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Der Welt-Detektiv Band 6

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Der Detektiv – Die Zauberhand der Matani – 3. Kapitel

Walter Kabel
Der Detektiv
Kriminalerzählungen, Verlag moderner Lektüre GmbH, Berlin, 1920
Harald Harst gegen Cecil Warbatty
Des berühmten Liebhaberdetektivs Abenteuer im Orient
Die Zauberhand der Matani

3. Kapitel

Das Polizeiboot

Der Abend kam. Ich war froh, dass die Dunkelheit nahte. Ich hatte noch immer nicht gelernt, das leise Grauen vor Leichen zu überwinden. Und dort in der Kajüte lag die junge, verstümmelte Tote, dieses Opfer irgendeines Unholdes, der ihr zu einem mir völlig unerfindlichen Zweck die rechte Hand abgetrennt hatte.

Wir saßen auf der vertieften Bank am Steuer. Drei Schritt vor uns ging es die wenigen Stufen in die Kajüte hinab. Nur die dunkle Tür von Mahagoniholz versperrte uns den Anblick der braunen armen Frau.

Harst war über derartige Schwächen wie Leichenscheu gänzlich erhaben. Er schwärmte nun vom prachtvollen Sonnenuntergang. Ich hörte kaum hin. Ich grübelte immer wieder darüber nach, ob hier etwa ein Racheakt vorliege oder ein Eifersuchtsdrama, denen das Mädchen zum Opfer gefallen. Und weiter fragte ich mich: Weiß Harst wirklich bereits mehr als du über dieses seltsame Verbrechen? Woher weiß er es dann? Ihr beide seid doch stets zusammen gewesen seit dem Verlassen des Dampfers. Und du hättest doch ebenfalls wenigstens etwas von Vorgängen merken müssen, die geeignet gewesen wären, dieses Drama näher zu beleuchten.

Harst selbst hierüber um Aufklärung zu bitten, war zwecklos. Er hatte mir zugesagt, noch heute Abend mir Aufschluss über all dies zu geben. Das hielt er auch.

Der Abend war da. Ich durfte also hoffen, baldigst völlig eingeweiht zu werden.

Harst erhob sich. »Es wird Zeit, lieber Schraut«, meinte er. Mein mahnender Blick entlockte ihm ein Lächeln.

»Du verlangst die Einlösung meiner Zusage. Gedulde dich noch etwas. Ich möchte nicht zweimal dasselbe vortragen; nämlich dir und dem Detektivinspektor in Madras. Er heißt Plumper. Hoffentlich keine üble Vorbedeutung: Plump, plumper, am plumpsten. Ich las seinen Namen vorhin in einer der alten Zeitungen.«

Der Motorkutter schwenkte eine halbe Stunde später in die Reede von Madras ein, vorüber an ankernden Schiffen, vorüber an indischen Frachtbooten, die hochbeladen mit prallen Segeln in der Abendbrise der Stadt zuglitten.

Wir fuhren mit halber Motorkraft. Harst hatte die vorschriftsmäßigen Positionslaternen gesetzt. Ich steuerte. Inzwischen war es dunkel geworden. Die unzähligen Lichter der Stadt kamen näher und näher. Dann tauchte links von uns ein kleines, sehr schnelles, offenes Boot mit Heckmotor auf. Seine lange Flagge fegte im Wasser nach. Ganz plötzlich blitzte am Bug ein Scheinwerfer auf, beleuchtete uns für Sekunden, erlosch wieder.

Das Boot hielt auf uns zu.

»Ein Hafenpolizeiboot«, meinte Harst laut. »Es trifft sich gut, dass wir ihm noch hier auf der Reede begegnen.«

Gleich danach lag es neben uns. Vier Leute saßen darin; alle in gelben Khakianzügen mit Uniformabzeichen. Drei waren Eingeborene, nur einer ein Europäer. Dieser kletterte zu uns herüber und fuhr uns sofort sehr barsch an.

»Wie sind Sie in Besitz dieses Kutters gelangt? Er gehört Wilm Graavenjong von der Ruckara-Plantage. Gestohlen, wie?«

Er riss die Kajüttür auf, leuchtete mit seiner Laterne hinein.

»Ah, verdammt! Was bedeutet das?« Er hatte die Leiche bemerkt.

