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Der Detektiv – Warbattys Testament – 3. Kapitel

Walter Kabel
Der Detektiv
Kriminalerzählungen, Verlag moderner Lektüre GmbH, Berlin, 1920
Harald Harst gegen Cecil Warbatty
Des berühmten Liebhaberdetektivs Abenteuer im Orient
Warbattys Testament

3. Kapitel
Der singende Vogel

Wollte ich hier unseren Ritt zu der Ruinenstadt Indra mit all seinen Mühen und Irrwegen schildern, müsste ich vielleicht fünf Seiten den Leser auf den Affen, den dunklen Strich und den singenden Vogel warten lassen.

Der Ritt begann mit einer Enttäuschung. Laik Ali hatte nicht Wort gehalten. Als er um halb acht mit den Pferden nicht zur Stelle war, fuhr Harst mit einer Rikscha zu einem Pferdeverleiher und wählte selbst drei Tiere aus. Diese bewährten sich recht gut.

Im Fremdenheim hatten wir nicht einmal Frau von Tezra verraten, wohin wir wollten. Absichtlich verließen wir die Stadt durch das Osttor. Man konnte es uns daher glauben, dass das ehemals so berühmte Golkonda unser Ziel sei. Dies hatte Harst den Neugierigen, die unseren Abmarsch sich ansahen, mit ernstestem Gesicht angegeben.

Gegen elf Uhr vormittags verließen wir die miserable Fahrstraße und schlugen uns seitwärts in die Büsche, eine Redensart, die hier durchaus zutraf. Wir überquerten nämlich ohne Weg und Steg eine mit Buschinseln besäte Savanne. Dann folgten sumpfige Urwaldstrecken, die uns zu einem weiten Bogen nach Osten zwangen. Wir ritten stets mit gespannter und entsicherter Büchse quer über dem Sattel. Die Büchsen hatte Harst in Madras erstanden. Es waren englische Fabrikate und sie schossen tadellos. Wir ließen es in nichts an der nötigen Vorsicht fehlen. Wir hatten nicht nur die wilden Gond, sondern auch Tiger und Panther zu fürchten. Unser erstes Nachtlager in der Wildnis war derart, dass ich dem Schöpfer dankte, als es hell wurde und das Getier des Urwaldes wieder zur Ruhe kam. Ein Pantherpärchen hatte den Lagerplatz andauernd umschlichen, bald hoch in den Baumästen, bald wieder im Gestrüpp lautlos und schlangengleich sich entlangwindend. Nur die gelbgrün schillernden Raubtierpupillen verrieten uns den jeweiligen Standort der beiden Bestien.

Harst war am Abend des zweiten Tages sehr unsicher, ob wir nicht bereits die Ruinenstätte hinter uns hätten. Außerdem aber machte er auf mich auch sehr stark den Eindruck eines Menschen, der jeden Augenblick aus dem Gebüsch eine heimtückische Kugel erwartet und der daher etwas nervös geworden ist. Die Sonne war soeben untergegangen. Wir hielten am Südrand eines Sumpfstriches, den wir abermals mit Verlust von zwei Stunden umritten hatten.

»Was nun?«, meinte Harst. »Ich bin mit meiner Weisheit am Ende. Wir sind so scharf getrabt, dass wir die Ruinen unbedingt dicht vor uns haben müssten, wenn wir sie eben nicht …« Seine nimmermüden Augen waren hierhin und dorthin geschweift, hafteten nun fest auf einem Punkt. Gleichzeitig schwieg er.

Vom Rand des Sumpfes stieg das Gelände zu flachen, waldigen Hügeln an. Zwischen diesen wechselten mannshohe Gräser mit sandigen Stellen ab.

»Komm!«, sagte Harst jetzt kurz. Er ritt voran. Ich hatte unser Packpferd an der Leine. Abermals machte er Halt, deutete auf eine Fährte von fünf Reiter und erklärte: »Das sind sie! Und sogar in trautem Verein! Die Spur geht nach Norden in den Sumpf hinein. Man erkennt es deutlich. Beeilen wir uns etwas. Es muss dort einen jener alten Knüppeldämme geben, die im Laufe der Zeit von der Vegetation vollständig überwuchert und daher so schwer zu finden sind.«

Er hatte recht. Wir waren bald auf dem niedrigen Damm. Die Fährte der Reiter lief auf demselben entlang. Harst blieb stets gut einige zwanzig Schritt vor mir.

