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Tony Tanner – Agent der Weißen Väter

Im Wettlauf mit der Zeit – Teil 6

Ein Frührentner hatte den Schlüssel zu Pinazzis Wohnung. Steele stellte sich als möglicher Nachmieter vor und wurde von dem Mann nach oben begleitet. Das asthmatische Pfeifen, mit dem er jeden Schritt begleitete, zeigte, dass er seine karge Invalidenrente nicht erschwindelt hatte. Auf jedem Treppenabsatz blieb er stehen und schnappte keuchend Luft.

Dabei stützte er sich wie ein erschöpfter Läufer auf die Oberschenkel. Seine Augen hatten einen nach innen gekehrten Blick, den Steele einmal bei einem Hund bemerkt hatte, als der gerade sein Geschäft erledigte. So dauerte es eine Weile, bis sie Pinazzis ehemalige Wohnung erreicht hatten. Zeit genug für Steele, sich darüber klar zu werden, dass dieser Ersatzhausmeister weder bestochen noch erschossen noch sonst wie stillgelegt werden musste, weil er durch seine Krankheit wenig Begeisterung für die Überwachung von Aktivitäten im Haus aufbringen konnte. Als die Tür aufschwang, schaute Steele überrascht in völlig leere Räume.

»Wann sind die Möbel abgeholt worden?«

Der Hausmeister-Frührentner kratzte sich am Kopf. »Vor ein paar Tagen, drei oder vier. Die Männer hatten eine Bescheinigung, von Herrn Pinazzi unterschrieben.«

»Kennen Sie Pinazzis Unterschrift?«

Der andere druckste herum. »Um genau zu sein, war ich beim Arzt oder vielleicht auch spazieren. Meine Frau hat die Möbelpacker hereingelassen. Und sie hat auch quittiert.«

 

Eine leere Wohnung nutzte Steele nicht allzu viel. Er schritt durch die Räume, während sein Begleiter am Türrahmen des Eingangs lehnte und mit geradezu schmerzhaftem Pfeifen atmete. Schließlich rief eine Stimme durch das Treppenhaus, und der Mann verabschiedete sich. Steele versprach, den Schlüssel wieder vorbeizubringen.

An den Tapeten waren noch die hellen Felder, die zeigten, dass hier Bilder gehangen hatten. Pinazzi liebte wohl Bilder. Vermutlich zeigten die meisten Pinazzi mit irgendeinem Prominenten, der etwas zerstreut, aber zuvorkommend in die Kamera lächelte. Auch der Teppichboden zeigte noch Spuren des Mobiliars. Was hatte die Frau in der Konditorei erzählt?

Richtig, das Arbeitszimmer musste Zugang zum Balkon und direkten Blick auf dieses Geschäft haben. Nach dieser Überlegung war es nicht mehr schwer, den Raum ausfindig zu machen. Diese geschlossene Drucklinie im Teppich musste der Schreibtisch gewesen sein.

Auf der einen Seite erkannte man noch die Spuren der Stuhlrollen. Einige Kabel waren auf dem Boden liegen geblieben. Direkt hinter der Stelle, an der der Schreibtischstuhl gestanden hatte, war eine Buchse geöffnet und dann schlampig neu verschlossen worden, sodass der Deckel schief stand. Als Steele die Buchse in Augenschein nahm, fiel ihm ein grauer Staub auf, der unten auf der Plastikummantelung lag.

Es war wieder einmal nicht mehr als der Instinkt, der Steele dazu zwang, eine Seite aus seinem Notizbuch zu reißen, diesen Staub sorgfältig darauf zu kehren und den Zettel geschickt zu falten, sodass nichts entweichen konnte.

 

Mehr hatte er nicht zu tun. Er wollte schon die Treppe hinuntergehen, als ihm der Sicherungskasten im Treppenhaus ins Auge fiel. Ein Plastikkasten unterhalb der Sicherungsleisten, der offensichtlich später anmontiert worden war, erregte seine Aufmerksamkeit. Ein rascher Schlag mit dem Ellbogen ließ das Plastik zerspringen, ohne dabei größeren Lärm zu verursachen. Eine Reihe von Transistoren und Röhren, eingehüllt in ein Geflecht verschiedenfarbiger Drähte, wurde sichtbar. Steele suchte nach dem nächsten Sicherungskasten, der eine Etage tiefer war. Hier fand sich der gleiche Plastikkasten, an exakt derselben Stelle. Steele zögerte keine Sekunde und schlug wieder zu. Dieses Mal war der Kasten leer. Und der nächste und der übernächste ebenfalls. Alle diese zusätzlichen Kästen in diesem Haus waren Attrappen. Bis auf den einen.

Als er den Schlüssel abgab und voller Bedauern erklärte, dass diese Wohnung einige Eigenschaften aufwies, die er nicht akzeptieren konnte, stand er der Ehefrau des Frührentners gegenüber. Sie wirkte schmal und verhärmt, als hätte er sie angesteckt, aber sie hatte dennoch eine Art von wieselflinker Auffassungsgabe. Steele machte keine langen Umschweife und fragte nach der Firma, die die Elektroinstallation gemacht hatte. Er bekam die Adresse und erfuhr zusätzlich, dass diese Kästen durch elektronische Steuerung eine Minderung des Stromverbrauchs bewirken sollten. Bisher war keinem Mieter etwas aufgefallen, aber, so erklärte die Frau frohgemut, der Effekt würde sich wohl erst in einigen Wochen einstellen.

 

***

 

Der Mann im Büro der kleinen Elektrofirma wurde sichtlich nervös, als Steele erschien und geradeheraus nach dem Auftrag in Pinazzis Haus fragte. Er versuchte es zuerst mit Frechheit, und als das nichts nutzte, spielte er den Unwissenden. Steele legte seinen Journalistenausweis auf den Tisch.

»Ich trage dieses Ding nicht bei mir, um mich von Ihnen hier verarschen zu lassen. Ich weiß, dass Ihre Firma mit überteuerten Rechnungen völlig nutzlose Zusatzgeräte an die Elektroinstallation von Mietshäusern legt. Und glauben Sie nicht, ich würde mir diese Story entgehen lassen. Ich komme um drei Uhr wieder. Und dann sagen Sie mir, wer diesen Auftrag erteilt hat und wer diese läppischen Kästen herstellt. Ansonsten … denken Sie sich was hübsch Hässliches aus, was mit der Wirkung von Betrug auf die öffentliche Meinung zu tun hat. Es wird Ihnen noch nicht einmal etwas nützen, wenn Sie die Carabinieri komplett in einen Puff einladen!«

Steele kannte ein japanisches Sprichwort, das lautete: Wenn du Schlangen jagen willst, musst du aufs Gras schlagen. Jetzt hatte Steele aufs Gras geschlagen. Die Methode entbehrte jeder geistigen Raffinesse, aber sie war die effektivste, wenn es darum ging, an Pinazzi heranzukommen. Dass Steele dabei sein Leben riskierte, spielte in seinen Überlegungen nicht einmal eine auch nur untergeordnete Rolle.

 

In den verbleibenden Stunden hatte Steele genügend zu tun. Er musste telefonieren und Briefe verschicken und einen Koffer von der Hotelrezeption abholen, den Nicoletta oder ihr Mann dorthin gebracht hatte. Der Koffer hatte fertig gepackt und verschlossen in Steeles Wohnung gestanden, sodass nur Steele selbst über den Inhalt Bescheid wusste. Und nur er hatte den Schlüssel und kannte den Zahlencode. Nach dem Öffnen des Koffers besaß Steele eine Pistole, einen Scanner und ein weiteres Gerät. Letzteres ermöglichte es ihm, Funktelefone – sofern sie eingeschaltet waren – als Abhörgeräte zu nutzen. Leider war die Reichweite sehr beschränkt, sodass Steele wenig Hoffnung auf diese Geheimdienstspielerei setzte.

Der Scanner allerdings zahlte sich aus, denn als Steele sich der Elektrofirma näherte – er tat das offen und möglichst gut sichtbar – konnte er nicht nur Liebesgesäusel zwischen einer Alice und einem Mario vernehmen, sondern auch eindeutig die Stimme des Büromenschen, die Da kommt er sagte.

Steele beschleunigte seine Schritte und wechselte die Straßenseite. Sie hatten ihn im Eingang, der über einen langen Flur in eine Werkhalle führte, erwartet.

Mit einem ironischen Ingrimm stellte Steele fest, dass sie ihn tatsächlich nicht ernst nahmen.

Sie hielten ihn für einen typischen Vertreter der Heißluft-Journaille, dem man nur kurz eins aufs Maul zu hauen brauchte, um ihn zu beeindrucken.

Es waren zwar drei Leute, die ihn beeindrucken sollten – aber was für welche! Alle drei knapp über zwanzig, mit gegeltem Haar, Sonnenbrille und teuren Anzügen, deren Stoff im Sonnenlicht metallisch glänzte und Steele an den Hinterleib von Mistkäfern erinnerte. Auch ihre Gesichter bekamen durch die Sonnenbrillen etwas Insektenhaftes. Selbstsichere Angeber, die ihre Arroganz wie eine Panzerweste trugen – clever, gierig, hinterhältig und verschlagen.

Kleinaktionäre des Verbrechens, auf dem Sprung zur nächsten Stufe der Karriereleiter.

 

Steele beschleunigte und achtete darauf, immer Menschen um sich zu haben. Die drei jungen Männer zogen auf seine Straßenseite hinüber und verfielen in einen schnelleren Schritt. Um nicht allzu auffällig nach hinten zu blicken, nutzte Steele spiegelnde Autofenster und die Schaufenster der Geschäfte, um seine Verfolger zu kontrollieren. Die drei Kerle machten sich nicht einmal die Mühe, ihre Absichten zu verschleiern. Ihre Beine hämmerten einen schnellen Takt auf den Gehsteig, manchmal schalteten sie einige Laufschritte ein. Sie kamen immer näher, gingen dabei nebeneinander und rempelten andere Passanten zur Seite.

Im augenblickskurzen Vorüberhuschen auf einer Autoheckscheibe hatte diese Szene etwas von dem Western-Klischee der Cowboys, die die Main-Street entlang kommen. Für Steele war klar, dass diese Typen hinter ihm sich schon mit acht Jahren heimlich in die Kinos geschlichen hatten, um sich billige Italowestern anzusehen. Und nun waren sie von diesen Bildern durchdrungen wie ein nasses Hemd und merkten selbst nicht mehr, dass sie wie Marionetten an den Fäden dieser Jugenderinnerungen, erkauft mit ein paar irgendwo geklauten Lire, hingen.

Was wollten sie mit ihm tun? Ihn am Kragen packen und ein kerniges Kümmere dich nicht um Dinge, die dich nicht angehen sagen. Nein, dafür war dieser Auftritt schon eine Nummer zu groß. Sie waren gewohnt zuzuschlagen, und vielleicht würden sie ihm auch das Gesicht ein wenig zerschneiden. Sie waren jung, stark und durchtrainiert, sie waren zu dritt und sie fühlten sich unbesiegbar und unsterblich. Wenn dieser hagere Mann, der immer schneller vor ihnen weglief, angehalten hätte und ihnen gesagt hätte: Bleibt stehen, sonst werdet ihr in wenigen Minuten tot sein’, dann hätten sie ihn ausgelacht. Sie warteten nur noch auf eine günstige Gelegenheit, um ihn in die Mitte zu nehmen. Man konnte seine Nervosität spüren.

Da, jetzt blickte er sich über die Schulter um, wirkte gehetzt, jetzt erkannte er erst, was Sache war, dieser blinde Penner, und nun rannte er los. Sollte er rennen, es war höchstens lästig, wenn die teuren Seidenhemden durchgeschwitzt würden.

Die Angelegenheit bekam in dem Moment, in dem Steele sich umblickte und zu erkennen gab, dass er die Verfolger sah, einen geradezu mechanischen Charakter. Ein Ineinandergreifen von Aktionen und Reaktionen, notwendig, logisch und unvermeidlich wie der Bauplan eines Uhrwerks. Steele warf sich nach vorne in einen Spurt. Er brauchte einen kleinen Vorsprung. Sein Instinkt hatte ihn nicht getrogen.

 

Die Straße machte einen leichten Bogen. Wegen des schmalen Bürgersteigs und der parkenden Autos, die jede Sicht nahmen, verschwand Steele für einen kurzen Moment aus dem Blick seiner Verfolger. Als sie das bemerkten, ihrerseits beschleunigten und die Biegung hinter sich ließen, war Steele verschwunden. Verwirrt schauten sich die drei an. Ihre Selbstsicherheit platzte wie eine Seifenblase und ließ Hektik zurück. Dieser Typ durfte nicht verschwinden, er durfte nicht. Wie sollte man das dem Boss beibiegen? Man wäre unten durch. Sie fingen sich wieder. Sie teilten sich auf, der eine wechselte die Straßenseite, der andere lief mitten auf der Straße. Derjenige, der auf dem Gehsteig geblieben war, entdeckte die Einfahrt und steckte seine Finger zu einem schrillen Pfiff in den Mund.

Eine Betonrampe führte abwärts in die unterirdische Garage des Hauses. Der eine Mann winkte, vielleicht einen Hauch zu hektisch, um weniger cool als tuntenhaft zu wirken. Dann gingen sie gemeinsam die gewundene Rampe hinunter. Was sie unten erwartete, war wenig überraschend. Ein weites Parkdeck, unterbrochen von einigen Betonsäulen. Neonröhren warfen ihr kaltes Licht auf die wenigen geparkten Wagen und die gelben Linien der Stellplatzmarkierungen.

Gegenüber der Einfahrt war eine Lifttür. Die drei Männer überquerten das Parkdeck in Richtung auf diese Tür. Sie waren sich ihrer Sache sicher und hatten ihre Lässigkeit wiedergefunden.

Sie waren an der dritten Säule vorbei, als sie hinter sich ein Geräusch hörten. Es war ein leises Geräusch, das an sich nichts Bedrohliches hatte. Dennoch fuhren sie auf dem Absatz herum.

Steele ließ sich den Vorteil der Überraschung nicht nehmen und sprang den Mittleren an. Getroffen von einem Fußtritt in den Magenbereich klappte der zusammen und trippelte schrill schreiend einige Schritte zurück, ehe er hinfiel. An diesem Punkt merkte Steele, dass er sich verrechnet hatte. Es waren Anfänger, aber er hatte sie unterschätzt. Sein Schuh hatte eine hart trainierte Bauchmuskulatur getroffen, sonst wäre angesichts der Wucht des Angriffs die Leiste geplatzt, und dieser Mann hätte sich nur noch auf dem Boden wälzen können. So keuchte er schmerzverkrümmt, aber er schaute zugleich hasserfüllt auf Steele und dieser Blick bedeutete: Warte noch einen Moment, du Rabenaas, dann komme ich wieder und mache dich kalt.

Also immer noch drei Gegner, und jetzt drei Gegner, die wussten, wie die Regeln lauteten.

Einer seiner Lehrer, ein Chinese, der von sich behauptete, ein Shaolin-Schüler zu sein, hatte Steele einen Merksatz eingeprägt: Überlege zehn Tage, ob er dein Feind ist. Ist er es, töte ihn in zehn Sekunden. Ist er es nicht, trinke Tee mit ihm.

 

Es waren vielleicht vier Sekunden vergangen, als Steele zu einer veränderten Taktik griff.

In solchen Momenten des Kampfes veränderte sich schlagartig seine Zeitwahrnehmung. Es war, als würde er sich in Normalgeschwindigkeit durch eine Welt bewegen, in der sich alles in Zeitlupe ereignete. Er bemerkte das reflexartige Zucken der rechten Hände in Richtung auf die Jackettinnenseite. Steele startete einen blitzschnellen Scheinangriff auf den einen Gegner und bemerkte das Zurückzucken der Hand. Steele drehte sich und trat die Antenne des nächsten Autos ab. Dann nahm er erneut Schwung zu einem Scheinangriff auf den anderen Gegner.

