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Der Detektiv – Das Löschblatt von Amritsar – 2. Kapitel

Walter Kabel
Der Detektiv
Kriminalerzählungen, Verlag moderner Lektüre GmbH, Berlin, 1920
Harald Harst gegen Cecil Warbatty
Des berühmten Liebhaberdetektivs Abenteuer im Orient
Das Löschblatt von Amritsar

2. Kapitel

Der tote Advokat

Das Aufkreischen der sich an die Räder anschmiegenden Bremsen ließ Harst verstummen. Wir schauten uns vielsagend an. Der Zug fuhr langsamer, hielt mitten in einer unwegsamen Wildnis.

Harst war im Nu in den Beinkleidern, zog sich notdürftig an. Ich beeilte mich genauso. Wir traten in den Gang hinaus, liefen nach vorn, kamen in den zweitletzten Wagen, fanden hier den Zugführer, zwei Schaffner und zwei Reisende in erregtem Gespräch vor einer Kabinentür stehen.

Man teilte uns mit, dass in diesem Schlafwagenabteil Nr. 9 vor wenigen Minuten ein Schuss gefallen sei. Daraufhin hatte Master Halborne, der Inhaber von Nr. 8, die Notleine gezogen.

Harst schob den Zugführer, der abermals gegen die Tür mit der Faust donnerte, zurück und holte seinen dünnen Bohrer hervor.

»Ich verstehe mich auf solche Dinge«, meinte er zu dem verdutzten Beamten.

Der Riegel war bald zurückgedrückt. Harst öffnete die Schiebetür.

Nr. 9 war ebenfalls eine Luxuskabine. Das Licht darin war nicht abgeblendet. Wir alle sahen gleichzeitig auf dem Bett unter dem Moskitonetz einen Mann in einer Stellung liegen, wie sie kein Schlafender einnimmt.

»Schicken Sie die Neugierigen weg«, raunte Harst dem Zugführer, einem kleinen, hageren Engländer zu. »Ich bin Detektiv. Der Mann dort ist ermordet und beraubt worden.«

Gegen Harsts bestimmte Art wehrt sich niemand. Es ist eben die Macht der Persönlichkeit, die ihm Gewalt auch über Wildfremde gibt. Der Zugführer gehorchte.

Wir drei waren dann allein mit dem Toten. Harst hatte hinter uns und dem Beamten die Tür zugeschoben. Inzwischen hatte ich bereits bemerkt, dass der auf dem Bett Liegende an der Stirn eine kleine Wunde hatte und am Fenster am Boden ein offener Koffer stand, dessen Inhalt daneben ausgestreut war.

Der Zugführer ließ Harst auch weiterhin in allem freie Hand. Er war offenbar an derlei Vorkommnisse nicht gewöhnt und nun völlig ratlos.

Harst musterte noch immer von der Tür her den kleinen Raum, deutete nun auf das Fenster und sagte: »Von dort ist der Mörder eingedrungen. Die Vorhänge sind nicht angeknöpft.«

Dann beugte er sich über den Toten, fühlte ihm nach dem Puls, nickte kurz, ging zum Fenster und hob vom Boden zwischen Wäschestücken eine Aktentasche auf, besichtigte deren Inhalt und erklärte: »Advokat Howard Austin Stelton aus Lahore.«

Der Zugführer fragte kläglich, was er wohl tun solle. Länger dürfte der Zug nicht halten. Sonst gäbe es eine zu große Verspätung.

»Lassen Sie nur weiterfahren«, meinte Harst. »Wir erledigen auch so das Nötige.«

Der Beamte war froh, dass er die Kabine für ein paar Minuten verlassen konnte.

Harst winkte mir vom Fenster her, zeigte auf ein blendend weißes Oberhemd, auf dessen Hemdbrust sich undeutlich der Abdruck eines kleinen Stiefels abzeichnete. Das Hemd hatte der Mörder in seiner Hast aus dem Koffer ebenfalls auf den Boden geworfen und war dann darauf getreten; vielleicht, ohne dies selbst zu ahnen.

