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Blutrosen 1 – Die schöne Witwe von Cornhill

Blutrosen
Schauererzählungen
frei nach dem Französischen des Eugène Sue, Alexandre Dumas d. Ä, Honoré Balzac, Victor Hugo und andere
Verlags-Comptoir. Breslau. 1837
Druck von M. Friedländer in Breslau
Erster Teil

Die schöne Witwe von Cornhill

Unter der Regierung Eduards I. lebte in London eine sehr reiche und ebenso schöne Witwe von 21 Jahren. Ihr Wuchs war schlank und stattlich, ihr Gesicht länglich, ihre Züge vornehm, aber bescheiden. Haare und Augen waren glänzend schwarz, die Stirn hoch, die Nase unmerklich gebogen, die Wangen fein gerötet, der Mund klein und niedlich, ihre Gesichtsfarbe etwas dunkel, doch nicht braun; kurz, Miss Alice war eine reizende und, wie schon oben gesagt, sehr reiche Frau. Sie war der Abgott ihres Vaters, eines sehr reichen Bürgers von Cornhill. Nach des alten Mannes Tod fielen alle seine Reichtümer seiner teuren Tochter Alice zu, welche erst 21 Jahre alt, schon Witwe von zwei Männern und eben im Begriff war, sich mit dem dritten zu verbinden.

Dieser Glückliche war Master Simon Schard, Leinwandhändler auf dem Cornhill. Er war zweiunddreißig Jahr alt, hatte eine gefüllte Börse, eine runde Figur und ein munteres rotwangiges Vollmondgesicht. Seine Bekannten wollten wissen, Herr Simon habe schon bei der ersten Heirat der schönen Alice sein Herz an sie verloren, jedoch erst nach dem Tod ihres zweiten Mannes den Mut gehabt, ihr dasselbe anzutragen. Seine Bewerbung wurde günstig ausgenommen, und Alice wurde sein Frau. Nachdem sie sechs Monate, wie es schien, auf das Zufriedenste miteinander gelebt hatten, wurde Master Schard eines Morgens, ohne dass eine Kränklichkeit vorhergegangen, tot in seinem Bett gefunden. Ihre ersten beiden Männer waren merkwürdigerweise unter denselben Umständen gestorben. Gar verschiedener Argwohn regte sich damals, und nun wurde er bei dem neuen Todesfall allgemeiner, stärker, anhaltenden. Tatsächlich!, meinten einige, Miss Alice ist die unglücklichste Frau! Andere, mit anderen Ansichten von der Ehe aber meinten: Miss Alice ist die glücklichste Frau. Noch andere machten schlaue Mienen, schienen das Richtige zu denken und begnügten sich mit der Bemerkung: In der Tat, es ist höchst seltsam?

Aber vorher wie nachher, stets war Miss Alices Benehmen untadelhaft, ja lobenswürdig. Sie war mildtätig, eine fleißige Kirchenbesucherin, eine freundliche Nachbarin, gütige Freundin. Sie erfüllte ihre öffentlichen und häuslichen Lebenspflichten so musterhaft, dass selbst diejenigen, welche sie heimlich ihres Reichtums, ihrer Schönheit, vielleicht ihres Glückes wegen beneideten, ihr öffentlich nichts nachzureden wagten.

Die dreimalige Wiederholung desselben rätselhaften Vorfalls aber löste endlich die Zungen; vielleicht auch sprach sich nun der Argwohn nur darum freier aus, weil Meister Schard großem Einfluss in Altlondon genoss, seine Verwandtschaft zahlreich und angesehen war, und er einen Vetter hatte, der zur Zeit seines Todes Sheriff war und hoch und teuer schwor, der Sache müsse er sogleich auf die Spur kommen.

Wirklich erschien er auch schon am nächsten Morgen mit seinen Schergen vor Miss Alices Tür, und die ganze Nachbarschaft sprach ihr Schuldig über die Witwe aus. Nun erschien der lang genährte Verdacht von der Behörde gerechtfertigt, nun war ihre Frömmigkeit, Heuchelei, ihre Mildtätigkeit Prahlerei, ihre Güte und Wohltätigkeit wurde selbst von denen, welchen sie wohlgetan übelgedeutet und sie von allen für eine Mörderin ausgeschrien.