Dadurch gewann er Zeit, um die abgeknickte Antenne mit einem Ruck von den Drähten abzuziehen und sie wie eine Peitsche durch die Luft pfeifen zu lassen.

Steele hatte einen Faktor nicht berechnet, der ihn jetzt zur Eile trieb. Jedes Geräusch in diesem weiten, niedrigen Parkdeck vervielfältigte sich hallend und konnte auch auf die Straße dringen. Er knallte die Antenne durch das Gesicht des Nächststehenden. Ein breiter Blutstreifen platzte quer über Stirn, Augen und Wange auf. Das Geschrei des Mannes bildete das akustische Äquivalent zu der roten Farbe. Aber Steele konnte selbst unartikuliertes Gebrüll verstehen, und hier verstand er, dass für den Mann die Sache noch lange nicht beendet war.

 

Acht Sekunden – Steele unterlief den zuschlagenden Arm des dritten Mannes, warf sich gegen ihn, drängte ihn mit brutaler Wucht gegen die Säule und rammte ihm die Antenne in das rechte Auge. Die Sonnenbrille splitterte und bot einen kleinen Widerstand gegen Steeles wutentbrannte Kraft. Schreckgeweitetes Weiß schimmerte für den Bruchteil einer Sekunde aus dem zackigen Loch im dunklen Glas, dann verschwand die kleine Stahlröhre im Auge, zertrümmerte das Siebbein, drückte sich durch das Gehirn und prallte gegen die Schädelrückwand. Die Antenne vibrierte und gab ein leise summendes Geräusch von sich, eine weißlich-rote Masse tropfte auf die Wange des Mannes. Der stand einen Moment, dann kippte er nach vorne. Die Antenne knickte zu einem glänzenden Chromgewirr.

 

Zehn Sekunden. Steele sprang in den wütenden Angriff des Zweiten, der kreischend und trotz des Blutes, das ihm die Sicht nahm, auf ihn losfuhr. Irgendwie hatte er ein Messer in die Hand bekommen. Steele wandte die klassische Methode an. Er unterlief den Messerarm, trat dem Angreifer auf dieser Seite das Knie nach hinten durch und brach ihm den Arm. Als der Mann zu Boden ging, trat ihm Steele mit einigen verbissenen Bewegungen den Brustkorb über dem Herzen ein. Der Dritte wollte sich zur Flucht wenden, aber Steele ließ ihn keine drei Meter weit kommen. Er sprang ihm in den Rücken, hob ihn dann hoch und schmetterte ihn gegen die Säule. Dann brach er ihm beide Zeigefinger. Dieser Mann sollte keine Pistole mehr halten können.

Der Bursche stand unter Schock, seine Lippen zitterten und er starrte aus glasigen Augen, in denen sich kaum noch ein Rest von Verstehen fand. Steele kniete neben ihm.

»Das hier gibst du deinem Boss, Cretino. Und dann solltest du dir schnellstens über Handy einen Arzt holen. Sonst folgst du deinen beiden Kumpels.«

Der Gegenstand, den Steele dem Mann in die Hand gedrückt hatte, war ein Diktiergerät.

Der Text auf dem Band war simpel und leicht zu verstehen. Er lautete: Ich habe deine Mutter, die alte Hure, gef…, ich habe deine Frau, die läufige Hündin, gef…, und jetzt komme ich, um mir deinen Arsch zu nehmen, du dummes Stück Dreck.

 

In fliegender Hast durchsuchte Steele die Taschen seiner Opfer, dann rannte er die Rampe zur Straße hoch. Als er sich dem Ausgang näherte, verlangsamte er seinen Schritt. Kein Passant hätte geglaubt, dass der hagere Mann, der gesenkten Hauptes über den Gehsteig schritt, gerade eben einem Menschen den Brustkorb zertreten haben sollte.

Seine Gegner hatten versucht, ihn zu beeindrucken. Nun war es an Steele, seine Gegner zu beeindrucken. Er betrat die Elektrofirma, rammte mit einem Fußtritt die Tür zum Kontor ein und fand dahinter den ihm schon genügend bekannten Angestellten, der gerade telefoniert hatte und nun hinter seinem Tisch, den Hörer noch am Ohr, halb hochgefahren war.

Steele hielt sich nicht lange auf. Er packte das Telefonkabel, riss es mit einem Ruck aus der Buchse und wickelte es dem Mann um den Hals, bevor der überhaupt in der Lage war, diesen Vorgang zu verstehen. Wortlos betrachtete Steele das Gesicht des anderen, während er die Schlinge zuzog. Der Mann lief rot an, seine Adern schwollen, als wollten sie platzen, er begann zu röcheln und Zuckungen liefen über sein Gesicht.

Steele wartete, bis sich der matte Glanz der Ohnmacht über die weit aufgerissenen Augen schob, dann lockerte er die Schlinge. »Der Name.« Die Stimme Steeles war ruhig und hatte einen geschäftsmäßigen Klang.

»Ich weiß doch nicht …«, flüsterte der Mann.

Die Schlinge schloss sich wieder. Egal wer er oder sie waren, die Steele suchte – sie reagierten mit genügend Furcht, um bei ihren Kreaturen selbst die Todesangst zu überdecken.

Der Mann begann nun sich zu wehren.

Steeles erste Attacke hatte ihn anscheinend derart überrumpelt, dass er gar nicht an Gegenwehr gedacht hatte. Nun krallten sich seine Hände in Steeles Schultern und rissen an seinem Haar. Steele registrierte den Schmerz wie einen Brief, der nicht an ihn gerichtet war, sondern an einen Unbekannten, der zufällig denselben Namen trug. Er strangulierte den Mann und achtete darauf, ihm nicht die Kehle zu zertrümmern. Wer etwas erfahren will, der darf sein Opfer nicht daran hindern, überhaupt noch zu sprechen. Nur Pfuscher taten so etwas.

Steele betrachtete sich als Profi. Er hatte die Schlinge geschickt angesetzt, und nun betrachtete er den eingeschnürten Hals, der an das verdrehte Oberteil einer Brötchentüte erinnerte.

Die Hände des Mannes wurden schlaff und sackten herab. Wieder, als hätte ein Mensch auf eine Glasscheibe gehaucht, überzog der Schein der beginnenden Ohnmacht seine Augen.

»Zum letzten Mal, der Name.«

Der Mann sog mit einem lang anhaltenden heiseren Röcheln die Luft ein.

»Cottentini«, hauchte er. »Lorenzo – Cottentini.«

Als Steele die Schlinge losließ, taumelte der Mann nach hinten, kam auf dem Stuhl für einen Moment zum Sitzen und schlug dann nach hinten um. Er schnappte mit offenem Mund nach Luft, seine Arme vollführten unkoordinierte Bewegungen. Steele umrundete mit einem ungeduldigen Seufzer, als müsste er einem ungeschickten Kind helfen, den Tisch, zog den Mann mit der einen Hand hoch und lockerte mit der anderen die Schlinge an dessen Hals.

Dann ließ er ihn fallen. Der Kerl bekam jetzt zumindest soviel Luft, dass er ansatzweise schreien konnte. Die leisen Geräusche steigerten sich zu einem tierischen Kreischen, als Steele mit ruhigen Schritten das Gebäude verließ.

 

Er steuerte zielsicher einen silberfarbenen, tiefergelegten Lancia an. Wenn er sich getäuscht hätte, dann wäre Jeremy Steele in einer plötzlichen Identitätskrise gewesen. Sie wurden ihm erspart. Dieses protzige und enorm starke Gefährt war tatsächlich das Richtige.

Er öffnete die Wagentür mit dem Schlüssel, den er einem der Männer aus der Garage abgenommen hatte, und startete den Motor. Die Maschine kam mit einem tief brabbelnden Geräusch, das auf eine spezielle Auspuffanlage hindeutete. Im Leerlauf war das typische Auf und Ab der Drehzahl zu bemerken, ein Sägen, das einem Kenner wie Steele eine sorgsam bearbeitete Kurbelwelle verriet. Die Gedankenverbindung zu der Werkstatt, die den Wagen der Donzano verändert hatte, lag zu nahe, um sie zu verdrängen. Steele legte den Gang ein und fuhr, überrascht durch eine grausam zupackende Kupplung, mit lautem Quietschen und leichter Rauchentwicklung an den Rädern los.

Er brauchte eine Zeit, um zu überlegen. Wenn ihm der Mann den richtigen Namen genannt hatte, und Steele war sich fast sicher, dass jemand, der so nahe an der Schwelle des Todes steht, nicht mehr die Fantasie für eine Lüge aufbringen kann, dann musste er diesem Lorenzo Cottentini etwas Zeit geben. Zeit, um zu erfahren, was geschehen war, um die Botschaft zu bekommen, um Angst zu entwickeln. Natürlich gab es eine Reihe von Unwägbarkeiten, die damit anfingen, dass Cottentini möglicherweise seit gestern mit Grippe in einem Landhaus in der Toskana liegen mochte. Aber Steele wollte nicht daran denken. Sein Bewusstsein füllte sich langsam mit einer Flut schwarzer, vibrierender Wut, die jeden Zweifel erstickte. Fast schien es, als würde Steele dieser in ihm wühlenden Kraft magische Fähigkeiten zuschreiben. Da war dieser Zorn, diese Wut, dieses Wollen. Was immer ihn antrieb, es zog sich wie die schleimig glänzende Spur einer Raubtier-Schnecke durch die Landschaft der nächsten Stunden, Tage und Wochen. Und Steele würde auf dieser Spur entlanggleiten.

 

Beim Blick in den Rückspiegel stutzte er. Dieser Wagen, zwei Positionen hinter ihm, war ihm schon um einige Ecken gefolgt. Es handelte sich um einen schweren BMW, besetzt von einer Person. Das konnte Zufall sein. Oder auch nicht. Steele wich zur Straßenmitte aus, pendelte zurück auf seine Spur, wenn Gegenverkehr kam, und nutzte dann die nächste Lücke. Mit aufheulendem Motor und Reifen, die eine deutliche Gummispur hinterließen, brach er aus der Kolonne aus und fegte auf der Gegenfahrbahn entlang. Mit einem heftigen Knall splitterte der linke Außenspiegel, als er an einer am Straßenrand abgestellten Mülltonne entlangschrammte und die Tonne samt Inhalt auf die Fahrbahn kippen ließ. Knapp vor der Kollision mit einem Bus scherte Steele ein und vermied mit quietschenden Bremsen eine Berührung mit dem neuen Vordermann. Ein heftiges Hupkonzert kommentierte seine Aktion, Lenkräder lagen verwaist und einsam, während die Hände der Fahrer aufgeregte Pantomimen vollführten, die an Eindeutigkeit nichts zu wünschen übrig ließ. Der zerstörte Außenspiegel fehlte Steele, um die Wagen hinter ihm zu beobachten. Aber es dauerte nicht lange, da tauchte der BMW wieder auf. Sein Überholmanöver war etwas leiser und eleganter vonstattengegangen. An der nächsten Abbiegespur riss Steele seinen Wagen im Neunziggradwinkel herum und raste im letzten Moment, nachdem er so lange wie möglich auf der Geradeausspur geblieben war, in die Querstraße. Mit lautem Hupen scheuchte er Fußgänger, die gerade den Überweg nutzen wollten, zur Seite, beschleunigte, um dann in sicherer Entfernung auf dem Gehweg zu parken.

Ein Lieferwagen verdeckte ihn zur Straße hin. Keine Minute später glitt der BMW in betont langsamer Fahrt vorbei. Falls der Fahrer nicht im genau rechten Moment in den Rückspiegel geschaut haben sollte, war Steele den Verfolger los. Er wartete kurz, eigentlich zu kurz, aber die Unruhe hatte Steele gepackt und nun ließ er den Motor wieder an. Er drehte und fuhr zurück zur Einmündung in die Hauptstraße.

 

Knappe fünf Minuten später füllte der BMW erneut den Rückspiegel von Steeles Wagen. Der fuhr die Seitenscheibe herunter und legte betont lässig den Arm aus dem Fenster. Solange er in Bewegung blieb, konnte ihm nicht viel passieren. Interessanter war die Frage, wer dort an seiner Stoßstange klebte, und zwar so dicht und offensichtlich, dass man es nur als eine moderne Version des Hinwerfens eines Fehdehandschuhs verstehen konnte.

Hypothese eins: Polizei. Unwahrscheinlich, weil nur ein Mann im Wagen saß.

Hypothese zwei: Der Typ gehörte zur gleichen Firma wie die drei Hübschen, denen Steele Kontakt zur grausamen Wirklichkeit der Männerwelt verschafft hatte. Dann hatte irgendein Offizier der Organisation seinen Jungs doch nicht so recht über den Weg getraut und ein Kindermädchen geschickt, das die Aktion beobachten sollte.

Hypothese drei: Der Verfolger gehörte zur Konkurrenz und hatte Steeles Wagen einen Signalgeber angeheftet, womit auch seine überraschende Wiederaufnahme der Verfolgung erklärt wäre.

Fakt eins: Steele waren alle diese Überlegungen egal. Allerdings neigte er instinktiv zur Hypothese zwei, und das bedeutete, dass die Sache, hinter der Steele her war, mithin das Verschwinden Pinazzis, ziemlich hoch gehandelt wurde, obwohl man sich bemühte, genau diesen Eindruck zu vermeiden.

 

In der nächsten Stunde spielte Steele mit seinem Verfolger Katz und Maus. Er trödelte über die Straße, schien mit rechts gesetzten Blinker nach einem Parkplatz zu suchen, beschleunigte dann wieder, dass die Motorhaube hochstieg, als würde er von einem Flugzeugträger starten, um dann kurz darauf eine Vollbremsung zu machen, um ein Mütterchen über die Straße zu lassen. Im Rückspiegel beobachtete er, wie der Mund des Fahrers auf und zu ging. Vielleicht fluchte er nur. Vielleicht unterhielt er sich über eine Freisprechanlage. Er blieb stur hinter Steele, vergrößerte den Abstand ein wenig, nachdem

Steele seine Vollbremsungen durchgezogen hatte, aber machte keinerlei Anstalten, sein Zielobjekt allein zu lassen. Inzwischen war das Schicksal der drei Männer wohl schon bis zu den höheren Chargen durchgedrungen. Es war also an der Zeit, etwas zu tun.

Steele suchte sich eine stille Straße zwischen den Garagenhöfen eines Wohnblocks und der Mauer eines Gewerbegebietes aus. Er beschleunigte kurz, um zwischen sich und den Verfolger etwas mehr Abstand zu legen, dann beugte er sich zur Wagenmitte und riss mit der einen Hand die Handbremse hoch und mit der anderen warf er den Rückwärtsgang ein.

Der Wagen schlitterte nur einige Meter, die Reifen drehten quietschend durch und wirbelten stinkenden Gummiqualm auf. Dann setzte der Wagen ruckartig zurück. Steele drückte sich in den Sitz, den Kopf an die Stütze gepresst und drückte das Gaspedal auf das Bodenblech. Der

Rückspiegel zeigte das Bild eines Mannes, der hektisch versuchte, das Lenkrad seiner schweren Limousine zur Seite zu werfen, aber es war zu spät. Steeles Lancia erwischte den BMW frontal und schob seinen Kofferraum halb in die Motorhaube dieses Wagens und kam exakt bei der fünften Reihe des Zwölfzylinderblocks zur Ruhe.

In der nächsten Sekunde war Steele aus dem Wagen und riss die Tür des BMW auf. Der Airbag hatte gezündet und füllte den Raum vor dem Fahrersitz mit einem weißen Polster, das auf unpassende Weise putzig wirkte.