Harst hob das sauber gefaltete Oberhemd auf und betrachtete den Abdruck, der in Form von feinen Knüllen entstanden war.

»Na, mein Alter?« Sein fragender Blick forderte von mir eine Erklärung über diese Spur.

»Der Größe nach ein Frauenschuh, denn ein Kind kommt als Mörder nicht in Betracht.«

Er nickte und sagte: »Wie wäre es mit der Kastanienbraunen, lieber Schraut?«

Der Zugführer erschien wieder. Gleichzeitig ruckte der Wagen an. Wir fuhren weiter.

»Ich rate Ihnen, sich eine Dame näher anzusehen, die in Abteil Nr. 3 im letzten Wagen untergebracht ist«, erklärte Harst dem Beamten.

Dieser hatte sich nun an den Anblick des Toten etwas gewöhnt.

»Verzeihen Sie, Master«, meinte er. »Dürfte ich Ihren Namen erfahren? Sie sagten, Sie seien Detektiv. Vielleicht zeigen Sie mir auch Ihren Ausweis. Ich sprach soeben im Gang draußen mit Chefingenieur Albström von den Eisenbahnwerkstätten in Amritsar. Er warnte mich. Ich kenne Sie nicht, Master. Und ich …«

»Ich bin ein Deutscher namens Harst – Harald Harst«, fiel ihm mein Freund ins Wort. »Vielleicht genügt Ihnen der Name.«

Er genügte. Der Zugführer dienerte vor Unterwürfigkeit. »Ich wäre Ihnen überaus dankbar, Master Harst, wenn Sie mir …«

»Schon gut. Kommen Sie.«

Der Gang war leer. Nur am Ende des Wagens stand ein Schaffner, der nun vor Nr. 9 Wache halten musste. Wir blieben vor Nr. 3 stehen. Harst klopfte, klopfte immer kräftiger. Dann schob er die Tür auf. Sie war nicht verriegelt gewesen. Die Luxuskabine enthielt jedoch nichts als einen kleinen Rohrplattenkoffer.

»Entflohen!«, meinte Harst. »Habe ich befürchtet. Sie hat den Zug auf offener Strecke verlassen, die Kastanienbraune, die sich Miss Lizabet Doogston nannte und sicher ganz anders hieß.«

»Sie kennen die Dame, Master Harst?«, fragte der Zugführer überrascht

»Wenigstens von Ansehen. Ihren Namen verriet mir … Doch darauf kommt es hier nicht an. Ich habe noch eine zweite Person, die mir verdächtig erscheint. Im vordersten Schlafwagen in Abteil Nr. 6 ist ein …«

Der Zugführer unterbrach Harst. »Nr. 6? Wohl ein Irrtum, Master. Dort ist unser Chefingenieur Albström untergebracht.«

»Natürlich, ich meinte Nr. 8«, verbesserte sich Harst schnell. »Gegen diesen Herrn von Nr. 8 können wir jedoch erst in Amritsar etwas unternehmen. Ich rate Ihnen, jetzt zunächst die Kabine des Ermordeten zu verschließen. Alles Weitere findet sich bei unserer Ankunft in Amritsar.« Er gähnte. »Am besten, Sie verschweigen den Mord. Wozu die Fahrgäste aufregen? Schärfen Sie den Schaffnern ein, den Mund zu halten. Gute Nacht.«

In unserer Kabine nahmen wir wieder auf den Betträndern Platz. Harst hatte das Löschblatt vorhin unter das Kopfpolster gelegt, nahm es nun zur Hand und meinte, indem er mir zunickte: »Unsere Gebeine würden also längst irgendwo modern, lieber Alter, wenn ich nicht mehr sehen könnte wie zum Beispiel … nicht etwa du, denn du bist ein ganz gelehriger Schüler gewesen, sondern als dieser Zugführer, der ein sehr harmloses Kaninchen ist.« Er hatte schon wieder eine Zigarette angezündet. Seine Laune war glänzend. Ich merkte, dass dieser Mord im Schlafwagen ihn anregte und mitteilsam machte. »Der Zugführer«, setzte er hinzu, »hätte bemerken müssen, dass ich aus des Toten Aktentasche etwas zu mir steckte. Bitte, dies hier!« Er hatte mit der Linken in die Jackentasche gefasst und hielt mir einen Kiesel von etwa Fingergliedgröße hin.

