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Nick Carter – Ein verhängnisvoller Schwur – Kapitel 3

Nick Carter
Amerikas größter Detektiv
Ein verhängnisvoller Schwur
Ein Detektivroman

Das todbringende Telefon

»Hallo, hier Nick Carter, wer dort?«

»Inspektor McClusky«, tönte es zurück. »Höre mal, du bist ja ein schöner Kerl, Nick … Weißt du eigentlich, wie viel Uhr es ist?«

»Nein, ich habe keine Idee … Warum fragst du, George?«

»Warum ich frage?«, krähte der Inspektor in den höchsten Entrüstungslauten, deren er überhaupt fähig war, durch den Apparat zurück. »Hast du vielleicht inzwischen dein Gedächtnis verloren, Nick? Es ist halb zehn Uhr … und in spätestens fünf Minuten müssen wir mit Morris Carruthers unterwegs sein, wollen wir uns nicht einer Missachtung des Gerichts schuldig machen. Nun bin ich neugierig, wie du binnen jetzt und fünf Minuten hier eintreffen willst. Wo befindest du dich eigentlich?«

»Im Bauschuppen des Unternehmers Menasto. Du musst unbedingt sofort hierherkommen, George.«

»Was du nicht sagst, Nick«, bemerkte der Inspektor ironisch. »Und was wird inzwischen aus Morris Carruthers?«

»Geh zum Teufel mit ihm!«, gab der Detektiv verdrossen zurück.

»Schönen Dank für den christlichen Wunsch, doch die Höllenfahrt wollen wir dem Verbrecherkönig allein überlassen. Was mich anbetrifft, so muss ich wohl oder übel den Transport an deiner Stelle übernehmen, falls du nicht Hals über Kopf zum Grand Central Depot eilen und den Gefangenen dort von mir in Empfang nehmen willst.«

»Das ist gänzlich ausgeschlossen!«, rief der Detektiv hastig. »Meine Anwesenheit ist hier unbedingt notwendig … freilich, die deine ebenfalls auch, und es ist zu fatal, dass nun die Geschichte mit diesem Carruthers dazwischenkommt!«

»Das ist das erste Mal, solange wir beide zusammenarbeiten, Nick, dass du deine Meinung so im Handumdrehen änderst«, versetzte der Inspektor erstaunt. »Was gibt es denn dort? Hat sich die Sache mit dieser Inez Navarro bewahrheitet; wohl nur eine geschickt ausgeheckte Lüge, was?«

»Im Gegenteil«, gab Nick Carter tiefernst zurück, »wir stehen vor den scheinbar unentwirrbaren Rätseln eines neuen Dramas … Inez Navarro ist nicht nur tot von mir in der Bauhütte aufgefunden worden, sondern es hat sich jetzt schon herausgestellt, dass sie in ihrem bewegten Leben noch eine weitere Rolle geschickt zu spielen verstanden hat … Sie soll nämlich identisch mit der Gattin des reichen Baumeisters Menasto sein.«

»Unmöglich!«, rief McClusky durch den Fernsprecher. »Wie hast du das alles nur in solcher Geschwindigkeit ermittelt; diese Inez Navarro ist wirklich und wahrhaftig tot?«

»Schon seit Mitternacht … Sie hatte sogar äußerst geschickte Anstalten getroffen, um mich, ihrem Versprechen nach, so schnell wie möglich ins Jenseits zu spedieren … doch das berichte ich dir später, bist du erst heute Nachmittag von Sing-Sing zurück.«

»Also, es ist dein unwiderruflicher Entschluss, Morris Carruthers nicht persönlich zu transportieren. Du lässt dich herbei, Nick, dieses Juwel von einem Verbrecherkönig der Obhut von uns ganz gewöhnlichen Berufspolizisten zu überlassen?«

»Lieber George, dein Spott trifft umso weniger, als ihr den Burschen bereits zweimal habt entschlüpfen lassen und ich immer wieder das Vergnügen hatte, ihn von Neuem einzufangen.«

Der Inspektor räusperte sich durch den Apparat. »Well, Nick, es waren nur meine Leute, welche sich derartig tölpelhaft benahmen – nunmehr aber werde ich persönlich die Überführung dieses Morris Carruthers dirigieren – und es müsste doch mit dem Teufel zugehen, ginge die Sache wieder schief.«