Steele griff dem Fahrer – der war nicht angeschnallt, was Steele vorher schon bemerkt hatte – in die Haare und zog in halb aus dem Wagen. In seiner Hand blieb ein Gefühl von glitschigem Gel, das ihn wütend machte. Dann bemerkte er die charakteristische Handbewegung zur Jacke hin, die der Mann instinktiv, trotz seines halb betäubten Zustandes schnell und zielsicher durchführte. Steele ließ den Kopf des Mannes los, sprang zurück und warf die Wagentür mit aller Wucht zu. Der Türgriff schlug gegen die Stirn des Mannes und stauchte sein Genick.

Dann schlug Steele die Scheibe ein, hämmerte wütend mit dem Ellbogen die störenden Reste fort und griff mit beiden Händen nach dem Mann. Er erwischte ihn an den Ohren, wuchtete ihn daran hoch und schmetterte die Stirn auf die Kante der Autotür, wo eben noch das Glas gewesen war. Unter Steeles Füßen knirschten die vieleckigen Brösel des Sicherheitsglases. Er hielt den Kopf wieder hoch und schaute in das blutüberströmte Gesicht, wie ein Notfallchirurg, der die nächste notwendige Maßnahme bedenkt.

»Wer hat dich geschickt?«

Der Mann war vielleicht Mitte dreißig, untersetzt, mit den dunklen Augen des Süditalieners. Die instinktive Sicherheit, mit der er nach seiner Waffe gegriffen hatte, machte Steele wider alle Zweifel klar, dass er einen Profi vor sich hatte. Einen, dessen Werkzeug die Pistole ist. Einer, der weder Mitleid hat noch welches verdient. In diesem Moment, mit einer heftig blutenden Platzwunde an der Stirn und halb ohnmächtig von dem Aufprall, wirkte er wie eine Maus vor dem Gebiss einer Katze, die mit ihrem Opfer noch ein wenig zu spielen beliebt.

Seine aufgeplatzten Lippen bewegten sich stumm, dann flüsterte er einen Namen. »Cottentini …«

 

Steele ließ den Kopf fallen und ging zu seinem Wagen zurück. Mit ohrenbetäubendem Kreischen trennte sich der Lancia von dem anderen Wagen. Die Auspuffanlage war zerstört und röhrte wie ein ganzes Panzerbataillon, der Kofferraumdeckel wippte schief hängend auf und ab und schepperte an der nächsten Kurve über die Straße, um in ein parkendes Auto zu krachen. Dann wurden die Hinterreifen von spitzen Blechtrümmern aufgeschlitzt und platzten kurz hintereinander. Steele gab Vollgas und steuerte den schlingernden Wagen weiter. Ein Funkenregen von der beschädigten Hinterachse sprühte über das Pflaster. Ohne den Wagen anzuhalten, warf sich Steele aus der Tür und setzte über eine Mauer. Die an der Mauerkrone befestigten Glassplitter konnten seinen schwieligen Händen wenig anhaben. Schon eher der Wachhund, der zwischen Erschrecken und Aggression auf ihn zustürmte. Steele wartete, bis der Hund zum Sprung ansetzte, und trieb ihm dann mit einem Faustschlag das Nasenbein ins Gehirn. Das letzte Jaulen des Köters ging in dem Krachen unter, als die weißglühende beschädigte Hinterachse des Lancia den Tank zur Explosion brachte. Hinter einer Mauerecke konnte Steele die Arbeiter in ihren Blaumännern aus der Werkstatt rennen sehen. Er nutzte die Verwirrung, um das Gelände zu überqueren und über die Mauer der anderen Seite zu klettern.

Dort befand er sich auf einem Brachfeld. Er rannte die Mauer entlang und ärgerte sich gleichzeitig, dass er den Mann in dem BMW am Leben gelassen hatte. Rosarote Sentimentalitäten waren nichts, was Steele sich in dieser Phase leisten konnte.

 

Das Messingschild am Eingang des gepflegten Altbaues im Stil der Neorenaissance hielt geschickt die Waage zwischen Pomp und vornehmer Zurückhaltung. Cottentini und Partner stand dort in einer sympathischen, klaren Schrift. Der bärtige Mann in dem schwarzen Anzug und dem Priesterkragen, mit deutlichem Hüftspeck ausgestattet und auf einen Stock gestützt, der gerade das Gebäude betrat, hatte keine Ähnlichkeit mit dem Jeremy Steele, der vor wenigen Stunden über ein Feld gehetzt war, während hinter ihm eine Säule von schwarzem Rauch aus einem brennenden Wagen aufstieg und Rufe und Schreie wie aufgeschreckte Vögel über dem Gelände geflattert waren.

Die Verkleidung war angesichts des Aufruhrs, den Steele verursacht hatte, notwendig geworden. Zwar fürchtete er nicht, dass ihn jemand erkennen würde, aber er brauchte die absolute Sicherheit. Die Maskerade als Priester hatte für Steele durchaus symbolische Bedeutung. Er kam, um Cottentini die Letzte Ölung zu geben.

Mühsam tappte der Priester die breite gewundene Treppe hoch. Zwei Mädchen, die Hand in Hand die Treppe herab hüpften, schauten ihn erstaunt und verschüchtert an. Die eine grüßte den Diener des Herrn höflich und deutete dann auf den Aufzug.

Der Priester lächelte milde und freundlich und erklärte, dass er immer schon Angst vor Aufzügen gehabt habe. Er machte eine neckische Handbewegung, die andeutete, dass er mit seinem Bauch vermutlich wenig Platz in den engen Kabinen fände. Mit einer segnenden Geste verabschiedete er sich von den beiden Mädchen, die ihren gemeinsamen hüpfenden Abstieg wieder aufnahmen. Ihre Stimmen verklangen, die Tür fiel zu, und die tiefe Stille eines Treppenhauses, kurz bevor der Nachmittag in den frühen Abend übergeht, schwoll an.

Steele begutachtete im Hochsteigen die Wohnungstüren, registrierte Hundegebell, Stimmen, Fernsehgeräusche und abgestellte Sportschuhe. Das Büro der Firma Cottentini lag in der Art eines Penthouse auf dem Dach. Man betrat von der Treppe her einen verglasten Durchgang, der einen atemberaubenden Blick auf die Stadt gestattete, und kam in den Vorraum. Der Teppich schluckte die Schritte und das Tappen des Stocks. Palmen und Birkenfeigen in großen Terracotta-Töpfen gaben dem Durchgang den freundlichen Charakter eines Wintergartens.

 

Im Vorraum wurde Steele von einer jungen Sekretärin erwartet. Sie hatte ihn auf ihrem Monitor gesehen, und er hatte die versteckte Kamera bemerkt. Die Sekretärin mochte knapp an die Zwanzig sein. Sie sah hinreißend aus, war aber andererseits mit ihrem langen schwarzen Haar und den ebenso schwarzen Augen ein allzu dunkler Typ, um in dieser Gegend Italiens den Gipfel weiblicher Schönheit zu erklimmen.

Steele fragte sich, wie viel sie von den Geschäften ihres Chefs wusste. Als sie ihn anlächelte und fragte, ob er einen Termin bei Herrn Cottentini habe, wünschte Steele, dass sie keine Ahnung von diesen Dingen haben möge. Sie bat ihn um einen Moment Geduld, ging um ihn herum und klopfte an eine hohe Doppeltür, die in das Chefbüro führte. Vermutlich hätte sie ebenso gut hinter dem Schreibtisch bleiben und die Sprechanlage nutzen können, aber dann hätte der Priester keine Möglichkeit gehabt, sie in ihrem blauen Kostüm, dessen Rock an den Seiten bis zur Hüfthöhe geschlitzt war, zu bewundern. Sie steckte etwas theatralisch den Kopf in die Tür, lehnte sich dabei gegen den Rahmen und hob den linken Unterschenkel. Ein ausnehmend hübscher Unterschenkel wie Steele festgestellt hätte, wenn er nicht blitzschnell einen Blick auf die Papiere, die auf dem Schreibtisch lagen, geworfen hätte.

»In der Angelegenheit Pinazzi«, antwortete Steele auf die Frage nach dem Anlass seines Erscheinens.

Den Papieren nach zu urteilen wurde hier wirklich ernsthaft gearbeitet. Export von Keramikartikeln in die Schweiz, soweit Steele es auf die Schnelle einschätzen konnte.

»Herr Cottentini lässt Sie bitten, Padre!« Das Mädchen hatte ein wenig schiefe Zähne, aber das machte ihr Lächeln nur umso sympathischer. Sie deutete einladend mit der Hand auf die Tür. Der Name Pinazzi hatte ihr nichts gesagt. Oder sie war kälter als ein Eisberg.

 

Vier Männer erwarteten Steele in dem riesigen Büro, und damit stand das Kräfteverhältnis eindeutig zu Steeles Gunsten. Die Sekretärin schloss lautlos die Tür.

Auf den ersten Blick war die Rollenverteilung der vier Männer zu erkennen. Drei waren jung, hochgewachsen. Trotz ihrer legeren Anzüge war eindeutig erkennbar, dass sie auch in der Badehose eine gute Figur abgegeben hätten. Sie waren die Leibwächter, die Soldaten oder Offiziere des vierten Mannes. Lorenzo Cottentini wirkte wie der Hauptdarsteller einer kitschigen Fernsehserie um einen überaus gütigen, fachlich begnadeten und geradezu göttlich sensiblen Chefarzt in einer überaus teuren Privatklinik neben einem überirdisch blauen See. Er hatte volles weißes Haar, buschige Brauen über sanften braunen Augen und einen vollen Mund. Die Nase passte nicht in das Gesicht, sie war zu groß und zu schnabelartig gebogen und erinnerte zu sehr an die Profile skrupelloser Fürsten der Renaissance. Cottentini strahlte eine natürliche Würde aus, so als werfe die gepflegte Umgebung ihren Glanz auf den Besitzer zurück.

Als Steele das Büro betrat, fand eine Aktion statt, die mit der Eröffnung eines Schachspieles vergleichbar war. Figuren wurden vorgeschoben, und andere Figuren antworteten den Zügen des Gegners. Das Ganze fand unter der stillschweigenden Maßgabe statt, dass jeder wusste, worum es ging, aber vorgab es weder zu wissen, noch zu glauben, dass der jeweils andere es wusste. Am Ende dieses stummen Spielchens stand Steele vor dem Schreibtisch, Cottentini platzierte sich breitbeinig vor ihn, und die Leibwächtern nahmen Steele in die Mitte.

»In der Angelegenheit Pinazzi, Monsignore?«, sagte Cottentini. Seine Stimme passte eher zu der Nase als zu den sympathisch seriösen Partien seines Gesichtes. Es war ein heiseres Flüstern, als wäre der Mann stark erkältet. Im selben Moment, als Steele dieser Gedanke durch den Kopf fuhr, bemerkte er das Schniefen, das seine Bewacher links und rechts in regelmäßigen Abständen hören ließen. Es mochte Schnupfen sein, aber es klang eigentlich eher nach Nasenscheidewänden, die durch heftigen Kokaingebrauch in Mitleidenschaft gezogen worden waren. Wenn die Männer zu seiner Seite Kokser waren, musste Steele diesen Fakt in seine Berechnungen einbeziehen.

»In der Tat, in der Angelegenheit Pinazzi. Da sich einige Ihrer Angestellten nicht so besonders kooperativ zeigten, sah ich mich gezwungen, Sie selbst zu belästigen.«

Cottentini zuckte bei diesen Worten zusammen. Das Schniefen links und rechts von Steele wurde häufiger.

 

Cottentini ging zu einem kleinen Tischchen, öffnete eine Kiste mit Zigarren, entnahm eine der duftenden Diplomaticos von Montecristo, entfernte die Binde und entzündete sie schließlich sorgfältig und mit einstudierter Könnerschaft. Ein anderer hätte diese Aktion als Beispiel größter Gelassenheit und Selbstsicherheit interpretiert. Für Steele steckte darin das Eingeständnis von überraschter Hilflosigkeit, die mithilfe eines tausendfach durchgeführten Rituals bezwungen werden sollte. Dieser Cottentini war nicht einmal ein wahrer Genießer, sonst hätte er seine teuren Rauchwaren nicht bei einer derart unpassenden Gelegenheit verschwendet.

Cottentini sog den frischen Rauch ein, paffte in Richtung der Fensterwand an der einen Seite des Raumes, und wandte sich dann mit einer plötzlichen Drehung, als sei ein mechanischer Sicherungsstift gebrochen, zu Steele. Die heisere Stimme schwoll vom Flüstern zu einem wütenden Gebell.

»Meine Angestellten waren nicht besonders kooperativ, was? Falsch, sie waren äußerst eifrig. Sie haben mir das hier gebracht!«

Cottentini griff in die Jackentasche und holte einen Gegenstand heraus. Unbeherrscht schleuderte er ihn vor Steeles Füße. Die Wucht war so groß, dass selbst der moosweiche Teppich das Zerspringen des Diktiergerätes nicht verhindern konnte.

»Oh das?« Steele setzte wieder sein mildes Priesterlächeln auf. »Das sollten Sie nicht so ernst nehmen. Natürlich würde ich mich davor ekeln, dem stinkenden Hintern Ihrer Mutter auch nur auf zehn Meter nahe zu kommen.«

Wie ein Stier brüllend, beide Hände in Würgeposition kam Cottentini auf seinen Besucher zu. Ein Blick aus Steeles kalten blauen Augen hatte die Wirkung eines Rammbocks auf ihn.

Er blieb stehen, die Zähne noch gefletscht und fuchtelte mit den Händen in der Luft, bis er sie mit einer ungeduldigen Bewegung förmlich wegwarf, als seinen es unbrauchbare Schraubendreher. Dann wurde er plötzlich wieder völlig ruhig. Steif wie ein Offizier der alten Schule tigerte er vor Steele hin und her.

»Sie haben drei meiner Männer getötet und einen Vierten zum lallenden Notaufnahmepatienten gemacht …« Cottentini zitterte vor Empörung. Sein Zeigefinger war in der Uncle Sam wants you-Geste auf Steeles Stirn gerichtet. »… und jetzt kommt dieses Stück Dreck in mein Büro, stellt sich auf meinen Teppich und wird noch frech.« Die Empörung schraubte Cottentinis Stimmorgan in höchste Höhen, wo es klirrte wie sehr dünnes Glas.

»Nun, ich dachte mir, Sie möchten nicht noch mehr Männer verlieren.«

Die Frechheit Steeles machte Cottentini hilflos. Er riss den Mund auf und starrte auf den Besucher, während seine zahlreichen Goldzähne aus dem dunklen Rachen funkelten wie ein sagenhafter Schatz, den der eifersüchtige Zungendrache hütet.

»Noch mehr Männer verliere …?«

»Ja, Sie sagen mir, wo ich Ido Pinazzi finde und ich verzeihe Ihnen, dass Ihre Leute mich belästigt haben. Das ist ein anständiges Geschäft.«

Cottentini hob die Hände zum Himmel und entschied sich dann für ein dümmliches, aufgesetztes

Bühnengelächter. Wenn seine Lache eine Farbe gehabt hätte, wäre es das künstliche Farbstoffrosa übersüßter Erdbeeren gewesen.

»Sie werden verlieren. Du wirst verlieren. Ich werde dir deinen verdammten Sack in dein verdammtes Maul stopfen, hörst du, du völlig bescheuerter Schwachkopf.«

»Ich fürchte, dazu werden Sie meine Erlaubnis benötigen, Herr Cottentini, und die werde ich Ihnen, aller Erfahrung nach, nicht geben.«

»Wir sind zu viert, du Großmaul oder kannst du nicht zählen.«

»Ihr seid zu viert, sicher das. Aber ich werde nun mal nicht warten, bis Verstärkung für Sie eintrifft.«

 

In seiner Wut verpasste Cottentini die Chance, Steeles seltene Anflüge von Ironie zu genießen. Er brüllte nur noch herum, schmiss seine Zigarre auf den Boden und trampelte darauf herum. Die Männer beiderseits von Steele griffen nach seinen Armen. Es war an der Zeit, etwas zu tun. Zwei Männer standen auf Steeles linker Seite. Rechts stand der dritte, weiter rechts war leerer Raum, angefüllt mit den presslufthammermäßigen Vibrationen von Cottentinis Wut, die über dem Teppich waberten. Dann kam die Fensterwand, dann kam ein halber Meter Dachfläche, dann die Regenrinne – und darunter dann die Straßenschlucht.