Während dies außer Miss Alices Haus vorging, fand eine andere Szene im Inneren desselben statt. Der Sheriff ward eingelassen, und ihm auf dem Fuß folgte ein Heer befugter und unbefugter Gäste. Die Witwe saß neben dem Bett ihres verstorbenen Mannes und schien eine Untersuchung nicht zu fürchten, sondern sehnlichst zu wünschen. Der Leichnam wurde aufs Genauste besichtigt, aber man entdeckte nicht das geringste Zeichen von Gewalttat, keine Spur von Dolch oder Gift; alles war und blieb ebenso unverdächtig wie rätselhaft.

Einige der Anwesenden, welche als große Menschenkenner Miss Alice während der Untersuchung im Auge behielten, wollten ihr Benehmen durchaus natürlich gefunden haben, denn sie schien teils entrüstet über die Anklage, teils betrübt über deren Ursache. Als aber ihre Unschuld den Nachbarn bald bekannt wurde, da bedauerten sie die Witwe gar höchlich wegen des erlittenen Unrechts und wunderten sich gewaltig, wie man solch boshaftes Gerede nachsagen könne.

Nach einigen Tagen sollte der selige Master Schard in Miss Alices Familiengruft in der St. Michaelis-Kirche beigesetzt werden. Die Gruft war zwar geräumig, doch schien sie Miss Alice mit lauter Ehemännern füllen zu wollen. Die St. Michaelis-Kirche liegt am östlichen Ende von Cornhill, und auf Hälfte des Weges zwischen dieser Kirche und Miss Alices Haus war die Schenke Zu den sieben Sternen, wo am Mittag der Beisetzung Master Schards eine Gesellschaft ehrsamer Bürger beisammen saß, die alle lustig und guter Dinge waren, denn Master Lessamour, ein junger Kaufmann, war glücklich von einer langen Reise ins Mittelmeer zurückgekehrt. Dieses frohe Ereignis sollte gefeiert werden.

Lessamour war etwa dreißig Jahr alt, wohlgebaut, und hatte schöne, männliche Züge; aus den großen blauen Augen sprach ein edler, freier Sinn, seine Gesichtsfarbe war von Natur fein, aber durch Sonne und Wetter gebräunt, die auch sein blondes, in langen Locken über Nacken und Schultern wogendes Haar dunkler gefärbt hatten; kurz, er war ein stattlicher Bursche, und er wusste es auch. Wenn er bei guter Laune war, so war er der Lustigste unter den Lustigen, aber im Geschäft war er so ernst und nüchtern, als ob nie ein Scherz, nie ein Extraglas Kanariensekt über seine Lippen gekommen wäre, sodass er bei Ernsthaften und Fröhlichen gleich gut angeschrieben war. Die reichsten Väter nickten ihm im Vorbeigehen wohlgefällig zu, eine Höflichkeit, welche er jedoch zum Teil seinem hochbetagten, steinreichen Oheim verdankte, dessen Liebling und einziger Erbe er war.

Am gedachten Mittag nun saß er mit seinen Zechgenossen in der Schenke Zu den sieben Sternen, als einer, der zunächst dem Fenster saß, den Leichenzug des Master Schards herankommen sah, und die anderen aufmerksam machte. Als rechtgläubige Christen unterbrachen sie ihr Gelage und eilten zu den Fenstern, um sich das Leichenbegängnis anzusehen, das nach der Sitte der Zeit ausnehmend prächtig war. Die meisten Anwesenden kannten die näheren Umstände dieses Falles. Master Lessamour horchte begierig der wundersamen Geschichte von der reichen Witwe von Cornhill, als sie selbst mit niedergeschlagener, kummervollen Miene, wie es einer Leidtragenden ziemt, dicht unter dem Fenster vorbeiging.

»Bei den Säulen des Herkules«, rief der junge Handelsmann, »sie ist eine herrliche Frau; sie zieht daher wie eine Kaiserin!«

»Eine Hexe ist sie, Herr Lessamour«, entgegnete der Älteste seiner Zechbrüder. »Eine giftige Hexe; glaubt einem ehrlichen Burschen, der in solchen Dingen Einsicht …«

»Und selbst einen Zankteufel im Hause hat«, fuhr ein anderer fort.