Die Dunkelheit nahm schnell zu. Nach einer Viertelstunde merkten wir, dass wir über Steinboden dahintrabten.

»Eine gepflasterte, uralte Straße«, meinte Harst, der nun auf mich gewartet hatte. »Eine Straße, die nach Indra hineinführt.«

Ich erblickte gleichfalls vor mir zackige Mauerreste, halbe Säulen, die Überbleibsel von schlanken Türmen. Und zumeist war es ein hellgrauer Marmor, der als Baumaterial Verwendung gefunden hatte.

»Die sagenhafte Stadt Indra, einst die Residenz eines Herrschergeschlechts, das die ganze Mitte und den Süden Vorderindiens als mächtiges Reich besaß, bis die Pest kam und in zwei Jahren Millionen Menschen fraß. Was noch übrig blieb, flüchtete halb wahnsinnig vor Schreck in die Urwälder. Dann warf ein Erdbeben die Paläste und Häuser der einst so blühenden Stadt durcheinander wie Kinderspielzeug. Wir haben es also gefunden, das marmorne Indra, wie die indischen Sagenerzähler es nennen.«

Er wollte offenbar noch etwas hinzufügen, musste aber notwendig gegenüber dem urplötzlich in der Ferne sich erhebenden Geheul zunächst schweigen.

Geheul? Ach, das ist eine recht schwache Bezeichnung für dieses Höllenkonzert! Es ging durch Mark und Bein, und mir lief es eiskalt dabei über den Rücken, als befände ich mich plötzlich in einem Eiskeller. Dabei hatten wir meiner Schätzung nach 35 Grad Celsius Wärme, was man in Indien so Abendkühle nennt. Gerade Haidarabad und Umgegend gehört ja zu den heißesten Landstrichen des Kolonialreiches der Briten.

Geheul – und nun auch Schüsse. Sehr dünne Knalle; also Revolver; etwa zehn zählte ich.

»Ein Überfall«, meinte Harst ernst. »Die fünf Reiter dürften ihre Unvorsichtigkeit mit dem Leben bezahlen. Ich begreife nur nicht, dass auch er so blindlings den Gond in die Falle gegangen ist.«

»Wer – er? Du hast schon wieder so allerlei Geheimnisse vor mir und du weißt, wie nachteilig das werden kann. Ich erinnere nur an Colombo und die Lady Rockwell.« »Hm, da lag die Sache anders. Überhaupt – Geheimnisse? Ich bitte dich! Du bist doch in alles eingeweiht. Natürlich ist er unser Freund Cecil.«

»Also der dicke Rentier Pickering«, vollendete ich. »Du, dann muss Warbatty also zunächst aus Madras entwichen sein und zweitens sich einen linken Zeigefinger haben annähen lassen! Denn Pickering hatte alle seine zehn Finger in bester Verfassung am speckigen Leib.«

Harst achtete kaum auf diesen Einwand. Er stieg ab und führte sein Pferd langsam vorwärts zwischen Säulenresten hindurch in einen von Unkraut überwucherten Tempelhof. Gleich darauf hatten wir mit unseren drei Tieren in einem kleinen, nur vorn offenen und leidlich gut erhaltenen Raum eines Tempelanbaus ein trockenes und sicheres Unterkommen gefunden, den Eingang durch Dornsträucher verschlossen und zum Schutz gegen heimtückische Giftpfeile die drei Pferdedecken freischwebend hinter dem Dornverhau aufgehängt.

Harst bewährte sich auch hier als erfinderischer Abenteurer genau so gut wie als Detektiv.

Über dem mitgenommenen Spirituskocher brodelte Seewasser. Wir hatten tüchtigen Hunger, und gleich nach den ersten Bissen brachte ich das Gespräch wieder auf Warbatty.

Harst nickte. »Ja, ganz recht, Pickering ist natürlich niemals Warbatty.« Er fasste in die Tasche und holte eine Depesche hervor. Beim Schein der Laterne las ich sie:

Harald Harst, Haidarabad, Pension Tezra.