Er hatte sich die Aktion schon vorher zurechtgelegt, und weil Steele in langjähriger Übung gelernt hatte, seine körperlichen Aktionen perfekt auf die Linie seiner gedanklichen Vorbereitung zu bringen, ging alles in Sekundenschnelle. Steele fuhr nach rechts herum.

Bevor auch nur eine Abwehrbewegung möglich war, griff Steeles linke Hand wie eine Kneifzange in den Schritt des Mannes und die rechte drückte kräftig seinen Hals zusammen.

Es gab kein Geräusch, keinen Schrei, nur ein quiekendes Röcheln. Steele warf sich mit seinem gesamten Gewicht gegen den Mann und trieb ihn quer über den Teppich, bis er gegen das Fenster krachte. Der Aufprall ließ die große Scheibe klirrend und scheppernd zerspringen.

Splitter fielen wie Dolche oder Eiszapfen in den Raum. Es war kein Panzerglas. Steele hatte also richtig vermutet. Die Option war zwar auf seiner Rechnung, aber als er die in der Wolle gefärbte Arroganz Cottentinis bemerkt hatte, war Steele sicher, dass dieser Panzerglas für unnötig hielt. Steele trat drei Schritte zurück, hob den strampelnden Mann hoch und wuchtete sich mit einem Kampfschrei wieder nach vorne zum Fenster. Der Mann krachte an den verbliebenen Glasstücken vorbei, drehte sich einen Herzschlag lang im leeren Raum und taumelte dann mit einem Aufschrei in die Tiefe. Steele wirbelte herum, sprang auf den Schreibtisch und holte mit dem Bein aus. Wieder einmal schien es, als sei er eine Trickfigur, die in eine Zeitlupensequenz einkopiert worden war. Die Schuhspitze Steeles traf die Kehle des zweiten Leibwächters, zertrümmerte dessen Adamsapfel und warf ihn zugleich nach hinten. Steele sprang auf den Boden, bekam das Haar des dritten Gegners zu fassen, stützte sich einen Augenblick auf dessen Genick ab, und als er spürte, wie die Muskeln des anderen weich wurden und die Spannung des Körpers nachgab, hämmerte er die Stirn des Mannes auf die Schreibtischkante. Der Mann sackte zusammen, als wäre kein Fetzen Fleisch im Stoff des Anzugs. Der Kopf blieb im Schreibtisch stecken. Der durchtrainierte Jeremy Steele musste nicht einmal tief Luft holen.

»Inzwischen dürfte Ihr Mitarbeiter unten angekommen sein und die erste Aufmerksamkeit erregt haben. Genau in diesem Moment versuchen sie herauszufinden, von wo der Mann gestürzt ist. Das wird nur wenige Sekunden dauern. Dann macht sich die Gruppe auf den Weg, läuft das Treppenhaus hoch – sagen wir drei Minuten maximal, bis sie hier sind. Da ich nicht so lange warten kann, bleiben uns etwa zwei Minuten zum Gespräch, von denen ich wiederum soeben dreißig Sekunden verplaudert habe.«

 

Während Steele redete, beugte er sich zu dem Mann nieder, der sich röchelnd am Boden wälzte. Er betrachtete mitleidlos das Gesicht des Sterbenden, auf dessen Lippen kleine Speichelbläschen platzten, klopfte das Jackett ab und holte eine Pistole heraus. Es war ein 5-Millimeter-Kaliber, etwas, das Steele für Weiberkram hielt, aber es sollte reichen. Er richtete die Waffe auf Cottentini.

»Eine Minute …«

»Ich weiß nicht … nicht meine Idee, da gab es einen Auftraggeber von außerhalb und …« Cottentini wedelte abwehrend mit den Händen, als müsste er einen Schnellzug zum Halten bewegen.

»Vierzig Sekunden.«

»Nein, nein, nicht … die Donzano …«

Cottentini hätte tatsächlich die Chance gehabt zu überleben. Aber er schwafelte und versuchte Zeit zu schinden und trug in der Rolle des Verzweifelten allzu dick auf.

Steele schoss das Magazin bis auf eine Patrone leer. Es waren HTP-Geschosse geladen, und daher existierten Cottentinis sterbliche Überreste, als sie auf dem Teppich aufschlugen, nur noch bis zur Höhe des Krawattenknotens, weil sich der Rest in mehr oder weniger atomisierter Form als rötlich-graue Schleimschicht an Wand und Boden befand. Während Steele mit der letzten Patrone dem röchelnden Mann den Gnadenschuss gab (obwohl Steele das Wort Gnade in diesem Zusammenhang unpassend gefunden hätte, lief wie eine von außerhalb einlaufende Funkmeldung ein Gedanke durch seinen Kopf. Konnten die Neuronen, die vor Sekunden aus der heimeligen Studierstube von Cottentinis Schädelgehäuse gegen die wertvolle Ledertapete geschleudert worden waren, noch arbeiten? Gab es einige Momente, in denen die Gedankenverbindungen dieser Zellen noch funktionierten und Cottentini weiterdachte oder sich erinnerte – an seine Geschäfte, die Triumphe, besser und skrupelloser zu sein als all die anderen, diese Schlappschwänze, an die Frauen, die er durch seine Mischung von Sensibilität, Macht und Brutalität beeindruckt hatte – während das Spiel schon im dumpfen Aufprall eines leblosen menschengestaltigen Fleischstückes sein Ende gefunden hatte? Steele mochte nicht den besudelten Türknauf anfassen und rammte ein weiteres Mal per Tritt eine Tür auf.

 

Die Sekretärin war ohnmächtig geworden und lag, von ihrem Stuhl herabgerutscht, unter dem Schreibtisch. Steeles stieß ihr seinen Zeigefinger in den Plexus solaris. Sie gab nur ein unterdrücktes Stöhnen von sich, und ihre Augen rollten unter den geschlossenen Lidern. Sie war wirklich ohnmächtig. Das rettete ihr das Leben.

Aus dem unteren Bereich des Treppenhauses schlug Steele der Lärm vieler Stimmen entgegen.

Vorsichtig beugte er sich über das Geländer und sah die Schultern von mindestens sieben Personen, die eng aneinandergedrückt die Stufen heraufhasteten. Er sprang zur nächstgelegenen Tür und klingelte. Dr. Zola stand auf dem Namensschild. Schlurfende Schritte näherten sich über den Wohnungsflur, während die Stimmen und die Schritte im Treppenhaus schnell näher kamen. Sie waren schon in der unteren Etage, als sich die Tür endlich öffnete.

Mit einem verbindlichen Lächeln griff Steele durch den Türspalt, drückte zwei Adern am Hals des alten Mannes, der geöffnet hatte, und schob sich durch die Tür. Leise schloss er sie und fing zugleich den ohnmächtigen Alten auf, um ihn sorgfältig und vorsichtig auf den Boden zu legen. Die Gruppe tobte vorbei. Steele zog das schwarze Jackett aus und wechselte zu einer hellen Sommerjacke, die er sich um den Bauch gebunden hatte. Dann riss er sich die Perücke ab, stopfte sie in seine Hosentasche und hastete die Treppe hinunter.

 

Er war kaum aus der Tür und einige Meter die Straße entlang gelaufen, als ein Polizeiwagen heranraste.

Steele schaute mit dem obligatorischen Interesse des Passanten zu, wie die Uniformierten ausstiegen und, sich die Mützen auf en Kopf drückend, in das Haus spurteten.

Steele hatte nichts erreicht. Aber er hatte noch einen Trumpf, und den würde er heute Abend ausspielen.

Nur bei den sehr Starken ist eine Stärke nicht auch eine Schwäche, lautete einer der klugen Aussprüche, mit denen Steele seitens seiner Lehrer traktiert worden war. Nun war es an ihm herauszufinden, ob Cecilia Donzano zu den wirklich Starken gehörte – eine Möglichkeit, die Jeremy Steele kategorisch ausschloss. Nein, die Donzano war clever und verschlagen, sie war ansehnlich, sie wirkte auf Männer, sie konnte sich ein ganz spezielles Automobil leisten, aber sie besaß weder die Intelligenz noch das Gespür, um sich nicht selbst daraus einen Strick zu drehen. Dass sie aus ihrer Wohnung verschwunden war, sagte gar nichts. Sie war nicht der Typ, der längere Zeit untertauchte. Wenn sie für einige Tage kein Schaulaufen unter dem sanften Rieseln männlich bewundernder Blicke gemacht hatte, würde sie eingehen wie eine Blume ohne Wasser.

Diese Überlegungen führten Steele gegen Abend zu einem Taxistand. Er betrachtete die Fahrer, die wartend in den Wagen saßen, und entschied sich für einen Mann mittleren Alters.

Mit deutlichem Hüftpolster, das in seltsamem Kontrast zu dem vollen, sorgfältig frisierten und vermutlich gefärbtem Haar stand. Das Hemd saß etwas zu knapp und passte nicht mehr zu Alter und Figur des Mannes. Steele tippte auf: Familienvater, der gerne mal den sündigen Duft eines anderen Lebens schnuppert.

»Wenn ich hier eine Tochter finden will, die sich gegen alle Erlaubnis ins Nachtleben gestürzt hat, welche Adressen muss ich dann anfahren?«, fragte er den Taxifahrer.

Der blies die Backen auf und schaute Steele fragend an. »Kommt auf die Tochter an«, lautete die Antwort.

»Blond, Anfang zwanzig, sagen wir 95 – 79 – 80.«

»Sie haben Ihre Tochter erstaunlich gut vermessen.« Das schleimige Grinsen zeigte Steele, dass er den richtigen Gesprächspartner gefunden hatte.

»Es ist eine theoretische Tochter.«

»Dann geht sie in eine theoretische Diskothek.«

»Die theoretische Tochter ist eine reale Frau. Kommen wir ins Geschäft oder soll ich mich bei einem Kollegen erkundigen?«

Statt einer Antwort startete der Diesel des Taxis und der Fahrer deutete auf den Beifahrersitz.

Nachdem sie losgefahren waren, brach der Fahrer das Schweigen.

»Was will die theoretische Tochter?«

»Sich amüsieren.«

»Wie?«

»Tanzen, flirten, vor allem will sie gesehen werden. Sie ist eitel – eine Frau eben.«

Der Fahrer grunzte in einem Moment männlicher Komplizenschaft.

»Hat sie Geld?«

»Eine Menge.«

»Nun gut, mir fallen spontan vier oder fünf Adressen ein. Aber jetzt ist es noch zu früh.

Öffnungszeit ist meist ab zehn Uhr nachts. Die Filme laufen noch in den Kinos, dann geht es zum Essen und hinterher wird das Tanzbein geschwungen.«

»Kein Problem. Zeigen Sie mir die möglichen Adressen, für den Rest bin ich da.«

Die Dämmerung fiel über die Stadt. Das Licht wurde sanft und anschmeichelnd wie graue Seide, alle Umrisse, Gebäude, Bäume, selbst der Antennenwald auf einem Hausdach gewannen in dieser Beleuchtung eine betörende Schönheit. Es war, als hätte eine kundige Hand sie am Ende des Tages neu arrangiert und auf ein seidiges Polster gebetet, um sie dem Betrachter noch einmal vorzuführen, bevor der Abschied der Dunkelheit kam.

 

Steele wusste es besser. Er hatte die Stadt hinter der Stadt kennengelernt. Er beäugte den gelben Schein, der aus den erleuchteten Fenstern floss, und dachte an das schwarze Licht des Verbrechens, der Gier und der kühl kalkulierten Grausamkeit, das durch die Ritzen und Spalten in den der Schaufassade der Gesellschaft sickerte. Er dachte an die Messer, die jetzt schon gewetzt wurden, um die freigewordenen Reviere und Posten auszukämpfen. Es gab keine Ort, zu dem diese Jauche nicht vorgedrungen wäre, keine Sekunde, an der nicht irgendwo irgendwer an den Maschen dieses Netzes knüpfte, in dem sich ein ganzes Land verfing.

Ohne es zu merken, verkrampften sich Steeles Hände zu knotigen Fäusten. Er konnte gar nicht genug Blut vergießen, ein Leben reichte nicht aus, um diese Hyänen auch nur zu beeindrucken.

Dem einen wurde der Schädel weggeblasen, und der nächste trat an seine Stelle und glaubte cleverer und besser, hinterlistiger, verlogener, verschlagener, trickreicher zu sein.

Steele schüttelte diese Gedanken unwillig ab und zupfte sich verlegen an der Nase, um dieser plötzlichen, zornigen Bewegung einen Vorwand zu geben.

Der Fahrer achtete nur auf den Verkehr. Er flegelte sich lässig in seinem Sitz. Das Lenkrad zwischen Zeigefinger und Daumen eingeklemmt, war der rechte Arm frei zum Gestikulieren und stieß nur bei Schaltvorgängen, wie ein Fischadler der Beute erspäht hat, blitzschnell auf den Schaltknauf nieder, nur um sofort wieder seine Kreise durch den Wagen zu ziehen. Der Fahrer begann mit routinemäßiger Geschwätzigkeit eine Unterhaltung mit Steele. Der beschränkte sich auf knappe Antworten und einige Zwischenfragen, gerade genug, um den Redefluss des Fahrers in Schwung zu halten.

Beginnend mit dem Wetter und Fußballergebnissen landete dieses recht einseitige, aber dennoch engagiert geführte Gespräch bei den Verbrechen, die in den letzten Stunden begangen worden waren und deren Kunde sich wie ein Lauffeuer verbreitet hatte.

Der Fahrer war sicher, dass diese Typen aus dem Mezzogiorno untereinander eine Rechnung beglichen hätten.

»Keine Lebensart, dieses Gesocks aus dem Süden«, knurrte er.

»Wenn es Leute aus Florenz gewesen wären, hätten sie mit Gift gearbeitet, statt mit Kugeln«, stichelte Steele.

»Sie hätten einen Kompromiss gefunden. Leben und leben lassen. Warum wohl ist in dieser Stadt mehr Kultur als in den gesamten USA? Weil wir geschwätzig sind. Wir reden übereinander, aber auch miteinander. Kommt nie viel bei rum, aber über dem Gerede vergeht die Zeit und bald weiß keiner mehr, warum man eigentlich Knatsch hatte. Das verstehe ich unter Kultur. Kultur hat immer was von Weiberkram. Ist vielleicht nicht besonders schmeichelhaft für unsereins, aber irgendwie steckt das drin. Aber doch nicht dieser ganze Macho-Scheiß von wegen Ehre und Treue und dem ungeschriebenen Gesetz und dem ganzen Pipapo. Diese Säcke sind doch auf der Stufe von Schweinehirten stehen geblieben. Auf einer Blumenwiese im Süden kann man sich solche Spiele erlauben, aber doch nicht hier.«

»Da sind mir aus den Zeiten der Renaissance aber ganz andere Sachen zu Ohren gekommen, was den Umgang der Florentiner angeht.«

»Mag sein, aber was haben unsere Vorfahren hinterlassen? Kirchen, Kathedralen, Paläste,

Kunstwerke. Und was hinterlassen diese Typen, die man heute umgenietet hat? Zehntausend Drogensüchtige, korrupte Politiker, schlecht gebaute Wohnblocks und ihre eigenen stinkenden Kadaver. Hier ist übrigens die erste Adresse!«

Die fünf Diskotheken, die der Fahrer auf seiner Liste hatte, ähnelten sich in ihrer bemühten Originalität und ihrem aufgeregten Schick wie eine grüne Ameise und eine rote Ameise und eine gelbe Ameise. Das Prinzip war wie vom selben Fließband, nur die Oberfläche schimmerte jeweils andersfarbig.