Die Zechbrüder brachen alle in ein lautes Gelächter aus. Herr Lessamour stimmte nicht mit ein. Die anderen eilten wieder auf ihre Plätze am gut besetzten Tisch. Der junge Kaufmann aber setzte sich mit seinem Deckelkrug allein in die Fenstervertiefung, um, wie er sagte, die schönen Frauen bei der Rückkehr vom Begräbnis nochmals zu betrachten.

Lessamour bat die Freunde, ihm alles was sie wussten, über die schöne Witwe zu erzählen, und Master Andrews erzählte, von den Zechenden oft unterbrochen und berichtigt, Miss Alices ganze Lebens- und Leidensgeschichte.

Martin Lessamour sprach während dessen kein Wort. Als die Erzählung aber zu Ende war, rief er in munterem Ton: »Bei den sieben Sternen, unter deren Einfluss wir stehen, Ihr sollt mich einen Dummkopf schelten, wenn ich nicht in den nächsten 24 Stunden auf dem einen oder anderen Wege mit dieser Hexenwitwe in näherer Bekanntschaft stehe.«

Alle schrien auf; die einen meinten, dass dies nicht möglich sei, die Ältesten und Vertrauten aber rieten ihm ernstlich von seinem kecken Beginnen ab.

»Wollen es im Augenblick sehen«, sprach Lessamour, »denn da kommt die schöne Dame, wie gerufen.« Er sprang auf, drückte sich die Mütze aufs Ohr, eilte aus der Tür und stellte sich mitten auf den Weg, welchen Alice mit weniger Dienerschaft daher kam. Hier blieb er stehen, bis sie noch wenige Schritte von ihm war, und trat dann zurück, um ihr Platz zu machen. Sie blickte auf, ihre Augen begegneten sich, er machte eine höfliche Verbeugung und trat noch weiter zurück. Miss Alice wandte sich, um über die Straße zu gehen. Da kamen ihr eben einige Reiter in den Weg. Lessamour trat zu ihr und sagte: »Schöne Frau, erlaubt einem Fremden seine Pflicht zu tun und Euch sicher hinüber zu geleiten.«

Sie verneigte sich und nahm den Arm, den er ihr bot. Nachdem er sie über den Weg geleitet und sie einige höfliche Worte gewechselt hatten, verließ er sie und kehrte zu seinen Freunden zurück, die seine kühne Galanterie mit Erstaunen vom Fenster aus angesehen hatten.

Martin träumte die ganze Nacht von der schönen Witwe und war mit der ersten Morgenröte aus den Federn. Sogleich wurde die ganze Garderobe mehrmals durchgemustert, bis er für den Tag den passenden Anzug gefunden hatte. Dann wählte er einige Stücke schwarzen und grauen Seidenzeugs, die er von seiner letzten Reise mitgebracht hatte, band sie zusammen und machte sich nach dem Frühstück mit seinem Bündel unter dem Arm auf den Weg.

Er meldete sich bei Alice und wurde sogleich vorgelassen. In gewählten Ausdrücken wusste er nun seine Zudringlichkeit zu entschuldigen. Der Dank der Witwe wurde immer wärmer, ihre Gesichtszüge freundlicher, je länger er mit ihr sprach. Nachdem sie sich gegenseitig viel Angenehmes gesagt hatten, bat er sie ehrerbietig, den Inhalt seines Bündels zu untersuchen, und ließ nebenbei von seiner Lage und seinen Aussichten so viel verlauten, wie die Schicklichkeit erlaubte. Als sie zwei Stücke gewählt hatte, und ihn um den Preis derselben fragte, ersuchte er sie mit vieler Artigkeit, solche als ein geringes Zeichen seiner Hochschätzung annehmen zu wollen. Dies führte zu neuen Artigkeiten. Miss Alice willigte endlich mit vieler Grazie ein, das schöne Geschenk des jungen Mannes anzunehmen und sie schieden beide mit gegenseitigem Wohlgefallen voneinander.

Lessamour wiederholte seine Besuche und ihre Neigung schien mit jedem Mal zu wachsen. Er war von ihrem Verstand, ihrer Bescheidenheit und Schönheit bezaubert, sie von seinem hübschen Gesicht, seiner Offenheit und Unterhaltungsgabe ebenso sehr eingenommen. Oft saß sie stundenlang neben ihm und hörte ihn von seinen seltsamen Abenteuern auf hoher See, von den Wundern, die er in Spanien und Italien gesehen hatte, und von seinen Besuchen in Venedig und Genua erzählen; kurz, sie gefielen sich so gut, dass sie, sobald es die Schicklichkeit erlaubte, sich verehelichten, keines, wie es schien, durch das Schicksal der früheren Ehemänner Miss Alices abgeschreckt. Die Vorbereitungen zu dieser Festlichkeit waren äußerst glänzend. Alle Bürger von einiger Bedeutung, die der Braut oder dem Bräutigam bekannt waren, wurden zu dem Vermählungsfest geladen.