»Well, ich glaube nunmehr selbst, dass der Stern des Verbrecherkönigs im Schwinden begriffen ist«, bemerkte Nick Carter. »Du wirst keine schwere Arbeit haben … Mit dem Tod dieser Inez ist jede Möglichkeit einer gewaltsamen Befreiung geschwunden, und ich möchte beinahe sagen, nunmehr kannst du mit der Überführung des Verurteilten irgendeinen deiner zuverlässigen Detektivsergeanten beauftragen, denn seit dem erfolgten Tod von Inez Navarro ist Carruthers nicht mehr gefährlich.«

»Wir wollen es hoffen, Nick«, brummte der Inspektor. »Jedenfalls gehe ich am liebsten sicher und werde deshalb die Überführung persönlich in die Hand nehmen. Lasse mich deinen Aufenthalt wissen, Nick, denn sofort nach meiner Rückkehr suche ich dich auf … Brauchst du übrigens Leute?«

»Well, Chick wird schon in großer Ungeduld auf mich warten … Ich habe gerade genug erlebt, um die Zeit spurlos an mir vorüber rauschen zu lassen.«

»Chick ist hier bei mir«, gab der Inspektor zurück. »Da er keinerlei Antwort von dir bekam, hielt er es für das Beste, hierher zu kommen.«

»Gut so. Er soll dich mit Carruthers bis an den Expresszug begleiten … Sieht er, dass alles all right ist, so braucht er ja nicht mit nach Sing-Sing zu fahren – in diesem Fall erwarte ich ihn hier, denn ich dürfte ihn unter Umständen brauchen.«

»All right, old boy … Dann auf Wiedersehen heute Nachmittag. Eben bringen sie Carruthers … darum Schluss!«

»Good bye!«, sagte auch der Detektiv, indem er mit einem Seufzer der Erleichterung das Hörrohr wieder an den Haken hängte. Einer der in seinem Leben höchst seltenen Momente war an ihn herangetreten, nämlich, wo er selbst nicht wusste, was tun und was unterlassen. Wenn ihm noch heute früh beim Aufstehen jemand gesagt hätte, er würde sich durch irgendeinen Umstand davon abbringen lassen, Morris Carruthers persönlich zum elektrischen Stuhl in Sing-Sing zu geleiten, würde er denselben sicher einen Narren genannt haben. Doch nun war das so gänzlich Unerwartete auch schon Ereignis geworden; und hinter dem Interesse, das dieser neue geheimnisvolle Fall ihm bereitete, trat das bisher von ihm an Carruthers genommene vollständig in den Hintergrund.

Das Schicksal des Verbrecherkönigs war freilich besiegelt; denn da nun seine getreue Gehilfin tot war, fand sich kein anderer Mensch, der sein Leben gewagt hätte, um dem zum Tode verurteilten Verbrecherkönig die Freiheit zu verschaffen. Morris Carruthers war schon so gut wie hingerichtet; auch sein Selbstmordversuch in vergangener Nacht war ein sicheres Zeichen dafür, dass auch er es längst aufgegeben hatte, noch mit einer eventuellen Befreiung zu rechnen. Die Erkenntnis, dass eine solche unter allen Umständen misslingen musste, war es ja gerade auch gewesen, welche die Verbrecherkönigin in den Tod getrieben hatte.

Aber warum in den Tod? Das war wieder eine neue Frage, auf welche Nick Carter – wenigstens vorläufig – keine Antwort fand. Wenn sich seine Vermutung bewahrheitete und die angebetete Frau des Millionärs Menasto identisch mit der toten Inez Navarro war … warum hatte diese dann nicht einfach Morris Carruthers seinem Schicksal überlassen? Sie hatte doch alle Ursache, weiter das Leben in vollen Zügen zu genießen?

Der Eintritt des Coroners und seiner Assistenten entriss den Detektiv seinen Betrachtungen, während deren er, ohne es selbst zu wissen, unausgesetzt in das starre Totenangesicht der schönen Leiche geblickt hatte.

