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Die Plauderstube – Des Seeräubers Schatz – Kapitel 1

Des Seeräubers Schatz
Eine Preisnovelle von Edgar Allan Poe
Sonntag, den 30. Oktober 1859

1.

Vor längerer Zeit war ich sehr befreundet mit einem Herrn William Legrand. Er stammte von einer Hugenottenfamilie ab und hatte früher große Reichtümer besessen, aber eine Reihe von Unglücksfällen hatte ihn derselben beraubt. Um den Demütigungen zu entgehen, welche nach Verlust seines Vermögens ihm bevorstanden, verließ er New Orleans, die Stadt seiner Väter, und schlug seinen Wohnsitz auf Sullivan’s Island bei Charleston in South Carolina auf.

Dieses Eiland ist sehr merkwürdig. Es besteht fast gänzlich aus Meersand und ist etwa drei Meilen lang. Seine Breite beträgt an keinem Punkt mehr als eine Viertelmeile. Von dem Festland ist es durch einen kaum sichtbaren Bach getrennt, welcher durch ein Dickicht von Rohr – dem Lieblingsaufenthalt des Sumpfhuhns – schlammig und träge dahinfließt.

Die Vegetation ist, wie man sich denken kann, dürftig und zwerghaft. Man erblickt keinen einigermaßen hohen Baum. Nahe dem westlichen Ende, wo das Fort Moultrie steht und wo sich ein paar elende Blockhäuser befinden, die während des Sommers von solchen bewohnt sind, welche dem Staub und Fieber von Charleston entfliehen, wächst allerdings die borstige Pflaum- und Tannenpalme empor; aber die ganze Insel, mit Ausnahme dieser westlichen Spitze und eines schmalen Streifens von hartem weißen Gestein an der Seeküste, ist mit jener buschartigen Myrte bewachsen, welche von den englischen Kunstgärtnern so gerühmt wird. Dieses Gesträuch erreicht hier oft eine Höhe von 15 bis 20 Fuß und bildet ein fast undurchdringliches Gebüsch, welches die Luft mit seinen Düften erfüllt.

In der tiefsten Einsamkeit dieses Gebüsches, nicht weit vom östlichen oder entlegensten Ende der Insel, hatte Legrand sich eine kleine Hütte gebaut, welche er bewohnte, als ich – rein zufällig – seine Bekanntschaft machte. Letztere reifte bald zu inniger Freundschaft heran; denn es lag vieles in dem Wesen des Einsiedlers, welches Interesse und Hochachtung erweckte.

Ich fand ihn tief gebildet, mit ungewöhnlichen Geistesanlagen begabt, aber sehr misanthropisch und einer seltsam wechselnden Stimmung von Enthusiasmus und Melancholie unterworfen. Er besaß eine große Anzahl von Büchern, gebrauchte sie jedoch selten. Seine wahre Hauptbeschäftigung war Jagd und Fischfang oder das Aufsuchen von Muscheln und Insekten am Meeresufer oder in dem Myrtengestrüpp. Seine Sammlung von Insekten hätte ein Swammerdam beneiden mögen. Auf solchen Exkursionen begleitete ihn gewöhnlich ein alter Neger, Jupiter genannt, welcher bereits in früherer Zeit freigelassen worden war, aber sich weder durch Drohungen noch Versprechungen bewegen ließ, von dem abzustehen, was er sein Recht nannte, nämlich stets die Schritte seines jungen Massa Will zu überwachen. Es ist nicht unwahrscheinlich, dass die Verwandten Legrands, welche Letzteren für etwas überspannt und geistesverwirrt hielten, absichtlich Jupiter in dieser Hartnäckigkeit bestärkt haben.

Der Winter ist in dem Breitengrad von Sullivan’s Island selten besonders streng, und es kommt nicht leicht vor, dass man im Herbst ein Feuer im Kamin für nötig erachten muss. Gegen Mitte Oktober des Jahres 18.. erlebten wir jedoch einen Tag von ungewöhnlicher Kälte. Eben vor Sonnenuntergang bahnte ich mir meinen Weg durch das immergrüne Gestrüpp zu der Hütte meines Freundes, den ich seit mehreren Wochen nicht besucht hatte. Ich wohnte damals in Charleston, etwa 9 Meilen von der Insel. Die Fahrgelegenheit hin und zurück hatte lange noch nicht die heutige Bequemlichkeit erreicht.

