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Der Detektiv – Das Orakel des Gubdu-Steins – 2. Kapitel

Walter Kabel
Der Detektiv
Kriminalerzählungen, Verlag moderner Lektüre GmbH, Berlin, 1920
Harald Harst gegen Cecil Warbatty
Des berühmten Liebhaberdetektivs Abenteuer im Orient
Das Orakel des Gubdu-Steins

2. Kapitel

Der dicke Chinese

Ich fand nur eine einzige Anzeige, die mir beachtenswert erschien und die eines gewissen geheimnisvollen Anstrichs nicht entbehrte. Sie war klein und unscheinbar, stand in der Rubrik Vermischtes.

Die Dame, die sich über den Gubdu-Stein erkundigte, wird um Angabe gebeten, ob sie noch gewillt ist, das Bisherige unter anderen Voraussetzungen als erledigt zu betrachten. Nachricht erbeten in dieser Zeitung mit den Anfangsbuchstaben des Namens als Kennzeichen.

Ich überlas dieses Inserat immer wieder, prüfte jedes Wort. Aber je mehr ich mich anstrengte, dem Inhalt eine andere, versteckte Deutung zu geben, desto klarer wurde mir, dass dies für mich unmöglich war, wusste ich doch nicht einmal, was es mit dem Gubdu-Stein für eine besondere Bewandtnis hätte. Ich gab diese Sache also auf und vertiefte mich in die Erinnerung an das, was ich soeben aus dem Mund der unglücklichen Frau gehört hatte. Wahnsinnig sollte Doktor Doogston sein, nicht zurechnungsfähig. Harst hatte dies bereits seit Langem vermutet, hatte den Gedanken jedoch wieder verworfen, sodass ich den Eindruck gewann, dieses Schwanken in seiner Beurteilung des Seelenzustandes von Warbatty könnte nur auf starke Widersprüche in den Krankheitserscheinungen zurückzuführen sein.

Drinnen im Zimmer klappte eine Tür; Harsts Schritte waren ebenso hastig. Es war sonst nicht seine Art, Türen zuzuwerfen.

»Koffer packen!«, rief er mir zu, ohne sich zu zeigen.

Ich eilte ins Zimmer. Er stand unter der elektrischen Lampe, die er angedreht hatte, und hielt eine fotografische Platte gegen die Lichtquelle der starkkerzigen Birne. Die Platte stammte aus seinem Liliput-Apparat einer amerikanischen Erfindung von Uhrgröße und hatte eine Abmessung von 3 mal 3 Zentimeter.

»Koffer packen!«, wiederholte er und nickte mir flüchtig zu. »Wir fahren um 11 Uhr nach Lahore, werden dort den Gubdu-Stein besichtigen …«

Ah – da war es: Gubdu-Stein!

»Die Anzeige in der Zeitung!«– sagte ich nur. Und ich sagte es mit gewissem Stolz.

»Natürlich – was sonst!«, lautete seine Entgegnung.

Ich ging in unser gemeinsames Schlafzimmer. Harst folgte mir nach wenigen Minuten und half mir, unsere Koffer zu füllen, und meinte dabei: »Ich habe ein Auto bestellt. Es erwartet uns vor der Stadt. Die Koffer bringt ein Diener Albströms heimlich an die vereinbarte Stelle. Mach fix, mein Alter, sonst überrascht uns dieser übergewissenhafte Blunk doch noch hier mit einer polizeilichen Vorladung oder einem Haftbefehl.«

Nun – Blunk kam zu spät. Gerade als wir durch den hinteren Ausgang das Hotel verließen, erschien er – wir sahen ihn noch durch die Glastür – in der Vorhalle mit drei Beamten. Und fünfzehn Minuten später saßen wir schon in einem neuen Kraftwagen und rasten nach Süden zu davon, bogen dann jedoch in die Hauptstraße nach Delhi ab, änderten bald nochmals die Richtung und kamen in Beschaurir, einer Haltestelle der Hauptstrecke nach Lahore, fast gleichzeitig mit einem Personenzug an, bestiegen diesen in einer unterwegs angelegten Verkleidung als ältere Mohammedaner, erwischten noch ein leeres Abteil 1. Klasse, drückten dem Schaffner ein gutes Trinkgeld in die braune Hand und blieben bis Lahore allein, sodass Harst bis zuletzt lang ausgestreckt auf der einen Polsterbank schlafen konnte. Ich hatte ihn gebeten, mir über den Gubdu-Stein Aufschluss zu geben. Er jedoch hatte gähnend gemeint: »Wozu das? Du wirst ihn mit eigenen Augen sehen.«

Ob er wirklich schlief, blieb mir zweifelhaft. Vielleicht wollte er nur Ruhe zum Nachdenken haben. Dass er mit geschlossenen Augen dalag, wollte wenig bedeuten.