»Well, Doktor«, meinte Nick Carter nach der ersten Begrüßung. »Sagen Sie mir so schnell wie möglich, woran diese Frau gestorben ist … In einem an mich gerichteten Brief hat sie ihren Entschluss ausgesprochen, Selbstmord zu begehen … und ich möchte wissen, ob sie ihre Absicht ausgeführt hat oder andere Hände dabei im Spiel gewesen sind.«

»Ihre Wissbegierde soll tunlichst bald befriedigt werden, Mr. Carter«, entgegnete der Coroner, »falls wir nicht erst zu einer Autopsie schreiten müssen.«

Unter der gespannten Aufmerksamkeit der in der Bauhütte Anwesenden, die sich inzwischen durch die zahlreichen an den Neubauten beschäftigten Männer vervielfacht hatten, nun aber von Nick Carter energisch aus der Hütte gewiesen wurden, legten der Coroner und dessen Gehilfen die Tote auf das Ruhebett, öffneten ihr die Kleider, und die in all solchen Fällen übliche peinliche erste Leichenschau nahm ihren Beginn. Der Detektiv stand nahebei und verständigte den Coroner im Flüsterton über das von ihm bereits Ermittelte.

»Die Lady ist durch Elektrizität getötet worden«, erklärte der Coroner plötzlich tiefernst. »Und zwar ist dies geschehen, als sie telefonieren wollte – sehen Sie ihre innere rechte Handfläche an … Sie ist stark verbrannt … Beim Anfassen des Hörrohrs ist die Hand mit dem schadhaften Isolierungsdraht in Berührung gekommen, was bei den im Fernsprechverkehr zur Anwendung gelangenden Schwachströmen nicht viel zu bedeuten gehabt haben würden … Nun aber, da in verbrecherischer Weise der Starkstrom des Dynamo im Keller mit den Telefondrähten in Verbindung gebracht wurde, erhielt sie im selben Moment, als sie die schadhafte Stelle mit der Hand berührte, einen so furchtbaren Schlag, dass ihr Tod auf der Stelle eingetreten sein muss.«

»Erlauben Sie, Doktor«, fiel der Detektiv ein. »Die Tote war von jenem Sessel dort heruntergeglitten. Sie hatte zwar die beiden isolierten Leitungsdrähte im Arm, doch keinesfalls das Hörrohr in der Hand. Dieses hing vielmehr ordnungsgemäß am Haken, wie zum Beispiel soeben.«

»Ganz richtig, Mr. Carter …«

»Erlauben Sie«, fiel dieser wieder ein, »das finde ich durchaus nicht richtig, denn wenn diese Person hier Selbstmord begangen hat, war es ihr unter keinen Umständen mehr möglich, das Hörrohr wieder an den Haken zu hängen.«

»Selbstverständlich nicht. Das ist ausgeschlossen!«, rief der Coroner, der erst jetzt die volle Tragweite der scharfsinnigen Zwischenbemerkung des Detektivs erkannte. »Wenn das Hörrohr von keinem anderen berührt und aufgehängt wurde …«

»Das ist ganz ausgeschlossen, denn bei meinem Eintreffen war der Apparat, um mich so auszudrücken, mit Starkstrom noch geladen«, warf Nick Carter ein. »Wer also das Hörrohr anzutasten gewagt hätte, würde wahrscheinlich den Tod erlitten haben.«

»Sehr richtig!«, fiel der Coroner ein. »Doch da das Hörrohr ordnungsgemäß am Haken hing, nachdem der Tod dieser Frau bereits eingetreten war, so …«

»… so ergibt sich daraus«, unterbrach ihn der Detektiv trocken, »dass das Aufhängen des Hörrohrs eben von einer dritten Person besorgt wurde, die sich zu der Zeit, als jene Frau dort zu Tode kam, hier im Office befunden haben muss. Sie hat mit einem vorhin von mir hier im Raum vorgefundenen Gummihandschuh, welcher dem Maschinisten gehört hatte und ohne dessen Vorwissen vom Keller hier in das Office praktiziert wurde, den geladenen Schallfänger wieder an den Haken gehängt und hierauf den Raum verlassen und ordnungsgemäß von außen verschlossen … Ist das richtig, und es wird dies zweifellos der Fall sein, dann ist aller Wahrscheinlichkeit nach diese Frau hier ermordet worden … Also ein Opfer und keine Selbstmörderin.«

Der Coroner war für einen Augenblick vor Erstaunen völlig sprachlos.