  1. heute früh verschwunden. Gestern Nachmittag war deutscher Arzt bei mir, bat, den bisher völlig frischen Körper des Toten sich ansehen zu dürfen, behauptete dann, das Gift zu kennen, durch das W. sich nur in Starrkrampf versetzt hätte. Jetzt bei mir Verdacht, dass der Arzt W. Gegengift eingegeben und für ihn in Zelle Ausbrecherwerkzeug zurückgelassen hatte. Vorsicht also. Gruß – Plumper.

Mir ging ein Licht auf.

»Du selbst hast also die Depesche gestohlen«, rief ich empört. »Wozu die Komödie?«

»Ich habe sie gestohlen, aber aus einem anderen Zimmer, mein lieber Schraut, nicht aus dem unsrigen. Bei uns hat sie der blonde deutsche Doktor Herbst geklemmt. Und ich holte sie mir dann aus Professor Meiers Zimmer zurück – wenige Stunden später, bevor ich dich dann zu der Leiter führte. Diese Leiter hatte ich zuerst anderswo an die Mauer gelehnt, eben neben Meiers Fenster, der bei seinem Freund Herbst saß und über einen Ritt nach Indra plauderte.«

Sehr geistvoll sah ich in diesem Augenblick sicherlich nicht aus. Ich suchte das soeben Gehörte zu entwirren. Doktor Herbst – Professor Meier? Und der Inspektor Plumper hatte in der Depesche einen deutschen Arzt erwähnt?

»Nicht wahr, nun ist dir doch alles klar, lieber Schraut, hoffe ich«, fügte Harst nun hinzu. »Sieh mal, dieser Unfall des Landsmannes Meier erschien mir etwas verdächtig. Wenn jemand überfahren wird und sich noch allein bis ins Pensionat schleppt, wenn sonst also keine weiteren Zeugen für den Unfall vorhanden sind, wenn ausgerechnet der linke Arm gebrochen sein soll und man daher durch den Verband das Fehlen des linken Zeigefingers verbergen kann, dann schöpft man auch ohne Plumpers Depesche, die ich ja auch erst nachher las, Argwohn und spioniert so etwas vor den Fenstern. Meier und Herbst saßen und tranken Whisky wie die Löcher. Zwischen ihren benachbarten Zimmern war die Tür nur angelehnt. Trotzdem wagte ich das Einsteigen und die Depesche war auch da, wo ich sie vermutete, in Herbsts Touristenjoppe in der Außentasche, denn er saß nebenan in Hemdärmeln. Übrigens waren die beiden biederen Landsleute erst nachmittags in Haidarabad und bei Frau von Tezra eingetroffen. Allerdings hatte der Doktor Herbst schon vorher dort vier Tage gewohnt und aller Welt von dem lieben Professor Meier erzählt, der nun auch bald anlangen würde. Herbst ist dann, als Warbatty von uns abgefasst worden war, schleunig nach Madras geeilt und hat hier frech und gottesfürchtig Plumper hineingelegt, das heißt, für Warbattys Auferstehung und Befreiung gesorgt. Und im Pensionat haben die beiden den dicken Pickering und den Grafen zu überreden gewusst, sich an einer von ihnen geplanten Partie nach Indra zu beteiligen, haben uns unseren Führer weggekapert und unsere Pferde, denn Laik Ali hatte Gäule besorgt, wie mir der Pferdeverleiher berichtete. Die fünf sind also Warbatty, Herbst, Pickering, Hardefels und Laik Ali. Das Wasser kocht längst. Brüh den Tee auf.«

So machte es Harst immer: Er verheimlichte allerhand Tatsachen und rückte dann mit allem ganz plötzlich heraus, sodass man sich einer geradezu verwirrenden Fülle von Neuigkeiten gegenübersah.

»Anscheinend wollte Warbatty dann also hier in der Wildnis den Rentier und den Grafen ausplündern«, sagte ich nun und füllte Harsts Becher.

»Vielleicht. Nun dürften die fünf sich in der Gewalt der Gond befinden, falls sie noch leben. Das werden wir morgen früh feststellen.«

Wir wachten die Nacht über abwechselnd. Sehr bald nach Sonnenaufgang frühstückten wir und begannen dann zunächst die Umgebung unseres Schlupfwinkels genau auf etwa im Hinterhalt liegende Wilde abzusuchen.