Mit diesem Tag hatte ein neues Leben bei Miss Alice begonnen. Sie suchte mehr Umgang als zuvor, flüchtete sich aber nicht, wie die Frauen unserer Zeit, in Gesellschaften, um des Mannes los zu werden. Im Gegenteil schien sie ihn immer mehr und mehr lieb zu gewinnen. Auch er war ihr in gleichem Maße zugetan. Schon waren sie beinahe vier Monate getraut und hatten noch keinen bösen Blick, kein unfreundliches Wort miteinander gewechselt. Manche Nachbarn flüsterten zwar, dass dies nicht lange so fortdauern werde, denn sie hatten ihre frühen Ehemänner nicht vergessen, obwohl es scheinen wollte, als ob Master Lessamour und Miss Alice dies getan hätten. Als sie jedoch eines Abends still und traulich beisammen saßen und in die erlöschende Flamme im Kamin blickten, entschlüpfte Miss Alice ein Seufzer.

»Warum seufzt du, meine liebe Frau?«, fragte ihr Gatte. »Bist du nicht glücklich?«

»Ich wusste nicht, dass ich seufzte, lieber Martin«, antwortete sie, »wenigstens geschah es nicht, weil ich mich unglücklich fühle. Ich bin recht zufrieden und glücklich. Glaube mir, Martin, ich wusste nicht, was Glück ist, ehe ich dich kennen lernte.«

»Du schmeichelst mir Liebe«, erwiderte Martin, »bist du wirklich vorher nie glücklich gewesen?«

»Ich sage Dir, nie … nie, bevor ich dich kennen lernte!« Sie legte einen großen Nachdruck auf das Wort nie, und Martin, der sie in seinen Armen hielt, fühlte, dass sie stark zitterte, und auch ihn schauderte.

Nach einer Weile fragte er sie: «Liebtest du denn deine früheren Männer nicht, Alice?«

»Ob ich sie liebte! Nein, Martin, nein! Ich hasste sie, hasste sie mit tödlichem Hass.« Bei diesen Worten wurde ihr Gesicht gelblichblass, ihre großen schwarzen Augen heftete sie auf ihren Gatten mit einem seltsamen Schlangenblick, sodass es ihm durch Mark und Gebein drang und sein Herz heftig pochte. Er fragte sie jedoch mit sanfter Stimme: »Warum hast du sie denn so gehasst?«

»Weil sie Trunkenbolde waren, Martin, deshalb hasste ich sie so, und wärest du ein solcher, ich würde auch dich hassen, noch mehr als ich dich jetzt liebe.« Diese Worte sprach sie im Ton innigster Zärtlichkeit und fiel ihm weinend um den Hals.

Er versuchte sie durch Liebkosungen und Beteuerungen zu besänftigen, aber lange wollte es ihm nicht gelingen. Die Unterredung wurde nicht wieder aufgenommen und sie begaben sich zu Bett. Martin blieb lange noch wach. Er konnte ihre Worte nicht vergesse, und beschloss nach reiflicher Erwägung, der Sache näher nachzuspüren. Endlich fiel er in Schlummer, aber nur, um bald wieder aus einem bösen Traum zu erwachen. So war ihm, als säße er mit seiner Frau immer noch auf der Ottomane. Ihre Gesichter ruhten a einander, das ihre war ebenso gelb und ihre Augen glänzten ebenso schlangenartig, wie sie ihm in der Wirklichkeit Grauen erregt hatten. Ihre Blicke ruhten immer noch auf seinen, und obwohl ihr Blick ihm höchst widrig war, war er doch wie bezaubern und konnte sein Blick nicht von ihr wenden. Voll Todesangst erwachte er und fand die Arme seiner Frau um seinen Nacken geschlungen, ihren Kopf auf seiner Brust liegend. Sie schluchzte heftig. Er fragte, was ihr fehle. Sie erzählte, dass sie einen furchtbaren Traum gehabt hatte. Alles, woran sie sich erinnerte, war, dass sie ihren Mann ermordet glaubte.