Steele bezahlte den Fahrer und ging zu seinem Leihwagen. Er spürte die Müdigkeit, die auf seine Lider drückte und seine Gedanken langsam machte. Daraufhin kaufte er sich einen Sechserpack Cola und trank das süße Zeug, dessen Geschmack er nicht besonders mochte, mit der Entschlossenheit eines Sokrates, der den Giftbecher in den Händen hält. Danach begann Steele zu schwitzen, hinter seiner Stirn pochte eine Ader, aber er war zumindest wieder hellwach. Seine allgemeine Stimmungslage tat ein übriges. In seiner unterschwelligen Wut hätte er die Nacht und diese Stadt und diese Menschen am liebsten eingetreten wie eine Tür, die ihn am Durchgang hinderte.

Steele hatte gelernt, seine Gefühle in einen Drucktank in seinem Bewusstsein abzufüllen. Dort waren sie und das Überdruckventil gab zischende Geräusche von sich, und doch blieb der Rest des Mannes kühl und gelassen.

 

Die nächsten Stunden verbrachte Jeremy Steele, indem er zwischen den Eingängen der verschiedenen Diskotheken pendelte und die Umgebung absuchte. Vorerst geschah nichts, außer dass die Neonreklamen zu leuchten begannen und die Türsteher Position bezogen. Die ersten Gäste strebten diesen Vergnügungsstätten zu, aber es lag eine deutliche Zähigkeit über der gesamten Szenerie, als wäre ein zäher Schmierstoff noch nicht auf die richtige Temperatur gebracht. In der Zwischenzeit besuchte Steele eine Espressobar. Er hatte noch viele Stunden, bevor er seinen Plan als gescheitert ansehen müsste. Zwei Unsicherheiten, fuhr es ihm durch den Kopf, während er die kleine dunkelbraune Tasse auf dem spiegelnden Marmortisch umherschob. Der Taxifahrer hatte ihm die falschen Lokale gezeigt. Oder er hatte die Donzano falsch eingeschätzt. Die Nacht würde es zeigen. Er zahlte, versorgte sich noch mit einigen Tafeln Schokolade als Proviant und ging zum Wagen. Cola, Espresso und Schokolade – Helena hätte ihm den Kopf angerissen angesichts dieser Diätform. Mehr oder weniger unbewusst verband Steele damit eine Botschaft an seine verstorbene Frau. Sie lautete: Siehst Du, was Du damit angerichtet hast, dass Du tot bist? Jetzt fresse ich mich langsam zum körperlichen Wrack und Du kannst mich nicht hindern, weil Du es ja vorgezogen hast, zu sterben.

Fühle Dich wenigstens ein wenig schuldig, wenn ich mich auf diese Weise selbst umbringe, und zwischendurch anderen Leuten den Kopf wegschieße, die niemals von mir gehört hätten, wenn Du nicht unnötigerweise tot sein wolltest.

 

Die Stunden vergingen. Die Kinos spuckten das Publikum über die Hinterausgänge auf die Straßen, die Theater erlebten den letzten Applaus des Abends, die Restaurants füllten sich und wurden wieder leerer. Inzwischen hatte Steele das Problem, dass seine Vorbeifahrten schon auffällig sein konnten. Obwohl er einen durchschnittlichen Mittelklassewagen fuhr, musste er zwangsläufig langsamer fahren, um die Szene zu überblicken. Ein auch nur halbwegs aufmerksamer Beobachter würde ihn vielleicht beim zweiten oder dritten Mal wiedererkennen und die Angelegenheit spätestens beim fünften Mal seltsam finden. Um dieses Problem zu umgehen, parkte Steele in der Nähe und lief am jeweiligen Eingang vorbei. Die Gäste, die dort vor dem Eingang standen, ebenso wie die Autos, die teils in zweiter Reihe die Straßen fast blockierten, machten ihn sicher, dass er auf dem richtigen Weg war. Hier versammelte sich die Jeunesse dore – die Töchter, die Söhne – Bambini di Millionare -, die Erben, die cleveren Geldmacher, die geschniegelten Aktienjünglinge, die Art Directors der Hochglanz-Werbeagenturen, die nervösen Mitarbeiter von Fernsehstationen und alle anderen, die zumindest genügend Lire zusammengekratzt hatten, um so zu tun, als gehörten sie zu dieser selbst ernannten Elite dazu. Selbstsicher bis zur völligen Starrheit und weltoffen bis zur Selbstauflösung im Szenejargon und im Denken, dessen tiefste Erkenntnisse sich als Slogan per SMS auf das Handy von Girl-Friend oder Lover transferieren. Und alle waren sie jung und selbstsicher und hatten Geld und fühlten sich gut und hatten alles im Griff, außer dass sie vielleicht eine Linie Koks zu viel reinzogen oder ein nervöses Zucken in den glatten Wangen bekamen, wenn der Dow Jones um 0,3 Prozent sackte.

 

Schließlich, nach langen Stunden, hätte Steele fast übersehen, was er suchte. Weil die Wagen in zwei Reihen parkten, verschwand das tiefergelegte Gefährt der Signorita Cecilia Donzano hinter einem Jeep, dessen gigantische, fast profillose Reifen und blank geputzte Chromteile zeigten, dass nur Schauqualitäten auf Nobelboulevards gefragt waren.

Steele bezog Position. Er hätte in diesem Augenblick berechtigte Befriedigung über seinen Instinkt empfinden dürfen, aber er wäre nicht er selbst gewesen, wenn ihn solche Anflüge von Eitelkeit berührt hätten.

Zu einer gewissen späten Stunde schienen sich die Gesichter der Mädchen und Frauen anzugleichen. Sie waren alle jung und hübsch und meist blond und trugen allesamt Kleidung, die vollsten Vertrauen in die sittliche Stabilität aller Männer in der Umgebung verrieten.

Einige Male glaubte Steele seine Zielperson zu erkennen, wurde sich aber schnell klar, dass er einer Täuschung erlegen war. Er kannte Cecilia Donzano nur von einem sekundenkurzen Schwarz-Weiß-Video. Langsam dämmerte ihm, dass er vielleicht Einblick in ihr Verhalten gewonnen hatte, dass ihm aber ihr Äußeres fast fremd war. Steele war ein seltsam verdrehter gewalttätiger Don Juan, der die Seele einer Frau befingert, bevor er ihren Körper zu Gesicht bekommt.

Tatsächlich erkannte Steele sie nicht. Er sah eine Gruppe von jungen Menschen aus der Tür der Diskothek kommen. Er registrierte zwei Männer und drei Frauen, davon zwei Blondinen und eine Brünette. Die Gruppe stand noch eine Weile zusammen, es wurden Zigaretten herumgereicht, geredet und gelacht. Wieder einmal musste Steele feststellen, wie unangenehm ihm dieses aufgesetzte Lachen vorkam, wenn der Kopf in den Nacken gelegt wird, als müsste ein verzweifelt fröhlicher Wolf den Mond der Lustigkeit anheulen. Dann sah er, dass einer der Männer Lederhosen und Cowboy-Stiefel trug. Die Verbindung zu dem Jeep war sofort geschlossen, und ein nervöses Kribbeln durchzuckte Steele. Die Zigarettenkippen wurden als glühende Meteoriten auf die Straße geschnippt, dann setzte sich die Gruppe in Bewegung. Ihre Lautstärke ließ auf einen nicht unbeträchtlichen Alkoholpegel schließen.

Zwei Frauen und ein Mann bestiegen den Jeep. Für die kurzberockten Mädchen war es nicht leicht, auf einigermaßen damenhafte Art auf die hohen Trittbretter des Geländewagens zu kommen. Sie giggelten und kicherten, zeigten stramme Schenkel in Nylonverpackung und benahmen sich wie Klosterschülerinnen, die ihre erste heimliche Zigarette rauchten. Der Jeep rangierte hin und her und zischte dann mit unverschämtem Hupen davon. Bevor Steele auch nur einen weiteren Gedanken fassen konnte, raste das Coupe der Donzano aus der Lücke und verschwand aus dem Blickfeld.

 

Steele fluchte, während er den Anlasser betätigte. Dieses Miststück hatte ihn hereingelegt. Und dieses, ohne überhaupt von seiner Existenz zu wissen. Bis Steele den Wagen aus der Parklücke hatte und auf der schmalen Straße beschleunigte, war das Cabrio verschwunden. Es konnte in drei Einmündungen eingebogen sein.

Er bremste. Das Motor blubberte vor sich hin, und Steele musste sich konzentrieren, um nicht über seine eigene Dummheit zu schreien. Mach Deinen Zorn zu Energie, hörte er seinen Lehrer sagen. Er legte den Kopf auf das Lenkrad und atmete tief durch. Und das war es!

Dieser Geruch! Es war unverwechselbar der Abgasgeruch eines getunten Motors, bei dessen Einstellung der Mechaniker seiner Missachtung der Treibstoffpreise und seinem Hass auf reine Luft freien Lauf gelassen hatte. Und es konnte nur von dem Wagen der Donzano stammen.

Steele hatte für einen Moment einen Gesichtsausdruck, bei dem ein Betrachter sofort an einen Wolf gedacht hätte, der seine Beute in eine günstige Position zum Zuschlagen getrieben hat. Er steckte den Kopf aus dem Fenster und sog pfeifend die Luft ein. Der Abgasmief war so stark, dass sie unzweifelhaft hier langgefahren sein musste. Also weiter, zur nächsten Einmündung. Schnüffeln, wittern wie ein Bluthund, einige Meter weiter, Luftprobe – der Geruch war nur noch schwach, also Rückwärtsgang, mit quietschenden Reifen gebremst und um die Ecke.

Zu Steeles Glück war diese Straße zwar eng, aber sie zog sich ohne weitere Kreuzungen eine Weile hin. Steele jagte seine Wagen ohne Rücksicht auf die parkenden Autos über die schmale Fahrbahn. Wieder einmal klappte der Außenspiegel mit lautem Krach gegen die Fahrertür. Aber der Aufwand lohnte sich. Dieses Rücklicht, so nah über dem Asphalt, dass es in den letzten aufsteigenden Hitzeschwaden noch flimmerte, dieser beißende Abgasgestank …

 

Steele saß im Nacken der Cecilia Donzano, und er ließ nicht mehr los. Zwar hielt er sich in sicherer Entfernung, aber die Wahrscheinlichkeit, dass sie ihn bemerkte, war gering.

Erstens, so schätzte er die Donzano ein, war sie eine von diesen Fahrerinnen, die den Rückspiegel nur als Schminkutensil nutzen. Zweitens beschäftigte sie sich sehr mit ihrem Beifahrer und umgekehrt. Die Tatsache, dass sie derart jetzt trödelte, musste auch etwas damit zu tun haben, dass sie im Augenblick nicht schalten konnte – von wegen Schwierigkeiten beim Treten der Kupplung, von wegen der linken Hand des Schönlings, der sich an Signorita Donzano zu schaffen machte. Im Gegenzug kraulte sie seinen Nacken, änderte dann die Armposition und hantierte so herum, dass Steele die genaue Position ihrer gepflegten rechten Hand nur erahnen konnte, weil der Rücken des Beifahrers in seinem Blickfeld war.

Er war sich nicht sicher, ob er diese Aktion unter jugendliche Unschuld oder kaltschnäuzige Hurerei einordnen sollte. Einen Augenblick überlegte er, jetzt schon seine Aktion zu starten und den anderen Wagen zu rammen. Die Donzano, so wagte Steele zu vermuten, würde bei dem Rammmanöver die Flosse ihres Liebhabers vor Schreck zwischen ihren Schenkeln einklemmen, dass die Knochen krachten und ihrerseits mit wenig Zartgefühl an der gerade bedienten Geschlechtsarmatur des Männchens reißen, was Steele einen unschätzbaren Vorteil verschaffen würde. Andererseits bestand auf dieser Straße immer noch die Möglichkeit, dass ein fremder Wagen vorbeikam oder dass Anwohner durch den Lärm wach würden. Also lieber abwarten. So beobachtete Steele weiterhin das vulgär aufgemachte Cabrio, das inzwischen leichte Schlangenlinien fuhr, weil die lenkende Person in krampfartige Zuckungen verfiel, während der Beifahrer wirkte, als säße er auf einer Rüttelmaschine.

Der Moment, als die Donzano sich die rechte Hand umständlich an einem Papiertaschentuch säuberte, um dieses Tuch daraufhin mit Nonchalance auf die Straße zu werfen und das Gaspedal hinunterzudrücken, zwang Steele wieder zu größerer Aufmerksamkeit. Das Cabrio brauste ohne Rücksicht auf irgendwelche Tempolimits davon.

Steele, mit seinem weitaus schwächeren Wagen, musste alle seine Fähigkeiten aufwenden, um das Rücklicht nicht aus den Augen zu verlieren.

Schließlich bremste Cecilia Donzano vor einem Haus mit heller Marmorfassade. Der Bau, wie auch die anderen in der Umgegend, sah nach teuren Eigentumswohnungen aus. Alle Fenster waren dunkel, meistens waren die Rollläden heruntergelassen.

 

Es war Zeit für Steeles Arbeit. Er blockierte das Cabrio und sprang aus seinem Wagen.

Die Donzano und ihr Begleiter waren schon ausgestiegen und standen nebeneinander auf dem Gehsteig. Sie schauten verständnislos auf den Mann, der über die Motorhaube des Cabrios setzte. In diesem Moment entschied sich das Schicksal des Begleiters von Cecilia Donzano.

Er öffnete den Mund und begann etwas wie He, was soll das? zu sagen, während die Blondine erstaunlich schnell abdrehte und sich in Richtung Haustür aufmachte.

Der Jüngling war vielleicht ein halbtuntiger Schönling und auf jeden Fall ein ziemlicher Hurenbock (wenn man die Kategorie, die in diesem Moment durch Jeremy Steeles Kopf blitzte, aufnehmen will), aber er gehörte nicht zu denen und er griff auch nicht nach einer Waffe.

Steele machte es darum kurz und relativ schmerzlos, indem er den jungen Mann mit einem Faustschlag umnietete. Er fing den Zusammenbrechenden auf und legte ihn neben den Wagen, wo er im Schlagschatten der Laterne verschwand. Dieser Preis für einen angenehmen Abend mit orgiastischem Abschluss war nicht zu hoch.

Die Aktion kostete Zeit, und diese Zeit nutzte Cecilia Donzano. Sie trug lächerlich hohe Plateauschuhe, und diese klobigen Exkremente einer geschmacklosen Modeindustrie beraubte sie um wertvolle Meter, die sie mit anderem Schuhwerk schon hinter sich gebracht hätte.

An ihrer Handhaltung war zu erkennen, dass sie in der nächsten Sekunde auf das Klingelbrett tatschen wollte, um alle Anwohner auf einmal zu alarmieren. Sie war sich sicher, dass es gelingen würde, sie stieß den Arm schon vor wie ein Läufer an der Ziellinie und brauchte nur noch einen Schritt, aber dann hörte sie das Rauschen, mit dem Jeremy Steele heranfegte. Er warf sich wie ein Rugbyspieler auf den Boden, erwischte sie mit dem ausgestreckten Arm an der Fessel und riss ihr Bein mit gewaltiger Wucht nach oben.

Cecilia Donzano verlor das Gleichgewicht. Mit einem kurzen, spitzen Schrei fand sie sich plötzlich waagerecht in der Luft schwebend wieder, bevor sie im Sturz mit dem Kopf gegen die Marmorplatte der Hausverkleidung prallte.

Steele spürte das bebende Fleisch und die matte Weichheit ihrer Strümpfe unter seinen Fingern und ein scharfer Dorn sexueller Lust riss an seiner Psyche, bevor er ihn abschütteln konnte. Er raffte sich auf, packte die wimmernde Frau an den Schultern und schleifte sie in die Deckung eines Vorgartengebüsches. Dort holte er seine Taschenlampe hervor und richtete den blendenden Strahl der Mag-Lite auf ihr Gesicht.

