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Der Detektiv – Warbattys Testament – 2. Kapitel

Walter Kabel
Der Detektiv
Kriminalerzählungen, Verlag moderner Lektüre GmbH, Berlin, 1920
Harald Harst gegen Cecil Warbatty
Des berühmten Liebhaberdetektivs Abenteuer im Orient
Warbattys Testament

2. Kapitel
Ein kleines Abenteuer im Fremdenheim

Harst nahm danach unsere liebenswürdige Wirtin beiseite und erkundigte sich bei ihr nach einem ortskundigen, zuverlässigen Führer. Frau von Tezra wies uns an einen Hindu, der zumeist nebenan im Café sich aufhalten sollte. Der Mann hieß Laik Ali. Wir fanden ihn sehr bald, und da er auf uns einen recht guten Eindruck machte, vertraute Harst ihm an, dass wir die Indra-Ruinen besuchen wollten.

Laik Alis Gesicht wurde sehr, sehr lang. Er schüttelte den Kopf, erklärte: »Sahib, das hat vor vier Monaten zum letzten Mal ein englischer Offizier gewagt. Er ist nie mehr gesehen worden. Nein, Sahib, auch für 20 Pfund Sterling würde ich nicht mit dir reiten. Aber Pferde will ich dir gern besorgen, gute Pferde.«

»Du warst bereits dort in der alten Ruinenstätte?«, fragte Harst.

Der Fremdenführer bejahte. »Vor vier Jahren, Sahib. Aber das eine Mal, und nie wieder. Es gibt keine Gegend im großen Reich des Nizam, in der die Tiger so häufig sind wie in der Wildnis dort im Süden.«

»Hm, und die Gond? Wie steht es mit diesen Wilden?«

Laik Ali schaute zu Boden. »Ich weiß nichts von ihnen, Sahib.«

Er log offenbar. Harst warf mir einen langen Blick zu. Dann meinte er: »Du willst nichts von ihnen wissen, Laik Ali. Weshalb verheimlichst du mir etwas? Fürchtest du, dir zu schaden, wenn du offen redest?«

»Vielleicht, Sahib.«

Mehr war von ihm nicht zu erfahren; nur dass man zwei Tage scharf zu reiten hätte, ehe man in der Nähe der Ruinen der alten, durch ein Erdbeben einst zerstörten Stadt Indra käme, und dass es weder Weg noch Steg dorthin gebe. Im Übrigen versprach er uns, dass wir am nächsten Morgen zwei gute Pferde sowie ein drittes als Packpferd, mit allem Nötigen versehen, vorfinden würden. Er würde um sieben Uhr vor dem Gartenausgang des Fremdenheims bereitstehen.

Wir verließen das Café nach einer Weile und kehrten in unsere Quartiere zurück. Als wir die Vorhalle betraten, merkten wir sofort, dass irgendetwas Besonderes während unserer Abwesenheit im Haus der Frau von Tezra sich ereignet haben müsse. Eines der Stubenmädchen – die Gäste standen in Gruppen in der Vorhalle und dem angrenzenden Lesezimmer herum – erzählte uns, dass der Herr Professor Meier von einem Auto vor einer Viertelstunde überfahren worden sei. Er habe noch die Kraft gehabt, sich bis auf sein Zimmer zu schleppen. Der linke Arm sei aber zweimal gebrochen, wie der deutsche Doktor Herbst festgestellt habe.

Da schoss auch schon Rentier Pickering auf uns zu. »Herr Harst, hochverehrter Herr Landsmann, hier gibt es Arbeit für Sie. Sie müssen das verdammte Auto finden, das natürlich …«

Und von der anderen Seite näselte nun auch der Graf Harstein von Hardefels: »Pardon, Herr Harst, dem armen Professor müsste doch dadurch eine kleine Genugtuung verschafft werden, dass man das Auto …«

»Aber natürlich, meine Herren, natürlich!«, meinte Harst liebenswürdig. »Das Auto herauszufinden, ist doch fraglos eine Kleinigkeit. Ich will sehr gern …«

Da – in diesem Augenblick ertönte von der Haupttreppe her die etwas krähende Stimme eines blondbärtigen, langen Herrn mit goldener Brille: »Meine Herrschaften, der Unfall unseres Landsmannes ist zum Glück verhältnismäßig gut abgelaufen. Ich habe den Arm geschient, und Professor Meier hat den Schreck bereits leidlich überwunden. Morgen wird der Professor wie sonst beim Frühstück erscheinen. Gute Nacht allerseits.«

»Gute Nacht!«, sagte auch Harst zu Pickering und dem Grafen.

Unser Zimmer lag im Erdgeschoss rechts. Der Portier kam uns nachgelaufen.

»Herr Harst, ich habe Ihnen vorhin eine Depesche auf den Nachttisch gelegt.«

»Depesche?« Harst sah mich fragend an. »Wer kann wohl an mich depeschiert haben?«

Er eilte schnell weiter, schloss das Zimmer auf, schaltete das Licht ein, suchte auf seinem Nachttischchen.