Bei unserer Ankunft in Lahore stellte er sich dann ans Fenster halb hinter die Gardine und beobachtete das Leben und Treiben auf dem modernen großen Bahnhof. Plötzlich trat er zurück, ergriff seinen leichten Koffer und sagte: »Wir müssen auf der falschen Seite aussteigen. Der Bahnhof wird von Polizei überwacht. Das gilt uns, lieber Alter …«

Der Zug hielt. Auf dem Nebengleis standen zwei halb gefüllte, offene Wagen mit Kohlen. Wir schlüpften zwischen ihnen hindurch und dann in die Bremserkabine hinein, die den einen wie ein Turm überragte. Fünf Minuten darauf legte sich eine Maschine vor die Wagen und schob sie als Letzte an einen Güterzug heran, sodass wir uns nun ein Stück außerhalb des Bahnhofs befanden und die Gelegenheit abpassen konnten, unser Versteck unbemerkt zu verlassen.

Ich erwähne diesen Aufenthalt in dem Bremsertürmchen deswegen, weil Harst, als wir dort dicht nebeneinander auf dem Boden hockten, plötzlich redselig wurde.

»Die Angelegenheit Doktor Doogston hat plötzlich ein ganz anderes Aussehen bekommen«, begann er nämlich und lächelte mich zufrieden an. »Wir werden hier, scheint mir, eine Überraschung erleben, wie wir sie uns nie träumen ließen – nie! Ich habe all die Stunden während der Fahrt darüber nachgegrübelt, wie man die Widersprüche in »Warbattys« Charakter zwanglos, das heißt möglichst logisch lösen könnte. Eine Frau, die so sehr an ihrem Gatten trotz all den furchtbaren Ereignissen hängt und die wie Frau Elizabet eine durchaus gesund empfindende, keineswegs hysterische Person ist, bietet eigentlich in dieser ihrer unwandelbaren Liebe die beste Gewähr dafür, dass ihr Mann kein Scheusal sein kann. Und doch muss man Doktor Doogston ja leider in seiner Verbrecherrolle als ein solches bezeichnen. Es käme also nur periodischer Wahnsinn unter Ausschaltung des wahren Wesens bei diesem genialen Bösewicht infrage. Dies anzunehmen, sträubt sich mein Hirn. Gewiss: Doppelnaturen mag es zuweilen geben. Hier aber müsste man geradezu von einer doppelten Persönlichkeit sprechen. Und eine solche Unterstellung stößt auf wissenschaftlichen Widerspruch. Ohne fremde Einflüsse ist eine solche doppelte Persönlichkeit, vereint in einem einzigen Körper, äußerst selten zur Entstehung gelangt. Es wird also unsere Aufgabe sein, diese fremden Einflüsse zu ergründen. Vielleicht finden wir sie sehr bald. Deshalb sprach ich auch von ungeahnten Überraschungen. Weißt du, was die kleine fotografische Platte enthielt, die ich in Amritsar vormittags gegen das elektrische Licht hielt? Nichts anderes, als das in einem günstigen Moment geknipste Brustbild eines Mannes, der für Frau Doktor Doogston schon vorgestern so viel Interesse hatte, dass er wie ich abends in den Büschen des Parkes Holger Albströms herumkroch. Der Mann ist ein schlanker, sehniger Hindu mit prachtvollem schwarzen Bart. Als ich heute Frau Doogston nach Hause begleitete, war er auch wieder zur Stelle, und im Gedränge der Basarstraße hat mein Liliput dann von ihm vier verschiedene Aufnahmen gemacht, die ich sofort danach entwickeln ließ. Vier Aufnahmen, und alle leidlich gelungen. Die beste zeigt ihn von vorn in halber Körpergröße.« Er richtete sich auf, schaute durch das Fenster. »Die Luft ist rein. Fort mit uns.« Er nahm seinen Koffer, und im Trab gelangten wir über die Schienenstränge auf einen Kohlenlagerplatz, wo uns ein Farbiger dann einen Ponywagen besorgte. Wir hatten dem Lenker befohlen, uns zu einem Fremdenheim zu bringen. Er wusste gut Bescheid und das Quartier, das wir nun bezogen, war sauber und behaglich, obwohl der Wirt ein Chinese mit fettglänzendem Gesicht und ebenso speckigem Anzug war. Die Fenster unserer zwei Zimmer gingen zu dem Schalimar, dem Haus der Freude hinaus, den berühmtesten Gartenanlagen der Welt, die sich in drei endlosen Terrassen dahinziehen und nicht weniger als 450 Springbrunnen aufweisen, von denen die meisten Kunstwerke in Marmor sind.