Der Sturz hatte sie böse mitgenommen. Aus ihrer Nase rann ein dünner Blutfaden, ein roter Wurm auf ihrer hellen Pfirsichhaut, die Oberlippe war geplatzt und blutete, und ein Schneidezahn saß schief. Cecilia Donzano atmete keuchend und wimmerte leise. Es klang wie das Geräusch eines klagenden Hundes. Steele rückte näher und klemmte einen ihrer Schenkel zwischen seine Beine. Er konnte das Zittern ihres Körpers spüren.

»Pinazzi!?«

Das Stichwort genügte. Sie schüttelte den Kopf, dass ihre gelben Locken flogen. »Ich weiß nicht, was Sie wollen, lassen Sie mich bitte …«

»Pinazzi!«

Cecilia Donzano war hübsch. Selbst jetzt noch, verletzt, blutend und mit angstgeweiteten Augen, wirkten ihre weichen vollen Zügen herzzerreißend und verlockend. Aber sie war ein hundertprozentiges Miststück. Steele wusste es, und spätestens, als sie eine natternschnell zupackende Bewegung machte und eine Pistole aus ihrer Handtasche ziehen wollte, hatte er den letzten, schlüssigen Beweis. Sie war sehr schnell, aber Steele war schneller. Er ließ die Lampe fallen, drückte ihr die Hand vor den Mund und bekam zugleich mit der anderen Hand ihr Handgelenk zu fassen. Die Frau bäumte sich vor Schmerzen auf, als ihre Knochen unter Steeles Griff brachen und die Pistole in das Gras fiel, aber Steeles schwielige Hand, die nach Cola und Schokolade roch, verschloss ihr den Schrei wie ein fest eingeschraubter Metallpfropfen. Steele ergriff wieder die Lampe und schaute mitleidlos auf die Tränen, die aus den blauen Augen Cecilia Donzanos perlten. Als erfahrener Jäger der Beute Mensch wusste Steele, dass er jetzt nur noch ernten musste.

»Pinazzi.«

Er zog vorsichtig die Hand von ihrem Mund weg. Blut und Lippenstiftspuren machten seine Handfläche klebrig.

»Ich habe ihm nur gesagt, dass er in eine andere Klinik gehen soll.«

»Er vertraute Ihnen?«

Sie nickte. Dann sprach sie hastig weiter, wegen des Zahns zischelte sie, und rötliche Speicheltröpfchen flogen durch den Lichtkreis der Lampe.

»Er sollte nach Londa, in eine spezielle Klinik. Sie haben mir gesagt, ich solle ihn dazu überreden. Der Transport wurde organisiert, damit habe ich nichts zu tun. Ich habe ihn nur überredet.«

»Wie hießen die Fahrer des Transportwagens?«

»Ich kannte nur einen, Luca hieß er … Luca Bonelli, mehr weiß ich nicht, bitte tun sie mir nichts, bitte, es tut so weh, es tut so weh …« Die letzten Worte flüsterte sie nur noch, und in ihren Augen stiegen Panik und eine beginnende Ohnmacht auf und verdrängte den Schmerz.

 

Als Steele in seinem Wagen fortfuhr, war er sich sicher, dass er einen weiteren Fehler gemacht hatte. Er hätte das Miststück töten sollen. Schon aus hygienischen Gründen. Sie hatte ihre Schwächen, aber sie war zu hübsch, zu gierig und zu kalt, um nicht bald wieder obenauf zu sein. Lade irgendeinen der höheren Chargen zu einer vergnüglichen Viertelstunde in das Paradies deines Schenkeldreiecks ein und du kannst ihn um den Finger wickeln. Dann konnte sie versuchen, an Steele Rache zu nehmen. Es sein denn, sie war wirklich clever und freute sich, dass sie ihn überlebt hatte. Das würde sich zeigen. Jetzt brauchte Steele die Adresse von Luca Bonelli, der Fahrer eines privaten Krankentransportunternehmens war.

Steele ging den Weg des geringsten Widerstandes und brach in die Büros des Unternehmens ein. Er machte das ohne alle Feinfühligkeit. Er schlug, nachdem er die Lage sondiert hatte, die Seitenscheibe eines Lieferwagen ein, ließ mit einem krachenden Ruck das Lenkradschloss zerbersten, riss die Zündkabel heraus und schloss sie kurz, rammte das Hoftor auf und schaffte es noch, mit dem qualmenden Motor soviel Schwung zu gewinnen, dass die Haustür zersplitterte. Der Lieferwagen blockierte den Eingang.

Steele trat die Frontscheibe heraus und sprang in den Flur. Er folgte jetzt nur noch seinen Instinkten. Er fand schnell die Lohnbuchhaltung, den Karteischrank mit den Namen der Angestellten und die Karte mit dem Namen Luca Bonelli. Stimmen von draußen schnitten ihm den Rückweg ab. So wuchtete er einen Beistelltisch auf einen Schreibtisch, darauf einen Stuhl, und erreichte so die Lichtkuppel aus Plastik, die in der Deckenmitte angebracht war. Jetzt war es eine Kleinigkeit, den Verschluss zu öffnen, die Kuppel zur Seite zu werfen und auf das Flachdach zu klettern.

Steele schob sich über die raue Teerpappe bis zum Rand des Daches. Im Hof standen einige Männer und Frauen in hastig übergeworfenen Morgenmänteln und Pantoffeln. Sie verschränkten ängstlich die Arme und warteten auf die Polizei. Steele verlor keine Zeit, sprang auf das Dach des Lieferwagens, war nach zwei scheppernden Schritten auf dem Blech und einem weiten Sprung unten im Hof, jenseits der wartenden Menschen, und rannte durch das zertrümmerte Tor hinaus. Er verschwand in der Dunkelheit, bevor die anderen überhaupt bemerkt hatten, was vor sich ging. Er musste schneller sein, als seine Gegner ahnten, und härter, als sie jemals befürchteten.

 

Er fand eine billige Absteige, nahm sich ein Zimmer und machte sich frisch. Im Nebenraum verdiente sich eine halb betrunkene Hure mit opernhaftem Geschrei ihre Penunsen. Steele verschwand durch das Fenster, kletterte das Regenrohr hinab und machte sich auf die Suche nach Luca Bonelli.

Die Adresse führte Jeremy Steele in eine Straße, für die ihm nur die Beschreibung alltäglich eingefallen wäre. Normale Häuser mit normalen Wohnungen für normale Menschen mit normalen Leben. Lediglich die Nähe zu diesem Schatzkästchen abendländischer Kultur, die das alte Florenz darstellte, machte die Häuserzeilen langweilig und sterbensöde. Die Fassaden waren dunkel, abweisend und in sich gekehrt wie die Gesichter der Schlafenden hinter den grob verputzten Mauern. Aus ein oder zwei Fenstern schimmerte Licht, und Steele fragte sich unwillkürlich und mit einem inzwischen angelernten und eingefleischten Verdachtsreflex, welche Gründe eine Person zu dieser Stunde, wenn die Stadt auf ihrer Reise durch die Nacht in den dunkelsten Tiefen treibt, in den künstlichen Lichtschein der Glühlampe zwingen konnten.

Schmerz oder Kummer mochte es sein, das Geschrei eines Neugeborenen, eine Arbeit, die erledigt werden musste – eine Arbeit, die das Tageslicht scheute. Und diejenigen, die auf ihren Matratzen lagen und schliefen? Welche Untaten quollen in diesem Moment aus den Sickergruben ihrer Seelen in ihre Träume, bereit, sich im Tageslicht zur Wirklichkeit zu versteinern, sofern nur die Angst vor Entdeckung und Strafe schwinden würde?

 

Steele fand das Namensschild mit Bonelli unten rechts auf dem Klingelbrett und bereitete sich auf das Warten vor. Wieder lagen vor ihm Stunden, die sich unendlich zu dehnen schienen wie Wege in einer sumpfigen Einöde. Bis zum Hals steckte er im Morast, den die Notwendigkeit anderer Menschen, sich durch Schlaf zu erfrischen, aufhäufte.

Ein Wagen fuhr langsam die Straße entlang. Instinktiv rutschte Steele tiefer in den Sitz hinunter und war von außen nicht mehr zu sehen. Der Wagen, ein alter Fiat, hielt nur einige Meter entfernt. Zwei Männer stiegen aus, verabschiedeten sich von dem Fahrer, der mit knatterndem Auspuff weiterfuhr. Die Männer gingen stumm zu einer Haustüre. Schlüssel klimperten, wortlos verschwanden die Männer im Flur. Ihre müden Bewegungen, ihre Kleidung und die abgegriffenen Taschen, die sie bei sich trugen, wiesen sie als Arbeiter der Spätschicht aus.

Die Selbstverständlichkeit, mit der sie ihrem Schlaf zustrebten, reizte Steele. Am liebsten wäre er auf die beiden Gestalten zugestürmt und hätte sie am Kragen gepackt. Wisst ihr eigentlich nicht, was hier stattfindet, hätte er sie am liebsten angeschrien. Aber er selbst wusste es ja nicht einmal. Er witterte nur Blut und Gewalt, sah hinter jeder Ecke den Schatten eines Meuchlers und sehnte sich nach Ruhe.

Er schloss die Augen, in der Hoffnung, auch etwas Schlaf zu finden. Aber sobald er die Lider herunterfallen ließ und eine Sekunde alleine war in diesem unendlichen Raum hinter den Lidern, rauschten die Bilder des Tages an ihm vorbei und ließen sich nur durch strengste Konzentration vertreiben. Es gelang ihm schließlich in eine Art Halbschlaf zu fallen, wach und doch nicht wach, die Meditation eines Krokodils im Wasser an der Gazellentränke.

 

Bei Bonelli wurde kein Licht angeschaltet, auch nicht, als schon alle Häuser erleuchtet waren. Die ersten Schulkinder traten verschlafen aus den Türen, und ihre hohen Stimmen klirrten durch die kühle Morgenluft. Steele verließ seinen Wagen und klingelte. Er konnte das Schnarren der Klingel bis auf die Straße hören, aber niemand öffnete. Schließlich flog das Fenster der darüber liegenden Wohnung auf und eine Frau beugte sich heraus.

Steele blickte zu ihr hoch und bemühte sich, ungefähr so auszuschauen wie der Wolf, bevor ihn die sieben Geißlein endlich einließen. Er blickte aus seiner Unterperspektive auf einen riesigen Busen, der in einen rosafarbenen Nylonkittel verpackt war und auf dem das Gesicht der Frau ruhte.

Sie trug Lockenwickler im rötlich gefärbten Haar. Das wirkte einerseits recht vulgär, so als hätte sie sich gerade von einer intimen Beschäftigung mit der eigenen Schönheit losgerissen, passte aber andererseits bestens zu dem deutlichen dunklen Flaum über ihrer Oberlippe.

»Frau Bonelli ist nicht da«, verkündete die Frau mit einer Stimme, die in der Lage war, auch die entferntesten Winkel der Straße zu beschallen. Mit diesem stimmbandgetriebenen Getto-Blaster hätte sie wahrscheinlich ein halbes Dutzend Kinder vom nahe gelegenen Spielplatz zum Abendessen herangebrüllt, ohne auch nur einmal das Reservat ihrer Wohnung zu verlassen.

»Ich bin ein Freund von Luca … ich meine Herrn Bonelli«, erklärte Steele.

Die Frau schüttelte bedauernd den Kopf, dass ihre Lockenwickler gefährlichen Fliehkräften ausgesetzt waren.

»Da sind Sie zu der Beerdigung zu spät gekommen. Die war schon vor ein paar Tagen. Und die Signora ist mit den Kindern zu ihrer Schwester.«

»Könnten Sie mir vielleicht die Adresse überlassen?« Steele lächelte verbindlich und rutschte inzwischen derart perfekt in die Rolle des netten Menschen, dass er ihr wahrscheinlich sogar einen dampfgetriebenen Staubsauger hätte verkaufen können.

Wahrscheinlich hätte er sich dieses Übermaß an sozialer Kommunikationsfähigkeit irgendwo hinschieben können, denn diese Frau war regelrecht scharf darauf, die Adresse weiterzugeben.

Hier hatte sie etwas, das sie interessant machte, das sie hervorhob und im Schein der Einzigartigkeit schimmern ließ. Und sie war sich durchaus bewusst, dass sie nicht allzu lange zögern durfte, um diesen Glanz nicht zu trüben. Also schüttelte sie erneut bedenklich den Kopf, überlegte, kämpfte offensichtlich mit sich selbst, um dann überzeugt zu lächeln und zu sagen: »Warten Sie einen Moment, ich hole die Adresse. Man kann sich ja nicht alles merken.«

 

Die Fahrt zu der neuen Adresse kostete Steele eine halbe Stunde, weil er sich verirrte.

Inzwischen hatte die Schule schon begonnen, die ersten Hausfrauen waren auf dem Weg zu ihren täglichen Einkäufen. In Steele wuchs die Befürchtung, er könnte zu spät kommen und erneut wertvolle Zeit verlieren.

Er hatte Glück. Auf sein Klingeln tönte nach einiger Zeit das Summen des Türöffners, und als er die drei Treppen hochgestiegen war, stand er einer etwa vierzigjährigen Frau gegenüber.

Sie machte einen derartig verhärmten Eindruck und ihre Augen zeigten so deutliche rote Ränder, dass Steele sich sicher war, nicht der Schwester, sondern der Frau respektive der Witwe Bonelli gegenüberzustehen. Jetzt, wo er nicht zu treten, zu schlagen oder zu schießen hatte, kam Steele ins Stottern. Wie wunderbar einfach war doch diese Männerwelt, wo man wusste, wo der Feind stand und was man mit ihm zu tun hatte. Angesichts dieses Frauengesichtes mit den bitter herabhängenden Mundwinkeln gerieten ihm diese Taktiken aus dem Blickfeld.

»Ich bin ein Freund von Luca … wir haben uns zwar noch nicht gesehen, aber er hat mir … viel von seiner Familie erzählt.«

Die Frau hob die verweinten Augen und schaute Steele prüfend an. Sie hatte sehr dunkle Augen, die in dem weißen Gesicht wie Fremdkörper wirkten, wie etwas, was künstlich eingesetzt worden war. Sie zögerte und stützte sich unterdessen an die Kante der halb offenen Tür. Sie war gekleidet, als wollte sie eben auf die Straße gehen.

»Wenn Sie eben hereinkommen möchten«, sagte sie dann. Es klang wie eine Mischung aus Selbstüberredung und bemühter Einhaltung der Konvention.

»Ich möchte nicht stören, ich kann mir denken, wie Sie sich fühlen … ich habe es selbst vorhin erst erfahren, nun ja, ich kann auch später …« Steele stotterte, hatte sich aber inzwischen gefangen. Er wirkte stark betroffen, schaute mit hängenden Schultern auf seine Schuhspitzen (auf denen er soeben einen Blutspritzer entdeckte und sich fragte, von wem der stammen könnte) und zog seine Sätze kunstvoll in die Länge, um der Frau Zeit zu geben, sich zu entscheiden.

Sie öffnete die Tür einen Spalt weiter und deutete mit dem Kopf in die Wohnung.

»Kommen Sie. Ich muss gleich zum Friedhof, aber etwas Zeit habe ich noch. Sie müssen mich entschuldigen …«

Sie beendete den Satz nicht, stattdessen konnte Steele von hinten sehen, wie ihre Schultern in eine unterdrückten Weinkrampf zuckten.

Sie führte ihn in eine kleine Wohnküche und deutete auf einen Stuhl. Auf dem Tisch standen noch Gläser und Schüsseln vom Frühstück. Drei Schüsseln mit Resten von Cornflakes oder einem ähnlichen Zucker übersättigten Fraß, den Kinder bevorzugten.

