Sie einen Rat an, Henry«, sagte Marchdale, »nehmen Sie einen Rat an und kommen Sie sofort nach Hause.«

»Ich werde auf Sie hören. Ich fühle, dass ich meine eigenen Gefühle nicht beherrschen kann. Ich werde auf Sie hören, da Sie, wie Sie sagen, in dieser Sache besonnener sind, als ich es sein kann. Oh, Flora, Flora, ich habe keinen Trost, den ich dir jetzt bringen könnte.«

Der arme Henry Bannerworth schien sich in einem Zustand völliger seelischer Erschöpfung aufgrund der erschütternden Umstände zu befinden, die sich so schnell und plötzlich in seiner Familie ereignet hatten, die schon genug damit zu kämpfen hatte, ohne dass zu jedem anderen Übel noch der Schrecken hinzukam, zu glauben, dass eine übernatürliche Macht am Werk war, um jede Hoffnung auf zukünftiges Glück in dieser Welt zu zerstören, egal unter welchen Umständen.

Henry ließ sich von Mr. Chillingworth und Marchdale nach Hause führen. Er versuchte nicht mehr, die schreckliche Tatsache über den vermeintlichen Vampir zu bestreiten. Er konnte nun nicht mehr gegen all die bestätigenden Umstände ankämpfen, die sich zu dem Zweck zu vereinen schienen, das zu beweisen, was, selbst wenn es bewiesen war, all seinen Vorstellungen vom Himmel widersprach und im Widerspruch zu allem stand, was niedergeschrieben und als Teil des Systems der Natur etabliert war.

»Ich kann nicht leugnen«, sagte er, als sie zu Hause angekommen waren, »dass solche Dinge möglich sind, aber die Wahrscheinlichkeit erträgt keinen Moment der Untersuchung.«

»Es gibt mehr Dinge«, sagte Marchdale feierlich, »im Himmel und auf Erden, als wir uns in unserer Vorstellung träumen lassen.«

»In der Tat, so scheint es«, bestätigte Mr. Chillingworth.

»Sind Sie ein Bekehrer?«, fragte Henry und wandte sich ihm zu.

»Ein Bekehrer zu was?«

»Zu einem Glauben an diese Vampire?«

»Ich? Nein, in der Tat, wenn Sie mich in einen Raum voller Vampire sperren würden, würde ich ihnen allen bis zu den Zähnen sagen, dass ich mich ihnen widersetze.«

»Aber nach dem, was wir heute Nacht gesehen haben?«

»Was haben wir gesehen?«

»Sie waren selbst Zeuge. «

»Richtig, ich sah einen Mann liegen, und dann sah ich einen Mann aufstehen. Er schien dann getroffen zu sein, aber ob er es war oder nicht, weiß nur er selbst. Und dann sah ich ihn in verzweifelter Eile davonlaufen. Darüber hinaus habe ich nichts wahrgenommen.«

»Ja, aber haben Sie, wenn man solche Umstände mit anderen in Verbindung bringt, nicht eine furchtbare Angst vor der Wahrheit der furchtbaren Erscheinung?«

»Nein, nein, bei meiner Seele, nein. Ich werde in meinem Unglauben an einen solchen Frevel am Himmel sterben, wie es eine dieser Kreaturen ganz gewiss sein wird.«

»Oh! Wenn ich nur so denken könnte wie Sie; aber der Umstand geht mir zu sehr zu Herzen.«

»Seien Sie guten Mutes, Henry – seien Sie guten Mutes«, sagte Marchdale, »es gibt einen Umstand, den wir in Betracht ziehen sollten, und zwar scheint es nach allem, was wir gesehen haben, einige Dinge zu geben, die die Meinung begünstigen, Henry, dass Ihr Vorfahre, dessen Porträt in der Kammer hängt, die von Flora bewohnt wurde, der Vampir ist.«

»Die Kleidung war dieselbe«, betonte Henry.

»Ich habe es bemerkt.«

»Und ich ebenfalls.«

»Halten Sie es dann nicht für möglich, dass etwas getan werden könnte, um diesen Teil der Frage zu klären?«

»Was … was?«

»Wo ist Ihr Vorfahre begraben?«

»Ah! Jetzt verstehe ich Sie.«

»Und ich Sie«, entgegnete Mr. Chillingworth. »Würden Sie einem Besuch an seinem Grab zustimmen?«

»Das würde ich«, fügte Marchdale hinzu, »alles, was in irgendeiner Weise dazu beitragen könnte, diese Angelegenheit klarer zu machen und sie von ihren mysteriösen Umständen zu befreien, wird höchst wünschenswert sein.«

Henry schien für einige Augenblicke aufzustehen, dann sagte er: »Er ist, wie viele andere Mitglieder der Familie, zweifellos in der Gruft unter der alten Kirche im Dorf beigesetzt.«

»Wäre es möglich«, fragte Marchdale, »in diese Gruft zu gelangen, ohne allgemeine Aufmerksamkeit zu erregen?«

»Das wäre es«, sagte Henry. »Der Eingang zum Gewölbe ist im Fußboden der Kirchenbank, die der Familie in der alten Kirche gehört.«

»Dann wäre es möglich?«, fragte Mr. Chillingworth.

»Ganz ohne Zweifel.«

»Würden Sie sich auf ein solches Abenteuer einlassen?«, fragte Mr. Chillingworth. »Es könnte Ihren Kummer lindern.«

»Er wurde in der Gruft begraben, und zwar in seinen Kleidern«, antwortete Henry, »ich werde darüber nachdenken. Über solch einen Vorschlag möchte ich nicht voreilig entscheiden. Erlauben Sie mir, Ihnen morgen meine Entscheidung mitzuteilen?«

»Ganz gewiss.«

 

Sie machten sich nun auf den Weg zu Floras Gemach. Von George erfuhren sie, dass nichts Beunruhigendes vorgefallen war, das ihn auf seiner einsamen Wache gestört hätte. Der Morgen dämmerte. Henry bat Mr. Marchdale inständig, zu Bett zu gehen, was er auch tat, und ließ die beiden Brüder als Wächter an Floras Bett zurück, bis das Morgenlicht alle unruhigen Gedanken vertreiben würde.

Henry erzählte George, was sich außerhalb des Hauses zugetragen hatte. Die beiden Brüder führten einige Stunden lang ein langes und interessantes Gespräch über dieses Thema sowie über andere, die für ihr Wohlbefinden von großer Bedeutung waren. Erst als die ersten Sonnenstrahlen durch den Fensterflügel hereinfielen, standen beide auf und dachten daran, Flora zu wecken, die nun schon so viele Stunden fest geschlafen hatte.

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