Wenn je der ganze Zauber Indiens übermächtig mein Herz bewegte, dann war es in dem Augenblick, als unser Chinamann uns auf das Dach seines Hauses führte und mit stummer Handbewegung auf den Schalimar deutete, der hundert Meter entfernt vor uns lag. Ich war überwältigt. Überall leuchtete zwischen dem Grün der Bäume und der Farbenpracht von riesigen Teppichbeeten der weiße Marmor der Fontänen auf; überall standen außerdem zierliche Pavillons wie reizende Kinderspielzeuge. Nur eins war mir unklar: der Name dieser den Blick berauschenden Schönheitsfülle. Weshalb Schalimar, Haus der Freude? Ich wandte mich an Mi Kao, unseren Wirt, und bat um Auskunft hierüber, da Harst bis dicht an den Rand des Daches herangetreten war und auf die Straße hinabschaute.

Der Chinese dienerte. »Dort im Osten des Parkes hat einst der dazu gehörige Palast gestanden«, erklärte er. »Aber er und viele andere Prachtbauten aus der Zeit, als Lahore noch die Residenz des Großmoguls war, sind bei der Eroberung des Landes durch die fanatischen Sikh zerstört worden. Das heutige Lahore ragt auch nur deshalb so hoch über die Ebene ringsum heraus, weil es auf den Ruinen der alten Hauptstadt errichtet worden ist.«

In diesem Augenblick rief Harst mir zu: »Komm doch einmal her, Mahomed Bakra.« So hatte ich mich für meine derzeitige Rolle als reicher indischer Muslim getauft.

Ich ging bis zum Rand des Daches. Die Straße unten war einer der lebhaftesten Verkehrswege der großen Stadt. Gerade gegenüber befand sich ein Kaffeehaus mit hübschem Dachgarten. Die Tischchen dort waren von einer Zeltleinwand überspannt. Trotzdem konnten wir von unserem Standort aus zwei der Tischreihen überblicken. In einer durch Schlingpflanzen gebildeten Laube an der linken Seite saßen zwei Inder, die europäische Kleidung trugen. Der eine hatte einen prächtigen, dunklen Vollbart; der andere einen kürzer gehaltenen, bereits leicht ergrauten. Beide Männer hatten breitrandige Strohhüte mit hochgewölbter Krempe von jenem Faserstoff auf, der federleicht und doch dauerhaft wie Leder ist. Sie flüsterten mit zusammengesteckten Köpfen sehr eifrig und kümmerten sich nicht im Geringsten um ihre Umgebung.

Harst hatte mich auf die beiden aufmerksam gemacht.

»Sieh dir den Kleineren recht genau an«, meinte er nun.

Der besondere Ton der Worte genügte. »Doktor Doogston?«, erwiderte ich schnell.

Er nickte nur. »Ja, er und der Mann, den ich in Amritsar viermal geknipst habe.« Er zog mich vom Rand des Daches zu der Luke hin, wo der dicke Chinamann mit schlauem Grinsen uns erwartete.

Er dienerte wie ein wackelndes Stehaufmännchen und meinte mit vertraulichem Zwinkern seiner winzigen Schlitzaugen: »Mi Kao ist sehr verschwiegen. Falls die hohen Gäste meines unwürdigen Hauses mich bei ihren Geschäften gebrauchen könnten, ist Mi Kao gern bereit, seine Orts- und Menschenkenntnis gegen geringen Lohn in ihren Dienst zu stellen.«

Harst blickte den Chinesen, der englisch gesprochen hatte, scharf an.

»Bei unseren Geschäften? Wofür hältst du uns denn, Mi Kao, he?«

»Für Gäste, die vielleicht morgen anders aussehen als heute und einen Ausweis vom Leutnant-Gouverneur (oberster Beamter einer Division) bei sich tragen«, meinte der Speckige unterwürfig grinsend.

»Vielleicht ist es so!«, meinte Harst mit Betonung. »Richte dich danach und verschließe deinen Mund!«

Der Chinese bücklingte eifriger. »Meine Lippen sind wie die eines steinernen Götzen, hochwürdiger Gast, wenn es sein muss. Ihr seid vielleicht bei mir abgestiegen; des Gubdu-Steins wegen. Ja, die ganze Stadt war heute früh in Aufregung, als der seltsame Vorfall entdeckt wurde«, schnatterte er kurzatmig weiter. »Niemand begreift, wie der mächtige Granitblock so plötzlich hat abstürzen können. Besonders die Hindu hier, die doch den Stein als heilig verehren, nehmen das Ereignis als schlechte Vorbedeutung und befürchten irgendein großes Unheil. Doch was rede ich von alledem. Die hohen Gäste meines armseligen Hauses werden all das viel besser wissen als ich …«

Harst kletterte durch die Dachluke auf die abwärtsführende Treppe. Erst vor dem Eingang zu unseren Zimmer sagte er dann zu dem Chinesen: »Tritt mit uns ein, Mi Kao!«

Er schloss dann die Tür hinter uns ab. Ich sah es dem Dicken an, dass er ängstlich geworden war; seine Schlitzaugen irrten im Zimmer unstet hin und her.