»Das wäre wohl der nichtswürdigste und hinterlistigste Mordanschlag, der mir in meiner gesamten Praxis bisher vorgekommen ist!«, erklärte er kopfschüttelnd. »Zweifellos hat die Ermordete mit dem Täter auf vertrautem Fuß gestanden – das geht ohne Weiteres schon aus dem Umstand hervor, dass sie zu mitternächtlicher Stunde dem Mörder hierher folgte … Die Unglückliche muss dann ahnungslos nach dem Hörrohr gegriffen und im selben Augenblick auch schon den tödlichen Schlag erlitten haben.«

»Vermutlich«, warf Nick Carter ein. »Aber so leicht lässt sich das hier abgespielte Drama in diesem Fall nicht aufklären, denn es war zweifellos noch ein weiteres Mordattentat geplant, dem ein anderer, und zwar ich, zum Opfer fallen sollte.«

Er hielt eine Weile inne, unausgesetzt den Blick auf die Tote geheftet; dann seufzte er leise. »Wenn diese starren Lippen noch einmal sprechen könnten, wie viel hätte sich sie zu fragen, und wie viel Wichtiges vermöchten sie uns zu enthüllen, das uns viel Kopfzerbrechen ersparen würde. Doch die Toten plaudern nichts aus … Das Nächste, was wir tun müssen«, wandte er sich an den Coroner, »ist, so schnell wie möglich zu einer Verständigung mit Baumeister Menasto zu gelangen, dessen Gattin die Tote hier sein soll … Und da ich alle Ursache habe, den Angaben der Angestellten des Baumeisters vollen Glauben zu schenken, so wird es sich wohl auch so verhalten … Nun aber glaube ich, in der Toten mit ebensolcher Bestimmtheit eine der gefährlichsten Verbrecherinnen, welche jemals New York unsicher gemacht haben, wiederzuerkennen. Mehr noch, diese Person unterrichtete mich in einem mit der heutigen Post erhaltenen Brief von ihrem Vorhaben, hier in dieser Bauhütte Selbstmord zu begehen. Nun bin ich wohl der Mann, welchen diese Inez Navarro – oder wie sie sonst heißen mag – mit dem tödlichsten Hass verfolgt hat, und es ist ganz klar, dass sie den Fernsprecher nur in der Hoffnung geladen gelassen hat, dass ich das Hörrohr ergreifen und dadurch denselben Tod erleiden würde, wie die Entseelte hier. Ich wiederhole, ein derartiger teuflischer Anschlag konnte nur dem Hirn von Inez Navarro entspringen – aber wie vermochte sie ihn auszuführen, hatte sie selbst schon den Tod erlitten?«

»Sie muss einen Helfershelfer gehabt haben«, warf der Coroner ein.

»Einen Helfershelfer?«, wiederholte Nick Carter mit ungläubigem Lächeln. »Lieber Doktor, Sie kennen diesen Tiger in Frauengestalt nicht. Wer sollte zudem ihr Komplize gewesen sein – also jemand, der ihren Selbstmord beobachtete, um alsdann die von ihr hinterlassenen Weisungen auszuführen? Inez Navarro tötet sich nicht vor den Augen anderer, sie vertraut ihre Rache auch nicht anderen Händen an … Sie traut sich selbst kaum.«

Ein plötzlicher Verdacht tauchte in ihm auf. Er trat dicht an die Tote heran und betrachtete sie lange und eingehend. »Well«, sagte er schließlich. »Wäre eine derartige Vermutung nicht völlig ausgeschlossen, möchte ich meinen, diese Inez Navarro habe eine ihr täuschend ähnlich sehende Doppelgängerin gehabt, und diese sei es, deren Leiche vor uns liegt.«

»Das ist ganz ausgeschlossen«, wendete der Coroner ein. »Derartige Zufälligkeiten spuken nur in Romanen, doch in Wirklichkeit gibt es dergleichen nicht.«