»Eine Tote, wie Sie sehen«, meinte Harst. »Ich ersuche Sie, Inspektor Plumper von der hiesigen Detektivpolizei …«

»Sie haben den Mund zu halten!«, brüllte der Grobian. »He, Boys«, rief er seinen drei Leuten zu, »kommt mal an Bord! Hier gibt es Arbeit.«

Harst tat in diesem Augenblick etwas, das ich nicht recht begriff. Er, der jeden Zusammenstoß mit Beamten stets vermied, der lieber achselzuckend eine Ungehörigkeit hinnahm, als sich mit den Behörden zu veruneinigen, er bekam den Hafenpolizisten plötzlich bei der Brust zu packen und schleuderte ihn wie ein leeres Kleiderbündel den beiden Farbigen entgegen, die soeben unser Deck betreten hatten.

Ein Wutgebrüll! Die drei lagen nun als wirrer Knäuel im Polizeiboot.

Harst sprang zu dem Motorhebel hin. Der Motor lief leer. Nun begann die Schraube zu schlagen. Wir schossen vorwärts.

Dann Harsts Stimme: »Schraut, gut gesteuert! Ramme das kleine Boot von der Seite. Es muss sein!«

Der Motor raste mit höchster Tourenzahl. Ich sah in Harsts Rechter seinen Revolver blinken.

»Was soll das?«, rief ich zurück. »Bist du denn ganz …«

»Gehorche, frage nicht! Ich habe meine guten Gründe.« Er schwang die Ölkanne in der Linken. »Und wenn die vier Schufte ersaufen, schadet nichts!«, fügte er hinzu.

Ich fürchtete allen Ernstes, ihn habe plötzlich der Tropenkoller oder sonst was Hirnverwirrendes gepackt. Trotzdem: Ich war so daran gewöhnt, ihm blindlings zu folgen, dass ich fast mechanisch das Steuer herumwarf und auf das kleine Boot zuhielt.

Und … da erst sah ich, dass es scheinbar flüchtete.

Was … was in aller Welt bedeutete das nun wieder? Die Hafenpolizei riss vor uns aus?

»Aha!«, rief Harst. »Warbatty gibt das Spiel für jetzt verloren!«

»Warbat…?« Mir blieb die letzte Silbe im Halse stecken.

Harst stand schon neben mir. »Platz da! Gib mir die Ruderpinne. Wir müssen die Schurken haben – unbedingt! Feuere ein paar Schüsse in die Luft ab. Lade aber sofort wieder …«

Selten habe ich Harald Harst so erregt gesehen wie damals.

Ich schoss, drückte dreimal ab.

Das kleine Boot vor uns war nur zu flink. Die Entfernung zwischen uns nahm nicht ab.

Harst fluchte leise: »Unser verd… Kutter ist die reine Schnecke! Aber Warbatty soll mir nicht abermals entgehen. Ich kenne keine Rücksichten mehr. Schraut, nimm schnell aus meinem Koffer die lange Mauserpistole heraus!«

Die Koffer standen in der Kajüte neben der Leiche. Ich zögerte.

Da drängte er mich beiseite. »Da, zurück ans Steuer, du …«

Vielleicht sagte er Angsthase oder dergleichen. Ich verstand es zum Glück nicht mehr.

Gleich darauf sprang Harst auf das niedrige Kajütdach! Das Boot vor uns war nur noch als dunkle Masse auf dem Wasser zu erkennen.

Harst zielte mit der langläufigen Mauserpistole, schoss, schoss abermals, verfeuerte alle neun Patronen des Rahmens.

Ich hörte dann das Knacken, als er einen frischen Rahmen einschob.

Und wieder Schuss auf Schuss.

Und nun seine triumphierende Stimme: »Der Flüchtling ist flügellahm. Sieh, wir rücken schnell auf.«

Er hatte recht. Immer deutlicher wurden die Umrisse des kleinen Bootes.

»Von hinten heran!«, brüllte Harst. »Wir haben sie! Halte deinen Revolver bereit!«

Unser Kutter fraß die wenigen Meter im Nu.

»Hölle und Teufel!« Harst kreischte vor Ingrimm. »Die Halunken sind unbemerkt über Bord gesprungen. Nein, da liegt noch einer vorn im Boot. Scheint tot zu sein. Aber nur einer!«

Urplötzlich eine blendende Lichtflut um uns her.

Ein großer Scheinwerfer beleuchtete den Kutter und das treibende Boot.

Dieses Mal war es ein echtes Polizeifahrzeug, eine große Barkasse, die sich uns näherte. Vorn auf der Spitze stand ein Mann in weißem Anzug, ein Riese fast.