Martin schlief nicht mehr ein, stand früh am Morgen auf und ging, Geschäfte vorgebend, aus. Geschäfte hatte er jedoch nicht, sondern er schlenderte vor das Tor und dann auf das Land, ohne zu wissen, wohin er ging. Der Auftritt vom gestrigen Abend kam ihm nicht mehr aus dem Kopf. In seinem Gedächtnis wachten all die Geschichten wieder auf, welche er über seine Frau seit dem Tag, da er sie zum ersten Male gesehen, erfahren hatte. Er sann so lange, bis ihm anfing, ganz unheimlich vor ihr zu werden. Auf jeden Fall fühlte er sich, trotz ihrer Zärtlichkeit, nicht mehr ganz sicher bei ihr. Er beschloss, infolge ihrer Äußerungen über die Ursache ihres Hasses gegen ihre früheren Ehemänner, ihre Liebe auf die Probe zu stellen.

Lange nach Sonnenuntergang kehrte er nach Hause zurück und ging, Müdigkeit vorschützend, sogleich zu Bett. Am nächsten Tag blieb er den Vormittag bei seiner Frau, aber trotz ihrer Freundlichkeit und ihren Aufmerksamkeiten konnte er einer peinlichen Stimmung nicht Herr werden. Er war verschlossen und fast verdrießlich. Endlich schien auch Alice von ihm angesteckt. Nachmittags ging er aus und begab sich zu Master Andrews, der in der Nähe wohnte, in der Absicht, ihm seine Beunruhigungen mitzuteilen; doch da er dort noch mehrere Fremde fand und sein Frau nicht zum Gegenstand eines öffentlichen Gesprächs machen wollte, blieb er stillschweigend bis fast Mitternacht sitzen und kehrte mit dem festen Entschluss heim, seinen Plan noch in dieser Nacht auszuführen.

Auf dem Heimweg glitt er zufällig aus und fiel, wobei er sich sehr beschmutzte, da es den ganzen Tag geregnet hatte. Anfangs ärgerte er sich, bald aber gedachte er, dass dieser Unfall zu seinem Plan passe. Mit unordentlichem Anzug, unsicheren Füßen, hängendem Mund und halb geschlossenen Augen erschien er vor der Tür seines Hauses.

Seine Frau hatte, da es schon so spät in der Nacht war, die Dienstleute zu Bett geschickt und war selbst aufgeblieben, um ihn zu erwarten; ein Zeichen von Aufmerksamkeit, das liebende Ehefrauen nicht selten ihren Männern geben, oft mehr zu deren Ärger als zur Erbauung. Im gegenwärtigen Fall aber konnte Lessamour nichts erwünschter sein.

Sobald seine Frau ihn sah, erglühte ihr Gesicht dunkelrot. Ihre großen schwarzen Augen erweiterten sich zusehends, als sie ihn in einem halb ärgerlichen, halb sorglichen Ton fragte: »Wie, Martin, wie siehst du aus, was ist dir begegnet?«

»Meine liebe Frau, ich war bei einigen Freunden«, antwortete er etwas stotternd.

»Martin! Martin!«, sprach sie, indem sie sich in die Lippen biss und den Kopf schüttelte, »mach, dass du in dein Bett kommst.«

Er stellte sich bald, als ob er schlief, obwohl die ganze Nacht der Schlaf ihn floh. Auch seine Frau schien nicht zu schlafen, denn sie warf sich unruhig hin und her und murmelte zuweilen etwas vor sich hin.

Sobald der Morgen graute, stand sie auf, kleidete sich an und verließ die Kammer. Er blieb jenen ganzen Tag zu Hause und gab vor, starkes Kopfweh zu haben. Sie war sehr aufmerksam auf ihn, deutete aber mit keinem Wort auf sein Betragen vom gestrigen Abend. Nach zwei oder drei Tagen wiederholte er sein Experiment und fast mit gleichem Erfolg, nur schien ihm Alice noch verdrießlicher. Er versuchte es zum dritten und vierten Mal. Da sprach sie endlich mit ihm über sein Betragen, drückte mehr Kummer als Unmut darüber aus und sagte, sie hätte das erste, zweite und dritte Mal geglaubt, seine Trunkenheit sei bloßer Zufall, nun müsste sie aber befürchten, dass es bei ihm zur Gewohnheit werde. Sie bat ihn mit Tränen in den Augen, doch nun endlich einzuhalten und von dem Weg zum abscheulichsten Laster umzukehren, wenn ihm etwas an ihrem Glück, an ihrer Zufriedenheit, an ihrer Liebe zu ihm gelegen sei.