»Ein unscheinbares Ding und doch ein ungeschliffener Diamant«, erklärte er. »Die große Aktentasche dürfte noch mehr ähnliche Steine enthalten haben. Wir können also als Motiv der Tat zunächst Habgier, Eigennutz oder wie du es sonst nennen willst, annehmen.« Er ließ den Diamant wieder in die Tasche gleiten, sog den Zigarettenrauch mit dem Behagen des leidenschaftlichen Rauchers ein und brachte die glimmende Spitze der Zigarette an den Rand des Löschblattes heran, sagte lauter: »Gib acht!«

Es roch nach verbranntem Papier. Das Löschblatt war angesengt. Dann ein feines Zischen.

Nun fraß ein dünner Feuerstrich sich schnell in vielfach verschlungenen Linien durch das Papier hindurch, wanderte eilig weiter und weiter, beschrieb Bogen und Ecken, schuf gerade Linien, bis der Feuerstrich die Ausgangsstellung wieder erreicht hatte und der Rand der Löschunterlage zu Boden fiel.

Das was Harst in der Hand behielt, war ein ganz unregelmäßig geformtes Stück Löschblatt von der Größe zweier Handflächen, war gerade am dichtesten mit den Tintenspuren bedeckt.

»Genial«, meinte Harst. »Diesen Gedanken könnte ganz gut unser Freund Cecil ausgeklügelt haben. Wenn du, lieber Alter, vorhin das Löschblatt dir mit Polizeiaugen angeschaut hättest, wäre dir der weißliche Strich kaum entgangen, der über beide Seiten des Blattes sich hinzog. Ich ahnte, dass dieser Strich mit einer bestimmten Lösung getränkt war, die das schnelle Weiterfressen des Feuers begünstigt. Diese Löschunterlage glich also jenen Scherzartikeln, bei denen etwas Ähnliches sich abspielt und zum Beispiel der Feuerstrich schließlich eine auf Pappe gezeichnete Kanone zur Entladung bringt. Hier handelt es sich fraglos um alles andere, nur nicht um Scherz. Warum wohl? Was denkst du?«

Ich war bescheiden und begnügte mich mit einem Achselzucken.

»Du machst dir die Sache bequem, weiß Gott«, sagte Harst etwas vorwurfsvoll. »Wenn man Fantasie hat, könnte man zwischen diesem herausgebrannten Stück Löschblatt und dem Edelstein aus des ermordeten Advokaten Aktentasche leicht eine Verbindung herstellen. Indien ist berühmt wegen seiner Diamantenfundstellen. Südafrikas Minen mögen reicher sein. Die besseren Steine findet man hier. Wenn nun jemand eine solche Fundstelle entdeckt hat, wird er, falls sie in unbewohnter Gegend liegt, sich vielleicht eine Kartenskizze herstellen, dabei aber sehr vorsichtig zu Werke gehen, damit die Skizze nicht auch anderen die Fundstelle verrät. Ein ganz Schlauer mag ein Löschblatt als Papier für die Skizze gewählt haben.«