»He, ihr da!«, rief er uns zu. »Was geht hier vor?«

Die Barkasse stoppte. Ihre Schraube schlug rückwärts.

»Das lässt sich in wenigen Worten nicht erklären, Master«, antwortete Harst. »Jedenfalls will ich Ihnen zunächst meinen Namen nennen. Ich heiße Harald Harst …«

»Ah, sehr gut, Master Harst! Hier Inspektor Plumper! Kapitän Farinpay vom King Edward war bei mir und hat mir die Geschichte von der verstümmelten Leiche gemeldet. Ich wartete bereits auf Sie, Master Harst.«

Er sprang zu uns nun herüber, reichte Harst die Hand; dann auch mir. Er war einer jener tadellos erzogenen Briten, die so sehr geeignet sind, die englische Weltherrschaft im Ausland zu festigen. Nichts Dünkelhaftes, nichts Überhebendes an diesem klugen, in allen Sätteln gleich festen Mann, der – und das erfuhren wir erst später – auf seinen Lordtitel verzichtet hatte, um als einfacher Master Howard Plumper seiner Neigung für den Detektivberuf unbehindert folgen zu können. Wenn ich dagegen an so manche unserer deutschen Auslandsvertreter denke, an deren steifleinene Zugeknöpftheit, ihr lächerliches Standesbewusstsein, ihr geringes Verständnis für ihr schwieriges Amt, das doch gerade die Fähigkeit verlangt, auch zu dem ärmsten Landsmann gleich entgegenkommend zu sein!

Der Mann in dem kleinen Boot war der Weiße, der uns vorhin so grob angefahren hatte. Eine Kugel war ihm von der Seite durch den Kopf gegangen. Er war tot.

Plumper besichtigte ihn sehr genau, riss ihm dann den schlecht angeklebten falschen Bart herunter.

»Ah, Tom Blenkley!«, meinte er. »Ein ganz übelberüchtigter Bursche! Hat schon acht Jahre Zuchthaus hinter sich.«

Die weitere Durchsuchung des angeblichen Polizeibootes ergab, dass eine andere Kugel den Zylinder des Heckmotors beschädigt hatte. Im Übrigen wurde darin nichts gefunden, was irgend von Wichtigkeit gewesen wäre.

Die Barkasse begann nun große Kreise zu fahren, leuchtete mit dem Scheinwerfer die Wasseroberfläche ab und suchte so nach den drei flüchtigen Schwimmern.

Plumper war auf unserem Kutter geblieben. Wir steuerten der Stadt zu. Der Inspektor saß neben mir auf der Ruderbank. Harst stand an dem Motorkasten.

»Sie haben in dem einen farbigen falschen Hafenpolizisten also Warbatty, erkannt Master Harst?«, meinte Plumper nun. Sie müssen geradezu Katzenaugen haben, im Dunkeln sehen!«

»Oh, gute Augen habe ich, das stimmt«, entgegnete Harst. »Warbatty jedoch erkannte ich mehr mit dem Verstand. Das kleine Boot mit der nachschleppenden Flagge erschien mir sofort ein wenig unecht. So winzige Polizeifahrzeuge kannte ich bisher nicht. Dann der grobe Ton des jetzt erschossenen Menschen! Und noch etwas, was ich nachher erwähnen will. Jedenfalls: Das Boot kam mir nicht recht geheuer vor. Als ich dann noch bemerkte, dass der eine Farbige sehr klein von Statur war, dass er sich stets ganz vorn im Boot aufhielt, als wollte er sich nicht gern zu dicht an uns heranwagen, da war ich mir meiner Sache schon so ziemlich sicher. Schließlich noch der letzte Beweis: Der grobe Mensch riss sofort die Kajüttür auf und leuchtete hinein! Mithin erwartete er, dort etwas Besonderes zu finden! Und das gab den Ausschlag!«

»Hm«, machte der Riese von Inspektor. »Hm, so ganz verstanden habe ich Sie nicht, Master Harst«, sagte er höflich. »Entschuldigen Sie schon, aber wie konnten Sie denn überhaupt wissen, dass dieser Cecil Warbatty mit dieser …«

»Ganz recht!«, fiel Harst ihm ins Wort. »Wie konnte ich ahnen, dass Warbatty mit der verstümmelten Toten irgendwie etwas zu tun haben dürfte. Darüber wollen wir uns in Ihrem Dienstzimmer unterhalten, Master Plumper. Hier werde ich durch die Bedienung des Motors zu sehr abgelenkt.«

Unser Kutter legte in einem kleinen Bassin an, in dem die Polizeiboote ihren Ankerplatz hatten. Plumper ließ die dicht verhüllte Tote zum Leichenkeller der Polizeidirektion bringen und nahm uns selbst in einem Dienstauto nebst unseren Koffern dorthin mit. Er hatte in dem weitläufigen, modernen Gebäude eine Wohnung von 4 Zimmern in einem Seitenflügel inne. Von den Fenstern konnte man einen Teil der alten Handelsstadt und der Reede überschauen.