Er war ergriffen von der Wahrheit, von dem Ernst ihrer Vorstellungen, versprach es ihn und war auch wirklich entschlossen, sie durch seine Verstellung nicht mehr zu beunruhigen, aber ein unwiderstehlicher Trieb zwang ihn, nach wenigen Tagen sein ihr und sich selbst gegebenes Wort zu brechen. Sein Betragen zog wiederholte dringende Bitten seiner Frau nach sich. Zuletzt flossen auch Vorwürfe mit ein, aber ohne Erfolg; Lessamour fuhr fort, wie er es begonnen hatte.

Da erklärte ihm seine Frau eines Tages, nachdem er wieder vermeintlich betrunken nach Hause gekommen war: »Martin, ich habe dich so oft gebeten, jetzt bin ich es müde, nun warne ich dich! Nimm dich in Acht! Als meinem Gatten bin ich dir Liebe und Achtung schuldig, aber einem Trunkenbold kann ich sie nicht erweisen. Bedenke meine Warnung oder wehe uns beiden!«

Obwohl nun Martin sah, dass, wenn er in seinem Betragen beharre, es ihm die Liebe seiner Frau kosten, ihm ihre Unmut, ihren Hass zuziehen würde, so fuhr er doch darin fort. Im gegenwärtigen Zeitalter wäre es gewagt, ihn für behext zu erklären oder einem übernatürlichen Einfluss jenen mächtigen Trieb zuzuschreiben, der ihn, trotz seiner besseren Einsicht und seines besseren Gefühls, trotz der Liebe, die er noch für seine Frau besaß, trotz der Gefahr, der er sich, wie er wusste, aussetzte, und wovor er sich fürchtete, zwang, zu tun, was er gern gelassen hätte. Was nun aber auch die Triebfeder seines Benehmens sein mochte, die Versuchung war für ihn selbst so unerklärbar, wie unwiderstehlich.

Am nächsten Tag fragte ihn seine Frau: »Gehst du heute wieder aus, Martin?«

»Ich muss, Alice«, antwortete er, »ich habe heute wichtige Geschäfte.«

»So höre mich, Martin. Ich bitte dich nicht, ich habe dich zweimal gewarnt, und nun warne ich dich zum dritten und letzten Mal. Sieh wohl zu, dass du diese letzte Warnung besser beachtest als meine früheren. Aber nein, gehe heute nicht fort, Martin, oder wenn du gehst, so kehre nicht heim zu mir, wie du in letzterer Zeit zu tun gewöhnt warst. Es ist besser, du bleibst dann ganz von mir weg; aber noch besser, du bleibst bei mir, Martin!«

»Nein, nein, ich muss fort, Alice, denn …«

»Es bedarf keiner Ausrede, Martin, dein eigener unbeugsamer Wille ist es, der nicht den Bitten deiner Frau nachgeben will. Ach! Ich sagte, ich wolle dich nicht mehr bitten und doch tue ich es! Sieh! sieh, Martin! Auf den Knien, mit tränenden Augen flehe ich dich an, gehe heute nicht aus. Ich habe Träume gehabt, Träume von schlimmer Vorbedeutung. Martin, erst letzte Nacht träumte mir das …« Sie hielt inne, als müsste sie Atem holen. »… du würdest dein Leben verlieren, und doch gehst du aus, Martin!«

Martin Lessamour überlief es eiskalt bei diesen Reden seiner Frau, doch fasste er sich und antwortete fest: »Frau, Frau, du bist ein furchtbares Wesen und machst, dass ich dich fürchte; aber trotzdem werde ich gehen.«

»So geh denn!«, sprach sie, stand auf und verließ ihn.