Als ich vor der Hütte ankam, klopfte ich wie gewöhnlich, und da ich keine Antwort erhielt, suchte ich den Schlüssel an dem Platz, wo ich wusste, dass er verborgen sei, öffnete die Tür und trat ein. Ein lustiges Feuer brannte auf dem Herd. Das war etwas Neues, aber mir höchst willkommen. Ich legte meinen Überrock ab, zog einen Armsessel an die flackernde Glut und erwartete ruhig die Ankunft meines Wirtes.

Bald nach eingebrochener Dämmerung langten er und Jupiter an und boten mir ein überaus herzliches Willkommen.

Jupiter wirtschaftete – mit einem Grinsen von einem Ohr bis zum andern – umher und briet einige Sumpfhühner zum Abendessen. Legrand hatte einen seiner Anfälle (wie soll ich sie anders bezeichnen) von Enthusiasmus. Er hatte eine noch unbekannte zweischalige Muschel, die ein ganz neuen Genus bildete, entdeckt, und mehr als das – er hatte mithilfe Jupiters einen Skarabäus erjagt, denn er für gänzlich neu hielt, über den er sich jedoch auf morgen früh meine Ansicht erbaut.

»Und warum nicht heute?«, fragte ich, indem ich mir am Feuer die Hände rieb und das ganze Pack der Skarabäen zum Teufel wünschte.

»Ach, wenn ich nur gewusst hätte, dass Sie da sind!«, rief Legrand. »Aber ich hatte Sie so lange nicht gesehen, und wie konnte ich ahnen, dass Sie gerade an diesem Abend vor allen anderen mich aufsuchen werden? Als ich heimging, begegnete ich dem Lieutenant G. aus dem Fort und lieh ihm dummerweise den Käfer; deshalb können Sie ihn unmöglich vor morgen sehen. Bleiben Sie die Nacht über hier, und ich will vor Sonnenaufgang danach senden. Er ist das Schönste auf der Erde!«

»Was? Der Sonnenaufgang?«

»Unsinn! nein! Der Käfer. Er ist von der prachtvollsten Goldfarbe – ungefähr so groß wie eine Hickorynuss – mit zwei pechschwarzen Flecken auf dem einen Ende des Rückens, und einem dritten etwas größeren auf dem anderen. Die Fühlhörner …«

»Da is kein Horn nich in ihm, Massa Will, kein Horn, sag’ ich Euch«, unterbrach ihn Jupiter; »der Käfer is’n Goldkäfer – solid, jedes Stück davon, inwendig und allens, selbst die Flügel, hab’ in meinem Leben noch keinen halb so schweren Käfer nich in der Hand gehabt!«

»Nun, wenn das meinethalben der Fall wäre, Jupiter«, versetzte Legrand, ernster, wie mir schien, als die Gelegenheit erforderte, »ist das ein Grund für dich, die Hühner anbrennen zu lassen? Die Farbe«, er wandte sich wieder zu mir, »ist in der Tat so, dass man fast auf Jupiters Idee geraten muss. Sie haben noch nie einen strahlenderen Metallglanz gesehen, als der, welchen die Flügeldecken versenden, aber darüber können Sie morgen erst urteilen. Inzwischen kann ich Ihnen einen Begriff von der äußeren Form geben.«

Mit diesen Worten setzte er sich an einen kleinen Tisch, auf welchem Tinte und Feder, aber kein Papier lag. Er suchte in einer Schublade danach herum, fand aber keines.

»Einerlei!«, sagte er zuletzt, »das wird hinreichen.« Er zog aus seiner Westentasche ein Blättchen hervor, das mir wie ein Stückchen sehr schmutziges Konzeptpapier erschien, und entwarf auf demselben eine flüchtige Zeichnung. Währenddessen behielt ich meinen Platz am Feuer, denn mich fror immer noch. Als die Skizze fertig war, reichte er mir dieselbe hin, ohne aufzustehen. Als ich dieselbe nahm, hörten wir ein lautes Geheul, dem ein Scharren an der Tür folgte. Jupiter öffnete und ein großer Neufundländer, welcher Legrand gehörte, kam herein, sprang mir auf die Schultern und überhäufte mich mit Zärtlichkeiten, denn ich hatte mich bei früheren Besuchen viel mit ihm beschäftigt. Als seine Freudensprünge zu Ende waren, blickte ich auf das Papier und war über die Zeichnung meines Freundes nicht wenig erstaunt.