Das Gesicht des Detektivs war immer ernster geworden; nun zog er den am Morgen erhaltenen Brief wieder hervor und überflog ihn aufmerksam. »Hm, hm, was soll das heißen«, brummte er, »was schreibt sie da: Noch heute wissen Sie nicht und werden es auch niemals zu erfahren bekommen, wie es mir möglich war, den Scharfsinn ihrer Spürleute zu täuschen – zugleich zuhause und unterwegs zu sein … Ich habe eine Ahnung, als ob in dieser höhnischen Wendung des Rätsels Lösung liegt«, meinte er nachdenklich zum Coroner gewendet. »Was heißt das: zugleich zuhause und unterwegs zu sein … Der damalige Vorgang ist rasch genug erzählt«, berichtete er dann. »Mein Gehilfe Patsy, ein äußerst geschickter und intelligenter junger Mensch, hatte den Auftrag, diese Inez Navarro zu beschatten, und er verfolgte sie durch die ganze Stadt. In derselben Zeit aber nahm Ten Itchi, ein nicht weniger vertrauenswürdiger anderer Gehilfe von mir, sie an einem Fenster des von ihm bewachten Hauses wahr … Damals glaubten wir an eine geschickte Verkleidung irgendeiner Helfershelferin, obwohl wir trotz der sorgfältigsten Überwachung nicht die Anwesenheit einer zweiten Frau in dem von uns beobachteten Haus festzustellen vermochten … Was ich nun heute sagen soll, das weiß ich selbst nicht … Diese Tote ist Inez Navarro, darüber ist kein Zweifel möglich. Ich habe sie zu oft und zu genau gesehen, um sie nicht auf den ersten Blick wiederzuerkennen …«

»Erlauben Sie mal, Mr. Carter«, warf der Maschinist ein, der bis dahin kopfschüttelnd zugehört hatte. »Sprechen Sie von der gefährlichen Frauensperson, die mit dem Morris Carruthers zusammen gearbeitet hat? Sein Prozess beschäftigte tagelang sämtliche Zeitungen … man konnte gar nichts anderes lesen … Und da war so eine Geschichte, wie das Frauenzimmer neben dem Verbrecherkönig im Gerichtssaal saß und es plötzlich zu einem Tumult kam – ich glaube, eine Frau fiel in Krämpfe. Kurzum, der Angeklagte nahm seinen Hut und spazierte ganz gemütlich aus dem Gerichtssaal, als ob ihm die Geschichte überhaupt nichts anginge.«

»Ganz richtig«, fiel Nick Carter ein, der nicht recht wusste, wo hinaus der andere zielte.

»Well, die Zeitungen brachten damals auch Bilder über jene Person, und da erinnere ich mich, Mrs. Menasto stand gerade mit dem Chef vor den Neubauten drüben, und es war gerade Frühstückspause … ich las im Journal und schaute mir die Bilder an … Da sah ich auch das Bild von Morris Carruthers Geliebter … Well, erst glaubte ich, es müsste Mrs. Menasto darstellen, so ähnlich war es. Ich ging auf sie zu und zeigte ihr das Bild; sie lachte nur, und ihr Mann auch, und beide meinten, sie wollten die Zeitung verklagen, denn diese müsste aus Versehen ein Bild von ihr erwischt haben. Während wir noch stehen und sprechen, fährt ein Cab an uns vorbei … und wer sitzt drinnen? Mrs. Menasto, wie sie leibt und lebt – zum Verwechseln ähnlich, sage ich Ihnen … und dabei stand doch Mrs. Menasto – die richtige, meine ich – neben ihrem Mann und so dicht bei mir, dass ich nur die Hand auszustrecken brauchte, um sie zu berühren.«

Nick Carter hatte sich entfärbt; äußerlich blieb er ruhig, doch ein nervöses Zucken um seine Lippen ließ die große Erregung in seinem Inneren erkennen. »Das ist eine sehr wichtige Mitteilung«, versetzte er hastig. »Was sagte Mrs. Menasto, als sie ihrer Doppelgängerin ansichtig wurde, eh?«

Der Maschinist schob die Schultern hoch. »Well, Mr. Carter, es war das einzige Mal, dass ich die schöne Frau abstoßend finster habe blicken sehen … Und wie ich in begreiflicher Erregung auf den Wagen wies und mich über die Ähnlichkeit der darin sitzenden Dame mit ihr ausließ, da gab sie mir gar keine Antwort und ließ mich einfach stehen.«

»Und Mr. Menasto?«, fragte der Detektiv. »Wie benahm sich der?«

»Er hatte gar nicht auf den Wagen geachtet und dessen Insassin nicht wahrgenommen. Später sagte er mir lachend, ich hätte versehentlich bei seiner Frau ins Fettnäpfchen getreten, denn Mrs. Menasto wolle es nicht wahrhaben, dass ihr an Schönheit jemand anderes nahekommen oder ihr gar ähnlich sehen könnte.«

»Wissen Sie sich noch der Richtung, welche der Wagen damals genommen hat, zu entsinnen?«, forschte der Detektiv.