Kurze Zeit darauf ging er aus. Er kehrte am Abend in demselben Zustand scheinbarer Trunkenheit wie früher nach Hause zurück und ging zu Bett. In den letzten Tagen, wo er diese Rolle gespielt und seit seine Frau Drohungen gesagt hatte, war er jedes Mal zu einem Freund oder in ein Gasthaus gegangen und hatte den Tag über geschlafen, um während der Nacht zu wachen und die Bewegungen seiner Frau zu beobachten. An diesem Tag aber konnte er vor innerer Unruhe zu keinem Schlaf kommen. Als er nun im Bett lag, übermannte ihn solche Schläfrigkeit, dass er trotz aller Anstrengung in einen leichten Schlummer verfiel. Aus diesem weckte ihn bald seine Frau, welche leise aufstand. Obwohl völlig wach, brauchte er die Vorsicht, sich zu stellen, als ob er fest schliefe.

Sie hatte ein Nachtgewand übergeworfen, ihr Haar hing lose herab über Nacken und Gesicht. Wie sie unten am Bett vorüberging, fiel das Licht einer Lampe, die auf einem Tisch brannte, auf ihr Gesicht, und Martin gewahrte jene schwarzgelbe Blässe darauf. Aus ihren Augen strahlte jener giftige Schlangenblick, den er nicht vergessen konnte. Er sah auch, dass sie ein kleines Messer in der Hand hielt.

Langsam und still glitt sie hin wie ein Gespenst. Sie ging zu der Stelle, wo sie ihren Rock aufgehängt hatte, nahm ihn herab, trennte einen der Ärmel auf und zog etwas heraus. Damit ging sie an den Kamin, wo noch Feuer brannte, da es Winter war, legte das Messer und den anderen Gegenstand weg und schien etwas unter dem Kamin zu suchen. Endlich hörte sie Martin murmeln »Nicht hier, wie töricht! Ich muss es unten tun.«

Sie ging zur Tür, Martins Herz pochte laut und es war ihm, als sollte er aufspringen und aus dem Haus stürzen, denn er hatte ein so seltsames Gefühl, als ob das Alleinsein noch furchtbarer sei als ihre furchtbare Gegenwart. Sie blieb an der Tür stehen, hielt die Klinke, aber öffnete nicht, sondern murmelte leise vor sich hin: »Nicht hier! Noch eine Frist will ich dir geben, Martin, mir immer noch teuer, obwohl verloren.« Damit huschte sie in ihr Bett zurück, lehnte ihren Kopf an Martins Schulter, seufzte und stöhnte, nicht laut, aber so tief, als ob ihr Herz brechen wollte. Er lag still wie eine Leiche neben ihr, denn er fürchtete sich wirklich mit ihr zu unterhalten. Hätte er auch Lust dazu gehabt, so erstickten doch die Worte eine Frist! jeden Laut in ihm. Sie schien bald darauf zu schlummern.

Am Morgen stand er früher auf als sie, doch erwachte sie davon. Er ging wie aus Zufall zum Tisch und sah neben dem Messer ein kleines Bleiklümpchen liegen.

»Was will Alice damit?«, sagte er, indem er sich Mühe gab, einen gleichgültigen Ton anzunehmen, da er merkte, dass sie ihn beobachtete.

»Was ist es?«, fragte sie. Er brachte es ihr ans Bett. »Das ist«, fuhr sie fort, »ein Gewicht aus meinem Kleiderärmel. Ich schnitt es vorige Nacht heraus, um es kleiner zu machen, denn ich finde es zu schwer.«

Martin legte es schweigend nieder und ging sogleich aus dem Zimmer.

Nach geraumer Zeit kam auch seine Frau in die Wohnstube. Sie hatte geschwollene rote Augen. Er bemerkte jedoch nichts darüber, sondern nahm seine Mütze und sagte: »Ich bin heute wieder zu Mittag gebeten, Alice.«

»So le’ denn wohl! Leb wohl«, sprach sie in langsamen, sehr feierlichem, aber freundlichem Ton.

Er zögerte noch einen Augenblick in der Erwartung, sie werde ihm noch etwas sagen, denn er fühlte sich heute weniger geneigt, seinen Betrug fortzusetzen, sei es aus wiederkehrender Liebe oder aus Furcht. Sie sprach aber nichts mehr und schien seine Gegenwart nicht zu bemerken.