Der Inspektor war der liebenswürdigste und zwangloseste Wirt, den man sich nur vorstellen kann. Im Nu hatte er seine Bibliothek für uns als Schlafzimmer und ein Abendessen herrichten lassen, das mit seinen drei warmen Gängen jedem ersten Hotel Ehre gemacht hätte.

Plumper hatte zwei Diener, von denen der eine, gleichzeitig der Koch, ein Japaner war, den der Inspektor sozusagen vom Galgen befreit hatte. Dieser gelbe Japs namens Schiparu sollte eines Mordes wegen gehängt werden. Plumper hatte nie recht an seine Schuld geglaubt, hatte unermüdlich die Sache weiter untersucht und kam dann gerade noch im letzten Augenblick mit den Beweisen auf den Richtplatz, dass ein anderer der Mörder sei.

Während wir auf der Veranda zu Abend aßen, erzählte Plumper uns dies und manches andere.

Dann lenkte Harst das Gespräch auf die Sehenswürdigkeiten der Stadt.

»Ich kenne Madras noch nicht, obwohl ich bereits zweimal in Indien war«, meinte er. »Außer Tempeln, Moscheen und Ruinen wird es hier wohl nicht viel Interessantes geben. Dazu ist Madras doch zu wenig …«

Er schwieg plötzlich.

Ich muss hier einfügen, dass die Veranda vor den Zimmern Plumpers nach dem Garten des Polizeigebäudes zu lag, und zwar im Hochparterre. Sie wurde durch Holzpfeiler von unten gestützt, die dicht mit einem zartlila blühenden Rankengewächs bedeckt waren, dessen sehr stark duftende tellergroße Blüten etwa wie enorme Veilchen aussehen.

Harst beendete den Satz nicht, sondern war mit einem halben Sprung an der Verandabrüstung, beugte sich tief hinab, schnellte wieder hoch, ergriff eine schwere, gefüllte Wasserkaraffe und schleuderte sie nach unten.

Wir hörten das Glas zersplittern.

Harst schwang sich nun über das Geländer, kletterte ebenso blitzschnell abwärts.

Wir waren aufgestanden. Wir sahen zwei Gestalten auf die Mauer zueilen, die den Garten nach Westen zu begrenzte.

Harst kam zu spät. Mit affenartiger Geschwindigkeit hatte der Flüchtling sich über die Mauer gerettet, obwohl diese oben mit in Zement eingedrückten großen Glassplittern gespickt war.

Als Harst die Veranda wieder betrat sagte er nur ein Wort, aber es genügte: »Warbatty!«

»Nicht möglich!«, rief Plumper.

»Doch, er war es ganz bestimmt!« Harst warf ein Ledersäckchen auf den Tisch. »Sie dürften diese Art Pfeilköcher kennen, Inspektor. Der Beutel enthält vergiftete Blasrohrpfeile wie sie die Bewohner der Andamaneninseln aus Dornen und Daunen herstellen. Das dazugehörige Blasrohr liegt unten. Ein solcher Pfeil sollte mich stumm machen. Ich habe jedoch sehr gute Ohren. Warbatty hätte beim Erklettern des Pfeilers leiser sein müssen.«

»Unglaublich«, murmelte Plumper.

Harst hielt jetzt etwas zwischen Daumen und Zeigefinger der Rechten hoch gegen das Licht der elektrischen Hängelampe.

»Dieser Stofffetzen hier, der an einem der Glasscherben hing, ist noch wertvoller als der Pfeilbeutel. Bitte, Schraut, schau ihn dir mal genauer an …«

Ich tat es und erkannte sofort, dass der Stofffetzen ein Gewebe von grünen und grauen Fäden von lodenartiger Beschaffenheit war.

»Die Wollstoffaser aus dem Bretternachen!«, rief ich leise.

»Allerdings!«, bemerkte Harst. »Kein anderer als Warbatty war der Mörder des braunen Mädchens und der Dieb der abgeschlagenen Hand!«