»Ganz gewiss«, bestätigte der Maschinist. »Wir standen gerade an der Ecke der 77th Street, und in diese bog der Wagen ein. Er hielt vor einem Haus unweit Columbus Avenue, und dort hinein wird sich wohl die schöne Fremde, welche der unglücklichen Mrs. Menasto so ähnlich sah, begeben haben … Genau sagen kann ich es aber nicht, denn ich musste zur Arbeit zurück.«

»Well, das war das Haus, in welchem Inez Navarro wohnte … Und es ist kein Zweifel, die von Ihnen Gesehene war Inez Navarro!«, stieß Nick Carter hervor.

Alles Blut war plötzlich aus seinen Wangen gewichen, und seine Augen sprühten förmlich vor Erregung. Mit der Hand an der Stirn blieb er geraume Zeit schwer atmend stehen und hing den in wirrem Durcheinander auf ihn einstürmenden widersprüchlichen Gedanken nach.

»Wenn diese Inez Navarro lebte … wenn sie uns alle auf die denkbar genialste Weise genarrt hätte … wenn sie sich einer Doppelgängerin bedient hätte, um uns irrezuführen … und um zugleich mich davon abzuhalten, ihren Geliebten nach Sing-Sing zu überführen – Tod und Teufel!«, schrie er auf, seiner inneren, furchtbaren Erregung gewaltsam Luft machend, heftig mit dem Fuß auf den Boden stampfend. »Ah, das wäre ja jammervoll«, fuhr er fort, »wenn diese Verbrecherkönigin es verstanden hätte, uns alle an der Nase herumzuziehen … wenn sie eben frohlockend ihres gelungenen Anschlages sich freute!«

»Aber mein bester Mr. Carter, ich verstehe von alledem nicht das Geringste!«, versicherte der Coroner kopfschüttelnd.

»Dann geht es Ihnen genauso wie mir auch, Doktor«, bemerkte der berühmte Detektiv kurz angebunden. »Genug des müßigen Geschwätzes, wir müssen handeln … und zwar schleunig …«

Er wendete sich an den mittlerweile erschienenen Buchhalter, der im Office zu arbeiten pflegte. »Auch Sie erkennen in der Toten die Gattin ihres Prinzipals?«, forschte er dann.

»Selbstverständlich, da kann kein Zweifel herrschen«, beteuerte der gänzlich erschütterte Mann mit Tränen in den Augen. »Es ist Mrs. Menasto.«

»Wo befindet sich die Wohnung des Baumeisters?«

»Eine einzige Straße, Central Park West weiter hinauf«, berichtete der Buchhalter. »Gleich das erste Haus nach der Ecke.«

»Ihr Chef befindet sich in Albany?«

»Soviel ich weiß, ja. Doch er gedenkt schon heute Abend zurückzukommen.«

»Well!«, entschied Nick Carter. »Jedenfalls wird Dienstpersonal im Hause sein, und wir können vielleicht das eine oder andere von Wichtigkeit dort erfahren. Hat Ihr Chef nicht seine Adresse in Albany hinterlassen?«, fragte er den Buchhalter.

»Nein. Doch er sagte mir, er würde gegen elf Uhr vormittags anklingeln.«

»Also in einer Viertelstunde etwa«, stellte Nick Carter mit einem Blick auf seine Taschenuhr fest. »Sobald dies geschieht, benachrichtigen Sie mich sofort und unterrichten Sie auf keinen Fall Ihren Prinzipal von den hiesigen Vorgängen. Das will ich selbst tun, verstanden?«

Der Buchhalter versprach, den Anordnungen des Detektivs pünktlich Folge zu leisten, und Nick Carter begab sich allein, da der Coroner und dessen Assistenten bei der Leiche zu bleiben wünschten, zum Haus des Baumeisters.

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