»Nun so lebe wohl, Alice!«, sagte er nun und entfernte sich. Er begab sich zu einigen seiner nächsten Nachbarn und ersuchte sie, heute Nacht sich in Bereitschaft zu halten, falls er ihrer Hilfe bedürfte. Er habe einigen Verdacht, dass man ihn berauben oder ermorden wolle. Sie versprachen es und bestellten auch bei der betreffenden Behörde, dass diese Nacht in ihrer Nachbarschaft die Wache verstärkt würde.

Lessamour kehrte einige Stunden früher als gewöhnlich nach Hause zurück. Er rief, aber niemand antwortete. Er schloss die Tür und ging in das Schlafzimmer, wo er seine Frau bereits im Bett und anscheinend im tiefen Schlaf fand. Heute war es das erste Mal, dass sie nicht auf ihn gewartet hatte. Er machte ein großes Geräusch, stieß an Tische und Stühle, schalt und fluchte nach Weise der Betrunkenen.

Seine Frau schien fest zu schlafen. Er sprach zu ihr, sie gab keine Antwort. Da er nun wirklich glaubte, sie schlafe, ging er zu Bett. Sie lag immer noch still. Zwei Stunden lang rührte sie sich nicht. Auf einmal aber schlüpfte sie schnell und leise aus dem Bett, eilte ohne Geräusch zu einem Stuhl am Feuer, zog unter dem Stuhlkissen einen kleinen eisernen Löffel hervor, legte das Bleigewicht, welches Martin am Morgen gesehen hatte, in denselben und hielt ihn, auf ein Knie sich niederlassend in das Feuer. Dabei kehrte sie sich einen Augenblick zum Bett. Martin sah ihre Züge in wilder Leidenschaft verzerrt, aber Tränen in ihren Augen, die einen inneren Kampf verrieten.

Nun stand sie auf, flüsterte vor sich hin: »Jetzt ohne Erbarmen!« Sie trat mit dem geschmolzenen Blei in der rechten Hand an das Bett. Als sie es eben dem Kopf ihres Mannes näherte, um es ihm ins Ohr zu gießen, fuhr dieser mit einem Schrei auf, ergriff ihre Hand, sprang aus dem Bett und rief: »Schändliche Mörderin! Habe ich dich ertappt! Hilfe, Nachbarn! Mord, Mord!«

Alice schrie nicht auf, bebte nicht, sondern starrte ihrem Mann ins Gesicht, machte mit einer raschen Bewegung ihre Hand frei, warf den Löffel in das Feuer, sank auf einen Stuhl und bedeckte ihr Gesicht mit den Händen.

Auf Lessamours Ruf eilten die Nachbarn herbei, stürzten die Treppe herauf und sprengten wohlbewaffnet die Türen. Als sie dicht am Schlafzimmer waren, nahm Alice die Hände vom Gesicht und sprach mit hohler Stimme: »Martin Lessamour, beim lebendigen Gott, ich bin froh, dass es so gekommen ist!« Ehe er antworten konnte, waren seine Nachbarn mit der Wache im Zimmer und nahmen auf seine Anklage seine Frau in Verhaft.

Am nächsten Tag wurden die Särge ihrer früheren Ehemänner geöffnet. In jedem Schädel fand sich Blei, das offenbar durch eines der Ohren eingegossen worden war.

Miss Alice wurde bald danach auf des Zeugnis ihres lebenden und ihrer toten Männer, die, obwohl stumm nicht minder zeugten, gerichtet. Sie sprach nichts zu ihrer Verteidigung und hatte seit den Worten, die sie in ihrem Schlafzimmer in der Nacht ihrer Verhaftung an ihren Mann gerichtet hatte, keinen Laut mehr von sich gegeben.

Doch als Lessamour im Gerichtshof beim Verhör angab, dass er sich trunken gestellt habe, um zu prüfen, welchen Eindruck es auf sein Frau mache, und als er dieser sein Zeugnis beschwor, da wandte sich Alice, die ihm bisher den Rücken zugekehrt hatte, plötzlich um, richtete ihre glänzenden schönen Augen noch einmal auf ihn und sank mit einem durchdringenden Schrei zusammen.

Diesen Ton und diesen Blick hatte Martin Lessamour bis zu seiner letzten Stunde nicht vergessen können.

Sein Frau wurde zu Smitsfield dem Landesgesetz gemäß lebendig verbrannt.

Martin Lessamour wurde zwar ein sehr angesehener und reicher Mann, nie mehr aber war er froh und glücklich gewesen.