»Ich sehe nichts von einer Depesche. Siehst du was, Schraut?«

Falls eine Depesche dagewesen wäre, hätten wir sie bemerken müssen. Trotzdem schickte Harst mich zum Portier. Der schwor hoch und heilig, das Telegramm müsse auf dem Nachttischchen auf dem Fuß der Stehlampe liegen. Er kam selbst mit. Als wir das Zimmer betraten, saß Harst in einem der zu der Saloneinrichtung gehörigen Sessel und rauchte eine seiner geliebten Mirakulum-Zigaretten.

»Gib dir keine Mühe, Schraut«, meinte er. »Ich habe schon erkannt, dass die Depesche gestohlen worden ist. Der Dieb ist dort durch das Fenster eingestiegen. Er hat außerdem meinen Koffer aufzubrechen versucht. Wir haben ihn jedoch bei der Arbeit gestört.«

Als der Portier kopfschüttelnd erklärte, hier sei bisher noch nie etwas abhandengekommen, sagte Harst freundlich: »Regen Sie sich nicht weiter darüber auf, mein Freund. Woher war die Depesche?«

»Leider keine Ahnung, Herr Harst.«

Der Portier zog sich zurück.

»Ich glaube den Absender zu kennen«, meinte Harst nun. »Es wird Inspektor Plumper aus Madras sein. Er wollte mir eine Empfehlung an den hiesigen englischen Residenten (die Vasallenfürsten Indiens werden von hohen englischen Beamten dauernd beaufsichtigt) mitgeben, vergaß aber nachher davon.«

Er gähnte und begann sich zu entkleiden. Als wir schon im Bett lagen, stand er nochmals auf, nahm seinen Revolver aus der Beinkleidtasche und sagte: »Lieber Schraut, ich empfehle dir dieselbe Vorsichtsmaßregel. Der Dieb könnte bei uns gute Beute vermuten und zurückkehren.«

Gleich darauf war er auch schon eingeschlafen.

Leider hatte mir jedoch diese verschwundene Depesche den Schlaf so gründlich verscheucht, dass ich noch bis ein Uhr morgens etwa wach lag und darüber nachgrübelte, weshalb der Spitzbube gerade das Telegramm mitgenommen haben könnte.

Dann – ich war gerade eingenickt – fuhr ich infolge eines Geräusches, das wie das Klappen eines Fensterflügels klang, hoch.

»Harst!«, rief ich leise.

Im Zimmer herrschte ein ungewisses Halbdunkel. Es war eine helle Nacht und durch die Leinenvorhänge der Fenster drang so viel Licht herein, dass ich nun erkannte, dass Harsts Bett leer war.

Ich stand auf. Sehr bald sah ich, dass Harst das Zimmer durch eines der Fenster verlassen hatte.

Ich wartete auf seine Rückkehr. Unter unseren Fenstern führte ein Gartenweg an der Seitenfront des Hauses in den Park hinein. Harst erschien nach etwa einer halben Stunde.

»Ach, du bist munter. Gut, ich will Dir etwas zeigen.«

Ich musste mit in den Garten. An der Hinterseite des Hauses lehnte eine Leiter. Harst deutete auf zwei erleuchtete Fenster dicht daneben. Ich kletterte die Sprossen hoch. Und dann konnte ich durch einen Spalt in den Vorhängen in ein Fremdenzimmer hineinschauen, in dem am Mitteltisch der Graf Hardefels und der dicke Pickering saßen. Auf dem Tisch lagen drei Revolver, zwei leichte Jagdgewehre und allerlei andere Dinge, die darauf schließen ließen, dass die beiden Männer dort einen Jagdausflug vorbereiteten.

Pickering – klein, dick! – Etwa Warbatty? So schoss es mir durch den Kopf.

Ich kletterte wieder hinab, fragte Harst leise: »Pickering ist doch nicht …«

Da unterbrach er mich: »Keine überflüssigen Worte, mein Alter! Du wirst dir doch nicht ein solches Armutszeugnis ausstellen und so tun, als wüsstest du nicht, was hier sich vorbereitet.«

So zwang er mich zum Schweigen. Oh, er versteht es, seine wahre Meinung zu verbergen, mein Freund und Brotherr! Er ersinnt immer neue Spitzfindigkeiten, einer Antwort auszuweichen, wenn er nicht antworten will.

Nun gab er sich den Anschein, als nähme er bestimmt an, ich hätte seine unausgesprochen gebliebenen Gedanken erraten. Oder nahm er das wirklich an? War Pickering tatsächlich der wiederaufgelebte Warbatty?

Wir begaben uns wieder zur Ruhe. Ich zwang mich zum Einschlafen, denn ich musste morgens ja ausgeruht sein.