Steele dachte an die zahlreichen Versuche, seinen Kindern ein gesünderes Frühstück zu verordnen. Obwohl diese Versuche kläglich gescheitert waren, hatten sich die Kinder prächtig entwickelt. Ja, das hatten sie und dann waren sie gestorben und hatten ihre ganze Zukunft, Jahrhunderte von möglichem Leben in ein schwarzes Nichts geworfen. Während ihm diese Gedanken durch den Kopf schossen und ihn ablenkten, betrachtete ihn die Frau und bemerkte die unverborgene Trauer im Gesicht dieses hageren, erschöpft aussehenden Mannes. Ohne dass er es wusste, hatte Steele sein eigenes Schicksal als Schlüssel genutzt, um die Abwehr dieser Frau zu durchbrechen.

»Ich werde uns einen Kaffee machen«, beschied die Frau und ließ in diesem Satz die energische Mutter und Ehefrau durchdringen. Dann aber schlurfte sie müde durch die Küche, und Steele sah in einer plötzlichen Vision die Traurigkeit wie ein schwarzes pelziges Monster in ihrem Nacken sitzen, das sie niederdrückte und ihre Kraft aussaugte.

»Mein Name ist Donzo«, erklärte Steele. »Vielleicht hat Luca mich nie erwähnt, aber er …«

»Luca hat nie viel erwähnt.« Sie schaufelte Kaffeepulver in das Filter. Als sie das sagte, wirkten ihre Bewegungen plötzlich wütend. Der Duft des Kaffee schien verloren in dieser Küche, wie eine hängen gebliebene, zu bunte Fahne an einem Trauertag.

 

Eine unbehagliche Stille machte sich breit. Die Frau versteckte sich hinter ihrer Tätigkeit, Steele versuchte einen Mittelweg zwischen der unbeteiligten Ruhe, die ihm zu eigen war, und einer natürlichen Nervosität, wie sie ein Mann namens Donzo gezeigt hätte, zu finden. Aus dem Haus klangen die Geräusche von Wasserspülungen. Ein Kinderwagen wurde über die Treppe nach unten gebracht. Als die Frau sich Steele gegenübersetzte, wurde Steele klar, dass sie von diesem alltäglichen Leben völlig unberührt blieb. Es hätten Schüsse auf der Straße fallen können und sie hätte es zwar gehört, aber keinerlei Reaktion gezeigt. Es war, als würde sie in einer fremden Sprache angeredet. Sie setzte sich und glättete eine Falte im Tischtuch.

»Er hat nie viel erzählt«, wiederholte sie. »Jedenfalls nicht von dem, was wirklich stattfand. Dafür redete er ständig über seine Pläne.« Sie stützte den Kopf in die Hand und für einen Moment wischte ein verirrtes Lächeln über ihr Gesicht. Dann wurde ihr wieder klar, dass sie über einen Toten redete und das Lächeln verlosch schlagartig. Was blieb, waren tiefere Falten um Nase und Mund.

»Er wollte mit uns in den Urlaub fahren. Noch eine Sache, die er erledigen wollte und dann hätten wir genügend Geld. Mein Gott, er hat mich dusselig geredet. Aber mir war schon klar, dass es nichts werden würde. Bei Luca wurde es nie etwas. Aber ich war froh, wenn er wieder so ein Projekt hatte. Dann ging es ihm gut, und wenn es ihm gut ging, war er ein sehr guter Mann …«

»Oh, sicherlich …« bestätigte Steele. Er musste sich langsam an die entscheidende Frage herantasten.

»Was war es für eine Sache, die Luca so viel Geld bringen sollte?«

»Ich weiß es doch nicht. Vielleicht hing es mit dem Auftrag bei der Firma zusammen, für die er seit vier Monaten arbeitete. Aber er erzählte nichts. Nie. Dafür war ich nicht gut genug.

Aber dafür, Geld zusammenzukratzen und bei irgendwelchen Geschäften zu betteln, damit es Zahlungsaufschub gibt, mit einem Balg an der Hand, dafür war ich brauchbar. Das durfte ich erledigen. Das war mein Job beim glänzenden Aufstieg des Luca Bonelli. Er baut seine Wolkenkuckucksheime und ich darf Scherben wegfegen. Tolle Arbeitsteilung, was. Wissen Sie was? Luca war ein Idiot.«

 

Der Kaffee war fertig und die Frau brachte Tassen und Löffel und schüttete ein. Steele war froh, dass er sich an seiner Tasse festhalten und sich mit Zucker und Milch und Umrühren beschäftigen konnte.

»Wie ist es eigentlich passiert«, fragte er plötzlich. Die Überrumpelung war Teil seiner Taktik.

Sie zuckte zusammen, aber Steele merkte, dass es eine rein äußerliche Reaktion war. Die Seelenhaut dieser Frau bewegte sich, und darunter war sie hart wie Stein geworden. Vielleicht seit dem Tod ihres Mannes, vielleicht schon seit vielen Jahren.

»Er ist überfahren worden. Wussten Sie das nicht? Sonst funktioniert das Netzwerk doch so grandios. Ein Kumpel spricht mit dem anderen, und alle haben ihren Spaß. Drei Tage verschwinden und dann wiederkommen mit einem blauen Auge und sich ins Bett legen und jammern wie ein Tattergreis. So läuft das doch. Und dann darf die Frau ihren Herrn und Gebieter wieder aufpäppeln, damit er seine nächste Eskapade beginnt. Meinen Sie, Luca hätte sich mal um die Kinder gekümmert. Ja doch, manchmal mit dem Ältesten zum Fußball. Zum Angeben, schaut mal, mein wohlerzogener Sohn, der geht auf die weiterführende Schule. Ansonsten hatte er für die Blagen keine Zeit. Frauensache, sagte er. Und wieder, husch, durch die Tür und ein neues Projekt und ein neues Geschäft. Hatten wir mal Geld, dann wurde es investiert. Ich hätte es jedes Mal besser verbrannt, dann hätte ich mich wenigstens noch einmal daran wärmen können. »

»Wo ist er überfahren worden?«

Die Eindringlichkeit ihres Gastes erstaunte die Frau. Sie schaute ihn scharf an, ihre Blicke begegneten sich, rieben sich ein, zwei Herzschläge aneinander, um das gegenseitige Gewicht zu prüfen wie zwei Ringer, die den Kampf aufnehmen, dann schaute Steele in seine Tasse.

»Ich war eine Weile weg, verstehen Sie? Ich komme zurück, will mich bei Luca melden und höre, dass er verunglückt sei. Aber keiner kann mir sagen, was eigentlich passiert ist. Da muss ich mir doch doof vorkommen.«

»Doof vorkommen«, echote die Frau. Ihre Verbitterung stand nun wie eine dunkle Aura über ihr. »Fragt einer danach, wie doof ich mir vorgekommen bin, in all den Jahren? Immer strampeln, um über die Runden zu kommen. Immer diese Unsicherheit. Und Luca – hat es nicht mal nötig, sich umzuschauen, bevor er über die Straße geht, und wird von einem Lastzug überfahren. Selbst sein Kollege hat bestätigt, dass es Lucas eigene Schuld war.«

»Dabei war er doch sonst so … fix.«

»Fix, ja das war er. Fixer als sein eigener Verstand. Und an dem Tag war er fix und fertig. Ruft mich doch noch an und erklärt mir, irgendwas wäre völlig schief gelaufen und er wäre am Ende und es könnte einige Tage dauern, bis er wiederkommt. Oder so ähnlich.«

»War er wirklich besorgt?«

»Besorgt? Er war hysterisch! Ich frage, was los ist. Aber er immer, das kann ich dir nicht sagen, das solltest du besser nicht wissen. Die alte Leier.«

»Aus welchem Ort hat er angerufen?«

»Irgendein Kaff in den Bergen. San Piero in Bagno, so hieß es jetzt, erinnere ich mich. Aber warum wollen Sie das so genau wissen.«

»Sagen wir es mal so, ich habe einfach Nachholbedarf. Ich weiß, was ich Ihnen zumute, aber für mich ist es einfach so, dass ich einen guten Freund verloren habe und nicht weiß, wie und warum. Ich will wahrhaftig nicht aufdringlich wirken.«

»Die Chance haben Sie verpasst.«

Sie stand auf und ging durch den Raum. Sie war eine klein gewachsene Frau, die man früher als zart bezeichnet hätte. Jetzt wirkte sie schmächtig und hager. Sie kaute mit den Schneidezähnen auf ihrer Unterlippe, um das Zittern zu verbergen, mit dem sich Tränen ankündigten. Dann wandte sie sich wieder Steele zu.

»Verzeihung. Ich wollte nicht beleidigend sein.«

Steele zuckte die Achseln. »Ich verstehe, dass Sie mit den Nerven runter sind.«

»Ich bin mit allem runter. Mit allem. Wissen Sie, wie das ist, mit drei Kindern vor dem Nichts zu stehen? Von der Rente kann ich mir nicht mal einen Strick kaufen, um mich aufzuhängen.

Und Ihr guter Freund Luca, wussten Sie das eigentlich, hat eine Lebensversicherung aufgelöst, um flüssig zu sein für eines seiner Wahnsinnsprojekte. Ich könnte schreien vor Wut, das könnte ich. Und ich kenne nicht mal all die Typen, von denen er sich hat übers Ohr hauen lassen, mein teurer Luca.«

Der Zorn der Frau wölkte auf wie ein Kampfgas und machte die Luft gallenbitter.

»Er hat so oft von seinen Kindern geredet – aber ich habe noch nie ein Bild von ihnen gesehen …«

»Natürlich hatte er nie ein Foto seiner Kinder dabei. Alle Fotos, die wir haben, hat mein Schwager gemacht. Vater Luca hatte keine Zeit. Oder er schwatzte davon, sich bald eine Videokamera anzuschaffen, um damit die Kinder abzufilmen. Warten Sie, ich hole mal ein Bild, auf dem sie alle drei drauf sind.«

 

Während die Frau aus dem Raum ging, holte Steele ein Scheckbuch aus der Tasche, füllte einen Schein aus, riss ihn ab und ließ alles wieder verschwinden.

Sie kam mit einem Foto zurück. Es war eine unscharfe Aufnahme, drei Kinder in irgendeinem Zimmer, mit unnatürlich roten Blitzlicht-Kaninchenaugen und verkniffenen Mündern, die darauf hindeuteten, dass sie sich nicht freiwillig vor die Linse drapiert hatten. Wenn sich Steele die Gesichter anschaute, dann konnte er sich wenigstens eine ungefähre Vorstellung machen, wie Luca Bonelli ausgesehen haben musste. Zumindest was das Äußere anging, hatte er seinen Kindern nicht das Schlechteste vermacht.

Steele legte das Foto vorsichtig, wie einen zerbrechlichen Gegenstand, zurück auf den Tisch und stand auf.

»Luca hat übrigens immer nur mit größtem Respekt von Ihnen gesprochen«, sagte er. Dann holte er den Scheck aus der Tasche und reichte ihn der Frau.

»Und er hat auch nicht nur Luftgeschäfte getätigt. Das ist sein Anteil aus der Sache, die er mit mir in die Wege geleitet hat.«

Die Frau schaute auf den Scheck, wurde angesichts der eingetragenen Summe blass und warf das Papier dann auf den Tisch.

»Ich will keine Almosen. Und ich will nichts geschenkt«, fauchte sie.

»Sehe ich aus wie jemand, der solche Summen verschenken kann? Das ist Lucas Anteil. Fünfzig Prozent. Und wenn Sie es genau wissen wollen, habe ich meine vollen Unkosten von seiner Summe abgezogen. Also direkt ein Geschäft für mich.«

»Eh, ja, dann …«

»Noch eins. Ich weiß, dass Luca Freunde hatte, die ich, sagen wir nicht mochte, und die nicht unbedingt zu den erfreulichen Erscheinungen gehören. Es wäre besser, wenn Sie Ihren Mädchennamen wieder annehmen würden und in eine neue Wohnung ziehen. Nur für den Fall …«

 

Steele brauchte eine Karte, und als er eine hatte, suchte er nach San Piero in Bagno. Wenn er irgendeine Chance haben wollte, Pinazzi zu finden, dann musste er genau dort ansetzen.

Nachdem er sich einen anderen Wagen verschafft hatte und etwa dreißig Kilometer auf der 67 in Richtung Forl gefahren war, hielt Jeremy Steele an. Er fühlte sich zugleich müde und fast krankhaft erregt. Langsam wurde ihm bewusst, dass er in den letzten vierundzwanzig Stunden systematisch einen Fehler an den anderen gereiht hatte. Er hatte eine Menge Staub aufgewirbelt und nichts, aber auch gar nichts dabei erreicht. Er hatte einigen Männern das Lebenslicht ausgeblasen, eine Tatsache, die Steele moralisch weder positiv noch negativ bewertete, die aber praktische Auswirkungen haben mochte. Die Polizei konnte ein reales Problem werden und ebenso die Freunde – oder Feinde – Cottentinis. Was hatte er damit erreicht? Nichts, im Grunde. Er kannte den Ort, an den Pinazzi gebracht werden sollte und den Namen eines weiteren Ortes, aus dem ein Fahrer des Transportwagens angerufen und seiner Frau mitgeteilt hatte, dass etwas schief gegangen war. Aber was war schief gegangen?

Vielleicht bedeutete es ja, dass Pinazzi unterwegs schon das Zeitliche gesegnet hatte.

Vielleicht suchte Steele inzwischen einen Schatten der Unterwelt, ein Phantom, einen Namen, der aus den Akten getilgt war. Steele schloss die Augen und presste die Fingerspitzen an seine Schläfen. Egal wie er die Sache anging, seine Gedanken glitten immer wieder in dieselben Bahnen, knallten wie die Kugeln eines Flipperspieles ständig an die gleichen Hindernisse, prallten ab und kullerten in dieselben Fallen, selbst wenn er sich bemühte, einen neuen Aspekt einzuführen. Dieser Tag war wie ein Schachspiel – zehntausend Möglichkeiten der Eröffnung bedingten einige Millionen möglicher Fehlentscheidungen im zweiten Zug. Und jede Möglichkeit stieß ein boshaftes Summen aus, sodass es hinter seiner Stirn sauste und surrte wie in einem Hornissennest. Langsam dämmerte es Jeremy Steele, dass er sich in eine Selbstblockade manövriert hatte. Er konnte hier noch stundenlang stehen, bis ein Polizist kam und ihn höflich nach den Papieren fragte und vielleicht begann, weitere Fragen zu stellen, weil etwas mit der Nummer des Personalausweises unklar war und es eine Reihe von Phantombildern gab, von dem der Kerl, der die Florentiner Halbwelt etwas übersichtlicher gestaltet hatte.

 

Es hatte alles keinen Zweck. Er musste handeln, selbst wenn er das Falsche tat. Steele nestelte in seiner Jacke und brachte eine kleine Dose zum Vorschein. Er entnahm ihr drei farblose runde Pillen und spülte sie mit einigen Schlucken aus einer Mineralwasserflasche herunter.

Die Wirkung setzte schlagartig ein. Seine Hände begannen zu zittern, aber das war jedes Mal so und störte nicht weiter. Dafür versorgte ihn das Pervitin-Derivat mit jener geistigen Klarheit, die einem Mann in seinem Zustand ansonsten nicht vergönnt wäre. Er musste seine Nieren mit mehreren Litern Flüssigkeit durchspülen, er durfte nicht übermütig werden und er musste sich bewusst sein, dass die Wirkung der Pillen in etwa zehn Stunden nachlassen und ihn ihm Zustand eines körperlichen Wracks zurücklassen würde. Bis dahin war die Angelegenheit sowieso entschieden. Topp oder hopp – und ein Mann mit seiner ausgezeichneten körperlichen Verfassung und seiner medizinischen Kenntnis konnte sich des Pervitins gefahrlos bedienen und überhaupt, was machte es für einen Unterschied, wenn ihm auch heute noch die Nieren wegplatzten oder die Venen ausbeulten?