»Nun«, rief ich aus, nachdem ich mehrere Minuten das Blatt angestarrt hatte, »das ist ein merkwürdiger Skarabäus, muss ich gestehen; mir vollständig neu; ich habe noch nie etwas Ähnliches gesehen, es sei denn ein Schädel oder ein Totenkopf, dem er ähnlicher sieht als irgendetwas, das mir noch vor die Augen gekommen ist.«

»Ein Totenkopf!«, wiederholte Legrand. »Nun ja – freilich – allerdings – auf dem Papier hat er damit einige Ähnlichkeit. Die zwei oberen schwarzen Flecken sehen den Augen gleich, nicht wahr, und der längere unten wie der Mund, und dann ist der Umriss oval.«

»Vielleicht rührt es daher«, antwortete ich, »aber Legrand, ich fürchte, Sie sind kein sonderlicher Artist. Ich muss warten, bis mir das Tier selbst zu Gesicht kommt, wenn ich mir irgendeine Vorstellung von seinem persönlichen Aussehen machen soll.«

»Nun, ich weiß nicht …«, versetzte er, ein wenig pikiert, »ich zeichne erträglich – sollte es wenigstens tun; denn ich hatte gute Lehrer und schmeichle mir, dass ich doch nicht ganz auf den Kopf gefallen bin.«

»Aber, lieber Freund, dann treiben Sie Scherz«, fuhr ich fort, »dies ist ein ganz erträglich gezeichneter Totenkopf – in der Tat, es ist sogar ein vorzüglicher Totenkopf, wenn ich dem gewöhnlichen Urteil über solche physiologische Abbildungen folgen darf. Und Ihr Skarabäus muss der sonderbarste Skarabäus von der Welt sein, wenn er dieser Zeichnung ähnlich sieht. Diese Ähnlichkeit ruft vielleicht noch den possierlichsten Aberglauben hervor. Ich denke, Sie werden den Käfer Scarabaeus caput hominis [Totenkopf-Käfer] oder so ähnlich benennen – es gibt ja manche derartige Bezeichnungen in der Naturgeschichte. Aber wo sind denn die Fühlhörner, von denen Sie sprachen?«

»Die Fühlhörner!«, rief Legrand, der allmählich in eine unerklärliche Hitze geriet, »Sie müssen doch ganz sicher die Fühlhörner sehen. Ich habe sie so deutlich gezeichnet, wie sie an dem Insekt selber sind, und ich denke, das wird genügen.«

»Nun, nun«, sagte ich, »das mag sein, aber ich kann sie wirklich nicht sehen.« Ich überreichte ihm das Blättchen ohne weitere Bemerkung, da ich ihn nicht gern reizen wollte. Indessen war ich sehr überrascht über die Wendung, welche die Sache genommen hatte. Seine üble Laune brachte mich ganz in Verlegenheit, und was die Fühlhörner betraf, so war absolut nichts Derartiges zu sehen, und die ganze Zeichnung glich wirklich den gewöhnlichen Abbildungen eines Totenkopfes aufs Haar.

Er nahm das Blättchen sehr verdrießlich in Empfang, und wollte es eben zerknittern und ins Feuer werfen, als ein zufälliger Blick auf die Zeichnung plötzlich seine Aufmerksamkeit in Anspruch zu nehmen schien. Erst wurde sein Gesicht scharlachrot und dann totenbleich. Einige Minuten lang betrachtete er in seinem Stuhl prüfend die Zeichnung. Dann stand er auf, nahm eine Kerze vom Tisch und setzte sich auf eine Kiste in den entgegengesetzten Winkel der Stube. Hier begann er abermals eine ängstlich sorgsame Untersuchung des Papieres und wandte es nach allen Seiten. Er sprach jedoch nichts, und sein Benehmen setzte mich höchlich in Erstaunen. Ich hielt es indessen für ratsam, seine aufsteigende üble Laune nicht durch irgendeine Frage zu erhöhen. Endlich zog er aus seinem Rock eine Brieftasche hervor, legte sorgfältig in dieselbe das Blättchen und verschloss beides in seinem Schreibtisch. Sein Benehmen verriet nun eine größere Fassung, aber seine enthusiastische Stimmung war vollständig verschwunden. Trotzdem schien er weniger verstimmt als zerstreut. Je dunkler der Abend hereinbrach, desto mehr schien er in Träumereien zu versinken, aus denen ihn keiner von meinen Scherzen und Witzeinfällen zu wecken vermochte. Meine Absicht war anfänglich, die Nacht über in der Höhle zu bleiben, wie es schon oftmals geschehen war. Da ich jedoch meinen Wirt in so eigentümlicher Stimmung sah, hielt ich es für besser, mich zu empfehlen. Er drängte mich nicht zum Bleiben, aber als ich fortging, drückte er mir die Hand mit mehr als gewöhnlicher Heiterkeit.

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