Der mit Marmorfliesen ausgelegte Tempelhof war genau quadratisch bei einer Seitenlänge von 120 Schritt. Die eingestürzten Tempelbauten ringsum bildeten förmliche Wälle. Der einzige Zugang war der zerstörte Säulengang. Der Platz war recht malerisch: In der Mitte gab es einen runden, vertieften Springbrunnen, dessen Wasserspeier aus einem unbehauenen Marmorblock und einem riesigen Papagei darauf bestand. Der Papagei hielt den Kopf hochgereckt und den Schnabel offen. Man erkannte noch die Metallröhre im Schnabel, aus der einst der Wasserstrahl hochgespritzt war.

Als Harst diesen Marmorvogel eine Weile betrachtet hatte, meinte er: »Jetzt fehlt noch der Affe, dem die Sonne ins Gesicht scheint. Hm, hast du mal wieder darüber nachgedacht, wie dieses Wortrebus zu deuten ist? Den Vogel haben wir nun. Suchen wir den Affen.«

Wir trennten uns und durchstreiften den Hof, wo das Unkraut stellenweise die Marmorplatten gelüftet und wo sich auch niedriges Buschwerk vereinzelt angesiedelt hatte.

Der Affe – wir rechneten auf eine Marmorfigur, da hier im Tempelhof außer allerlei Götzenbildern auch Tierstatuen – Tiger, Rinder und Vögel – standen, war jedoch nicht zu entdecken.

Schließlich erklärte Harst, unter diesen Umständen könne er nur annehmen, dass dieser Platz überhaupt nicht infrage käme.

»Es wird hier eben noch einen zweiten singenden Vogel geben, lieber Schraut. Halten wir danach Ausschau und gleichzeitig nach den fünf Reitern.«

Als wir nun die Ruinenstadt durchstreiften, stets die Büchsen halb im Anschlag, kamen wir nach einer halben Stunde auch in einen Palmenhain, in dessen Mitte eine ganz ähnliche Tempelruine wie die lag, wo wir unser Versteck hatten. Auch hier waren ein Säulengang, ein quadratischer Hof und Wälle von eingestürzten Baulichkeiten.

Wir standen noch in dem Säulengange als wir plötzlich ein Pfeifen vernahmen, das aus der Mitte des Hofes herkam. Es waren weiche Töne bald tiefer, bald heller; eine Art Melodie fast.

Harst packte meinen Arm.

»Du, der singende Vogel! Dort – auch ein Springbrunnen und ein Papagei als Wasserspeier. Und jetzt die Wassersäule! Der Springbrunnen ist noch in Funktion! Die Sonne blendete uns vorher zu sehr. Daher entging uns der Wasserstrahl.«

Da verstummte das Pfeifen wieder. Gleichzeitig verschwand auch die Wassersäule.

Harst schritt dem Brunnen zu. Das Bassin war halb gefüllt. Scheußliche Riesenkröten, goldgelbe Riesensalamander und sogar ein paar kleine Wasserschlangen bevölkerten das Becken.

Wir besahen uns den Steinpapagei aus der Nähe. Er war von anderer Form als der erste. Das Wasser trat hier aus der gesträubten Kopfhaube heraus, die in sieben Spitzen auslief.

»Aha, ein Musikinstrument, das durch den Druck des Wassers zum Tönen gebracht wird«, erklärte Harst. »Das Wasser steigt nur in Zwischenräumen hoch, entquillt also einem natürlichen Geiser. Du siehst, lieber Schraut, die alten Inder waren nicht nur glänzende Baukünstler, sondern wussten auch allerliebste Spielereien zu ersinnen, wie zum Beispiel diesen singenden Vogel.«

Wir mussten fünf Minuten warten. Dann endlich sprangen die sieben Wasserstrahlen hoch und vereinigten sich zu einer vier Finger dicken Säule.

Der Gesang begann.

In dieser fantastisch-romantischen Umgebung wirkte er geheimnisvoll.

Ich lauschte versonnen. Meine Gedanken eilten in die Jugendtage zurück, zurück zu den Märchen von Tausend und eine Nacht. Ich besann mich dunkel, dass da auch ein singender Vogel eine Rolle gespielt hatte.