Die Straße nach Londa bog von der 67 nach rechts ab. Anfang der achtziger Jahre war Steele zuletzt zum Wandern in dieser Gegend gewesen, damals hatte diese Straße noch nicht existiert. Er durchquerte Londa, fand tatsächlich etwas außerhalb des Ortes eine teuer aussehende Privatklinik und erkundigte sich nach einem Ido Pinnazi.

 

Die schnippische Antwort der jungen Dame, die neben der Eingangstüre hinter einer Batterie von Schaltern, Knöpfen und Monitoren wie eine Komparsin aus einer Star Trek-Folge, lautete: »Selbst wenn er hier wäre, würden Sie es von mir nicht erfahren. Das gehört zu unserem Service.« Steele nickte demütig und verzichtete auf den Beweis, dass er von ihr alles erfahren würde, wenn er nur wirklichen Wert darauf legte. Er hatte nie ernsthaft damit gerechnet, Pinazzi hier zu finden. Londa war lediglich der Name, mit dem er geködert und aus dem Hospital gelockt werden sollte.

Aber wohin gelockt? Steele fuhr die Steilstrecke in der Nähe des Monte Cucco hoch und dann das bremsenfressende Gefälle herunter, bis er Stia erreicht hatte. Von hier aus konnte er auf der Straße bleiben, bis er bei Bibbiena auf die Staatsstraße 71 stieß, und auf dieser konnte er dann nach San Piero in Bagno fahren. Die Alternative bestand darin, schon in Stia nach links abzubiegen und auf dieser kurvigen, teils steilen Nebenstrecke nach San Piero zu gelangen.

Welchen Weg würden zwei Männer wählen, die einen Todkranken transportierten? Sie würden über die 71 fahren, logisch. Aber diese beiden Männer hatten einen eher verschwiegenen Auftrag, wollten nicht auffallen und keinen Polizeistreifen begegnen. Also fuhren sie über die Nebenstrecke, logisch. Aber diese beiden Männer waren kaltschnäuzig, sie waren sich ihrer Sache sicher. Also fuhren sie über die 71, logisch. Aber diese beiden Männer sollten den Todkranken vielleicht so lange durch die Landschaft kutschieren, bis er endgültig die Schwelle überschritten hatte. Also würden sie über die Nebenstrecke fahren.

Steele wischte alle Bedenken beiseite und fuhr über die Nebenstrecke. Wenn er schon keine Grundlage für seine Entscheidung hatte, wollte er sich wenigstens den Spaß gönnen, über die kurvige Straße zu fahren. In Santa Sofia bog Steele nach rechts ab und hatte nur noch etwa zehn Kilometer bis San Piero. Wenn man nicht weiß, wonach man sucht, dann ist es kein Wunder, wenn man es übersieht. So ungefähr ging es Steele. Seine Fahrt gab ihm die Illusion, noch auf einer Fährte zu sein. Aber tatsächlich war er ein Jagdhund, der weiterrannte, obwohl seine Nase schon längst die Spur verloren hatte. Einige Kilometer vor San Piero hatte die Straße wieder ein starkes Gefälle. Die Straße führte in engen Windungen durch eine herrliche bewaldete Landschaft, aus der einige Felswände herausragten.

 

Das Fahren machte Spaß. Steele hatte zwar nur einen recht müde motorisierten Mittelklassewagen, aber der lag zumindest gut auf dem Asphalt und darauf kam es auf dieser Strecke an. Mit wimmernden Reifen stach Steele in die Kurven, ließ den Motor in hohen Drehzahlen heulen und genoss, als wäre es ein besonderes Kunstwerk in einem Museum, die Perfektion, mit der er den Wagen auf der schmalen

Kante zwischen Abdriften und maximaler Geschwindigkeit vorwärtstrieb. Jede Kurve war wie eine genial gezeichnete Linie. Ohne es zu merken, rutschte Steele in die Falle seines Pervitin-Derivates. Er fühlte sich sicher, wo dieses Gefühl nicht mehr angebracht war. Seine Reaktionen waren blitzschnell, aber sein Sicherheitsgefühl überholte sie und lockte ihn in den Gefahrenbereich. Als Jeremy Steele die letzte enge Kurve durchfuhr und den stehenden Lastwagen vor sich sah, war der Moment der Wahrheit gekommen. Steele drückte sich in seinen Sitz und spürte, wie etwas in der Rückenlehne unter dem Druck zerbarst, während er zugleich das Bremspedal auf das Bodenblech rammte. Die Reifen radierten jaulend über die Straße, schwarze Streifen markierten den Beginn des Bremsmanövers und aus den Radkästen schoss weißlicher stinkender Qualm. Der Auflieger des Lastwagens kam unaufhaltsam näher, eine Gummischnur schien die massive Prallplatte und den Kühler von Steeles Wagen mit schicksalshafter Notwendigkeit aufeinander zuzuziehen. Als er keine andere Chance mehr sah, riss Steele das Lenkrad herum, zwang seinen Wagen in eine quietschende Wendung und rutschte breitseits auf das Hindernis zu. Dann eine weitere Drehung und Vollgas.

Steele presste den Kopf gegen die Kopfstütze und stelle fest, dass er versäumt hatte, sie richtig einzustellen und dass sie ihm beim Aufprall den Nacken eher brechen, als ihn schützen würde. Aber der Aufprall blieb aus, der Wagen machte einen Satz vorwärts und beschleunigte mit durchdrehenden Rädern. Der Fahrer des Lastwagens hatte die eindeutige Geräuschkulisse gehört und sprang mit einem Satz aus der Kabine. Mit großen Augen betrachtete er die Reifenspuren.

Unterdessen drehte Steele und stellte sich geradezu spießbürgerlich exakt hinter den LKW.

Angesichts der Tatsache, dass er nicht der einzige Fahrer war, der manchmal zu schnell um die Ecke bog, zog es Steele vor, auszusteigen.

»Alles klar?«, fragte der Lastwagenfahrer und grinste.

Steele nickte und grinste zurück. Nichts war klar. Sein Herzschlag lag bei etwa 190, und erfahrungsgemäß würde es lange dauern, bis er wieder auf ein erträgliches Maß fiel. Steele verfluchte die Notwendigkeit, sich mit chemischen Hilfsmitteln wach halten zu müssen. Laut sagte er aber: »Alles klar. Nur die Reifen haben gelitten.«

»Ist auch eine Scheißstelle. Hier kracht es einmal im Monat und das seit einem halben Jahr. Irgendwelche Penner werfen die Baustellenschilder immer wieder um. Na ja, so in drei Minuten springt die Ampel um.«

Der Lkw-Fahrer stiefelte auf seinen Clogs zurück, kletterte auf seinen Sitz und ließ den Motor an.

 

Jetzt erst entdeckte Steele die Ampel, die am Beginn einer einspurigen Baustellendurchfahrt stand. Er hatte keinen Bedarf nach einer Unterhaltung und war froh, selber einzusteigen und weiterfahren zu können. Die Baustelle war mehr als einen Kilometer lang, und da der Gegenverkehr eine Steigung zu bewältigen hatte, auf der jeder Lastwagen kaum mehr als Kriechgeschwindigkeit erreichen konnte, mussten die Ampelphasen entsprechend lang sein. Das war akzeptabel. Weniger akzeptabel schien Steele die Tatsache, dass weit und breit keine Aktivität auf der Baustelle zu bemerken war. Einige Baumaschinen standen auf dem Schotterbett neben der Fahrbahn, aber kein Mensch war zu sehen. Und die Frontscheibe dieser Straßenwalze war derart verschmutzt, dass sie seit Wochen nicht mehr in Betrieb gewesen sein konnte. Endgültige Gewissheit verschaffte Steele der Anblick eines aufgeschütteten Erdhaufens, auf dem sich inzwischen eine Ansammlung der hiesigen Flora breitgemacht hatte, die jeden Botaniker in Verzückung versetzt hätte. Irgendwann hatte ein Unwetter einen Bergrutsch ausgelöst, und der hatte einen Teil der Straße mitgerissen. Dann hatte man mit den Reparaturen begonnen und dann … Steele verzog sarkastisch den Mund.

Die Bürokratie war in der Lage, sich selbst bis zur völligen Verfettung zu vermehren, aber für eine Straßenreparatur sorgen konnte sie nicht. Hauptsache, die Ampel funktionierte. Dann vernahm Steele das Echo eines Gedankens und hielt am Straßenrand an. Er war fast schon in San Piero in Bagno. Was war das für ein Gedanke. Steele musste lauschen wie auf das Pfeifen eines seltenen Vogels. Es war kein Gedanke. Es war ein Bild. Es war das Bild eines Krankentransportwagens, der vor einer einsamen Ampel steht. Der vielleicht scharf gebremst hatte. Der vielleicht dadurch den Kranken geweckt hatte …

 

Ja, das war es. Nur eine Möglichkeit, eine Hypothese, aber es war der einzige Zug unter Millionen, der ihn vielleicht zum Erfolg bringen konnte. Steele wendete und fuhr zurück. Er wartete an der Ampel. Unerträgliche neun Minuten dauerte die Rotphase. Neun Minuten, die entscheidend sein mochten. Oben stellte Steele den Wagen wieder ab und versuchte, das Bild, das er gesehen hatte, mit der Wirklichkeit in Einklang zu bringen. Rechts der Straße war eine leicht ansteigende felsige Böschung, die in einen steilen bewaldeten Hang überging. Links der Straße war ein Streifen von drei oder vier Metern Breite, auf dem Gras und Unkraut wucherten.

Dahinter fiel ein sanfter Hang zu einer weit unten liegenden sumpfigen Senke ab. Zwischen saftig grünem Kraut und Gras konnte er einen bleigrau schimmernden Wasserlauf erkennen. Das Tal war auf drei Seiten von dichtem Wald umgeben.

Mit zusammengekniffenen Augen versuchte Steele, sich eine Szene deutlich zu machen: Der Transportwagen hält. Pinnazi hat inzwischen Klarheit darüber gewonnen, dass die Fahrt nicht nach Londa geht. Er nimmt alle Kraft zusammen, öffnet die Wagentür und klettert hinaus. Wenn er es geschickt machte, konnten die Männer hinter der Trennwand zuerst einmal überhaupt nichts merken.

Wohin wendet sich ein todkranker Mann in einer solchen Situation? Zu Steeles Voraussetzungen gehörte, dass weit und breit kein anderer Wagen zu sehen war. Und diese Voraussetzung war nicht aus der Luft gegriffen, wie er selbst feststellen konnte. Der Kranke würde nicht versuchen, die Böschung hochzuklimmen. Er würde es vermutlich nicht einmal können. Nein, er würde sich dorthin wenden, wo ihm die Schwerkraft die Flucht erleichterte.

Den Hang herunter und durch die Senke. Der fliehende Kranke würde sich nicht von dem Wasserlauf abhalten lassen. Vielleicht würde er versuchen, sich im Gras zu verstecken.

Steele setzte sich in Bewegung und stapfte den Hang herunter. Der Boden war fest, man konnte hier auch mit größerer Geschwindigkeit hinablaufen. Aber Pinnazi war dazu wohl nicht mehr in der Lage gewesen. Vielleicht ließ er sich einfach fallen und rollte bis in die Senke. Was war unterdessen oben auf der Straße geschehen? Ein Windstoß hatte die Hecktüren klappern lassen, oder einer der Männer hatte im Rückspiegel die offene Türe entdeckt oder ihnen war die Veränderung des einfallenden Lichtes durch die Milchglasscheibe oben an der Trennwand aufgefallen. Bis hierhin waren sie sich der Sache sicher. Nun gerieten sie in Panik. Sie sprangen aus dem Wagen und schauten sich um. Sie brauchten einige Sekunden, um die Gegend anzuschauen und ihre Schlüsse zu ziehen. Bis dahin konnte Pinnazi schon unten im Tal sein.

So wie jetzt Jeremy Steele. Pinnazi würde sie bemerken, sie würden schreien, vielleicht würde einer auf ihn schießen. Der Kranke würde sich aufraffen und auf dem schnellsten Weg in Deckung gehen. Deckung bedeutete der Wald. Inzwischen musste sich Steele durch mannshohes Gras arbeiten, und seine Füße versanken bis über die Knöchel im weichen Boden. Es war nicht leicht zu laufen, vor allem nicht für einen Kranken. Der Wasserlauf entpuppte sich als mehrere Meter breiter, aber flacher Bach. Der Grund war von festem Sand und Kies bedeckt, die Ufer beiderseits flach. Es machte also keine Probleme, auf die andere Seite zu gelangen. Von dort waren es noch einige dreißig Meter bis zu den ersten Bäumen.

Als Steele die ersten Stämme erreichte, sah er auch den schmalen Weg, der sich hinter ihnen lang zog.

Ein eigentlicher Weg war es nicht, im Grunde waren es zwei ausgefahrene Traktorenspuren, zwischen denen Gras wuchs, bis auf einige Stellen, wo die Spuren tief im Boden versanken, und die Maschine den Boden dazwischen blank gescheuert hatte. Frage: Wohin wendet sich ein Fliehender in solch einer Situation? Pinnazi war Rechtshänder und Steele war sich sicher, dass eine Neunzigprozentchance bestand, dass er sich nach rechts gewendet hatte.

Steele wandte sich nach links. Pinnazi war krank, er war am Ende, aber er war ein lästiger Schwätzer, der immer noch einen Trick mehr auf Lager hatte. Wie lange konnte sich Pinnazi noch weiterschleppen? Lagen seine sterblichen Überreste vielleicht gar irgendwo hinter einem Gebüsch? Langsam schritt Steele vorwärts und suchte den Weg nach Spuren ab. Aber was sollten das für Spuren sein?

Plötzlich hörte er aus der Ferne das Kreischen einer Motorsäge. Waldarbeiter. Falls Pinnazi diese Geräusche auch gehört hatte, war das sicherlich seine Richtung gewesen.

Der Adrenalstoß seines Beinahe-Unfalls hatte die Wirkung des Pervitin-Derivates aufgezehrt.

Steele spürte Erschöpfung und Müdigkeit, obwohl sein Herz immer noch heftig hämmerte. Er stolperte über Wurzeln und trat ungeschickt in Löcher, während er dem Geräusch folgte. Irgendwo in seinem Gehirn gab es eine Instanz, die Einspruch anmeldete, weil sich das Geräusch der Kettensäge nicht veränderte, so als würde nicht wirklich damit gearbeitet. Steele arbeitete sich weiter vor und hatte schon den scharfen Geruch des Zweitakterabgases in der Nase. Zwischen den Bäumen erkannte er einige Gestalten. Die übellaunige Instanz in seinem Hirn versuchte darauf hinzuweisen, dass diese Gestalten sehr kräftig und breitschultrig aussahen und wenig Ähnlichkeiten mit dem Durchschnittswaldarbeiter hatten. Inzwischen wurde Steele nur noch von einem längst verklungenen Impuls weitergetrieben und agierte wie eine Marionette. Er war nicht mal mehr in der Lage, sich über die Idiotie seiner Drogeneinnahme bei sich selbst zu beklagen.

 

Neben ihm krachte ein trockener Ast unter dem Tritt eines Mannes. Steele drehte sich und registrierte im selben Moment ein helles Licht, das vor seinen Augen zu explodieren schien. Steele kannte diesen Effekt, der sich immer dann bei Person B einstellt, wenn Person A Person B mittels Nackenschlag in einen künstlichen Schlaf schickt.

Der Boden klappte zur Seite wie eine plötzlich aufgerissene Tür, Steele betrachtete ein Blatt, das auf ihn zustürzte und dachte daran, dass er tatsächlich auf der richtigen Spur war, und dass ihm dies nichts mehr nutzen würde, weder jetzt noch in aller Ewigkeit.

Ende des 4. Bandes