»Ah, glänzend! Du hast Fantasie, lieber Harst!«

»Trotz aller Vorsicht des ersten Finders mag nun doch ein anderer hinter das Geheimnis gekommen sein und die Fundstelle ausgebeutet haben – etwa der Ermordete, bei dem ich ja einen ungeschliffenen Stein entdeckte und dieser nun mundtot gemachte Advokat wird vielleicht die besten Steine bei sich gehabt, der erste Finder sie ihm nun aber abgenommen haben – mit Gewalt, durch einen Mord. So kann der Zusammenhang sein, lieber Schraut, kann! Aber ich wette schon jetzt: Auch meine Fantasie reicht nicht hin, den wahren Sachverhalt auch nur zu ahnen. Wenigstens vorläufig nicht. Ich kenne eben noch zu wenige Begleitumstände dieses Verbrechens.«

Es war nun die beste Gelegenheit, auch mein Licht leuchten zu lassen. »Du hast natürlich vorhin den Zugführer beschwindelt, als du so tatest, als ob du dich in der Nummer der Kabine geirrt hättest. Du hast es doch auf den Mann von Nr. 6 abgesehen, auf den Herrn Chefingenieur.«

»Ganz recht. Ich weiß jetzt, dass dieser Ingenieur Albström derjenige ist, der mit der Kastanienbraunen von Tisch zu Tisch telegrafierte. Ich kannte seinen Namen und stand noch nicht, als die Bremsen kreischten und wir nach Nr. 9 liefen. Der Herr wird kaum mein Freund werden. Er ist an dem Mord des Advokaten beteiligt.«

»Und woher weißt du den Namen der Frau?«

Er lächelte eigenartig. »Von ihr selbst, lieber Schraut. Als du im Speisewagen noch die Zeitungen studiertest, sprach ich Miss Doogston im Gang des Küchenwagens an, erklärte, sie zu kennen, nannte sie Miss Balmer, erreichte so, dass wir in eine Unterhaltung kamen. Plumper Trick, aber er gelang. Noch mehr gelang. Ich merkte, dass diese Miss Doogston aus der Nähe gesehen gar nicht mehr so sehr jung wirkte. Ich schätze ihr Alter auf über dreißig. Wichtiger war mir, dass ich noch feststellte, eine fein gebildete Dame von sicheren Umgangsformen vor mir zu haben, und zwar keine Engländerin! Jedenfalls keine geborene Britin. Sie dürfte eher aus Dänemark, Schweden oder da woher stammen. Ihre Augenfarbe ist jenes ausgesprochene, reine Graublau, wie man es nur bei den Nordländerinnen findet. Schließlich sagte mir noch meine Menschenkenntnis dieser Frau gegenüber, dass sie ohne Frage ein großes Herzeleid heimlich mit sich herumträgt. Wenn ich vorhin trotzdem von ihr als der mutmaßlichen Mörderin sprach, so ist dies nur deshalb geschehen, um mit ihr dadurch vielleicht noch näher in Berührung zu kommen, denn hinsichtlich ihrer Person ist in mir inzwischen eine ganz besondere Vermutung aufgestiegen, über die ich jedoch zunächst noch schweigen möchte. All das schwebt noch recht haltlos in der Luft. Sie kann das Verbrechen auch begangen haben – kann! Es gibt bei dieser Sache so unendlich viel Widersprüche. Gäbe es die nicht, würde ja auch Harald Harst jetzt nicht fest entschlossen sein, diese Widersprüche aufzuklären.« Er lächelte wieder so eigenartig und fügte hinzu: »Gehen wir zu Bett, mein Alter. Morgen Vormittag noch vor der Ankunft in Amritsar werden wir uns die Geschichte mal bei Tageslicht anschauen – die Leiche, die Kabine Nr. 9 und den Chefingenieur. Eine Frage noch: Hältst du es für wahrscheinlich, dass diese Miss Doogston mitten in einem meilenweiten Urwald – denn dort wurde die Notleine von dem Kabinennachbarn des Advokaten gezogen – allein den Zug verlassen hat, um zu Fuß weiter zu flüchten?«

Ich sah ihn überrascht an. »Du argwöhnst, dass sie sich noch im Zug befindet!«, meinte ich schnell.

Er gähnte. »Gute Nacht, mein Alter …«

Das war seine Antwort auf meine Bemerkung.

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