Harst pflanzte sich jetzt dicht vor ihm auf. »Wenn du uns wirklich für verkleidete Polizeibeamte gehalten hättest, würdest du nicht Dinge über den Vorfall mit dem Gubdu-Stein erwähnt haben, die uns als Detektive notwendig bekannt sein mussten. Nein, dass wir verkleidete Europäer sind, hast du durchschaut, aber für Beamte hältst du uns nicht. Du wolltest nur so etwas auf den Strauch schlagen …«

Der Chinamann hob wie beschwörend die Arme. Doch Harst fuhr schon fort: »Lüge nicht! Hier stimmt irgendetwas nicht. Auch deine Hilfe botest du uns nur an, um vielleicht aus unserer Antwort herauszuhören, wer wir eigentlich seien.«

Ich lauschte gespannt. Ich erkannte in Harst nun wieder einmal den überlegenen Geist und scharfen Beobachter, dem nichts Auffälliges entgeht.

»Bevor ich nicht die Wahrheit weiß«, hatte er hinzugefügt, »verlässt du diesen Raum nicht! Merke dir das! Weshalb also wolltest du uns aushorchen?«

Der Chinese wand sich förmlich vor Unterwürfigkeit und steckte ein harmlos-biederes Lächeln auf. »Oh – aushorchen! Niemals – niemals!«, quäkte er mit seiner belegten Stimme.

Harst langte in die Tasche und holte gemächlich seinen Revolver hervor, machte mir ein Zeichen und erklärte: »Wir werden dich binden und knebeln, Mi Kao! Hier ist irgendeine Teufelei im Gange. Dann verlassen wir schleunigst dein Haus.«

Der Dicke schwitzte vor Angst. Sein Gesicht verzerrte sich. »Ehrenwertester Gast, man wird mir das Fremdenheim schließen!«, jammerte er. »Die Polizei wird sagen, ich habe Euch gewarnt und mich bestechen lassen. Oh – ich bin ruiniert, ich bin arm gemacht, ich bin tot, ich sterbe …«

»Aha, also die Polizei weiß bereits, dass wir hier sind! Jetzt ist mir alles klar!«, fiel Harst ihm ins Wort. »Gib nur zu: Es ist auf die Ergreifung zweier Männer von Amritsar aus eine Belohnung dem zugesichert worden, der …«

»Tausend Rupien!«, röchelte der Dicke verzweifelt.

»So – wir stehen ja hoch im Kurs!«, sprach Harst freudig. »Nun, ich zahle dir die gleiche Summe, Mi Kao, wenn du uns so verbirgst, dass niemand uns findet.«

»Es ist zu spät!«, stöhnte der Chinese. »Der Anschlag in der Stadt mit der ausgesetzten Belohnung erfolgte um drei Uhr nachmittags. Deshalb war auch der Besitzer des Ponywagens, der Euch zu mir brachte, sofort argwöhnisch geworden, weil Ihr vom Kohlenplatz am Bahnhof …«

»Schon gut. Du sollst 2000 Rupien haben, Mi Kao. Hier sind sie. Nun schnell. Entscheide dich!«

Der Dicke griff nach den Banknoten. »Folgt mir«, meinte er. Er lauschte erst in den Flur hinaus. Dann führte er uns in den kleinen, von den Mauern der Nachbargebäude abgesperrten Garten, der für seine geringe Größe viel zu dicht mit Bäumen und Büschen bepflanzt war. In der hintersten Ecke gab es einen offenbar sehr alten, ausgemauerten Brunnen, der nun als Abfallgrube benutzt wurde. Der Chinese schleppte eine Leiter herbei, deutete hinab und sagte: »Dort nach Norden zu findet Ihr ein Loch in der Brunnenwand. Kriecht nur hindurch, es erweitert sich sehr bald und mündet in einen Hauptarm der alten Kanalisation der ehemaligen Residenz des Großmoguls. Laternen findet Ihr dort vor. Speise und Trank bringe ich Euch, sobald die Polizei wieder fort ist. Sie wird jeden Augenblick erscheinen. Der Besitzer des Ponywagens hat einen Bekannten unter den Polizisten, dem er …«

Harst stieg bereits die Sprossen hinab. Ich hielt mich dicht hinter ihm.

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