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Im Zauberbann des Harzgebirges – Teil 40

Im Zauberbann des Harzgebirges
Sagen und Geschichten, gesammelt von Marie Kutschmann

Die Zwerge vom Sachsenstein

In den Gipsbergen, welche den Südrand des Harzes bilden, finden sich zahllose kleine und größere Höhlen, die dadurch entstanden sind, dass sich der Gips in Wasser gelöst hat. Da aber die ganze Gegend von unterirdischen Wasserläufen durchzogen ist, dauert die Höhlenbildung fort und fort. Überall finden sich hier auch Erdsenkungen oder Erdfälle, die bald als senkrechte Löcher, bald als trichterförmige Vertiefungen oder auch als talähnliche Bassins sich fortziehen. Oft sind sie ständig mit Wasser angefüllt, oft nur zeitweise. Sie werden Hungerquellen oder Hungerseen genannt. Dieses hat darin seinen Grund, dass infolge neuer Einstürze Wasserläufe verstopft werden, die sich erst mit der Zeit einen anderen Ausweg zu bahnen vermögen. Jedenfalls sind diese Erdfälle als eingestürzte unterirdische Höhlen anzusehen.

Auch auf dem Sachsenstein finden sich zahlreiche Vertiefungen, sogenannte Gipsschlotten, in denen das Wasser spurlos versinkt. Bald sind es kleinere oder größere Höhlen, bald eckige Löcher, welche aussehen, als ob Menschenhände sie gebildet hätten. Dies waren die Wohnungen der Zwerge, die den Sachsenstein als Scheidewand ihres Reiches aufgeführt hatten und die weit und breit gefürchtet waren. Nur ungern gingen die Bewohner der Umgegend am Sachsenstein vorbei, da die Zwerge häufig Vorübergehenden einen Streich spielten und Frauen sogar zum Scherz gefangen nahmen. Im Übrigen waren die Kleinen munter und guter Dinge, feierten die lustigsten Feste und dazu erklang eine wunderbar liebliche Musik aus dem Sachsenstein heraus. Allein auch bei den Leuten im Dorf, die Hochzeiten oder Kindtaufen feierten, fanden sie sich ein, natürlich immer mit ihren Hehlkappen auf dem Kopf. Dann konnten die kleinen unverschämten Kobolde recht ungeniert zulangen und den Gästen alles vor der Nase wegessen, ohne dass diese sie sehen konnten. War aber Kümmel ins Brot gebacken, dann wurden sie recht traurig, denn den konnten die Zwerge nicht vertragen und wurden krank, so wie sie davon aßen. Einigen zwar schadete der Genuss des Kümmelbrotes nicht; diese hatten sicher einen besseren Magen und wurden deshalb Kümmelzwerge genannt. Doch ihrer waren nur sehr wenige.

Einst feierte der alte Gödeke in Bräunrode Kindtaufe. Kaum hatten die Zwerge das vernommen, als sie sich auch mit ihren Hehlkappen einfanden, denn sie wussten, beim alten Gödeke gab es immer etwas Gutes.

Es musste der losen Schar auch vorzüglich munden, denn sie griffen so herzhaft zu, dass den Leuten kaum etwas übrig blieb. Das sah der alte Gödeke mit großem Ärger, da er doch für seine Gäste und nicht für die zudringlichen Zwerge das Mahl so reichlich und lecker hatte herrichten lassen. Wo aber waren die unnützen Burschen? Man hörte wohl ein leises Schmatzen, wie es Mäuse an sich haben, aber das war bald hier, bald dort. Da kam der Alte auf einen Einfall. Er holte sich eine Eierschale und braute Bier darin. Das konnten die Zwerge nicht sehen, ohne sich zu verraten, und von allen Seiten klang es sogleich:

So bin ich doch so alt
wie der Döringerwald.
Und habe noch nicht besehen
in einer Eierschale Bier brauen.

Die versammelten Leute lachten herzlich darüber, dass die Zwerge sich so verraten mussten, und trieben sie alle hinaus, da sie an dem Klang der Stimmen erkannt hatten, wo dieselben waren.

Ein Schäfer, der seine Herde einst in der Nähe des Sachsensteins hütete, hörte lustige Musik aus dem Berg herausschallen. Neugierig suchte er an dem Gestein herum, ob er nicht eine kleine Spalte finden könne, durch die er in das Innere zu blicken vermöchte. Richtig gelang es ihm, und als er eine Menge welkes Laub fortgeräumt hatte, sah er ganz deutlich die Zwerge an einer langen Tafel sitzen und unten am Ende derselben die Musikanten, die so lustige Weisen aufspielten. Doch auch das Zwergvolk hatte den Schäfer bemerkt, winkte ihm, hereinzukommen, und einer von den kleinen Leuten führte ihn durch eine größere Öffnung in den Berg. Da hatte der Schäfer das ganze Fest mitgefeiert und tüchtig gegessen, denn es gab Reisbrei, und das war sein Leibgericht. Nachher ist er unversehrt wieder zurückgekehrt und hatte noch oft an das vergnügte Zwergfest gedacht.

Die Räubereien des kleinen Volkes wurden aber immer ärger, und im Winter, wo keine Erbsen und sonstiges Gemüse oder Obst draußen zu finden waren, mussten vor allem die Bäcker herhalten. Diese wussten nicht mehr, wohin sie das Brot legen sollten. Überall fanden es die Zwerge und nahmen es fort.

Da riet ihnen ein Mädchen das schon erwähnte Mittel an, Kümmel ins Brot zu backen. Die Bäcker und auch die anderen Leute versuchten dies; und wirklich, keins der Brote fehlte mehr. Wohl war hier und da ein Brot ein wenig angeknabbert, als hätten die Mäuschen davon genascht. Das waren die Kümmelzwerge gewesen, die nach wie vor in die Bäckerläden kamen. Aber der Schaden, den diese verursachten, war so gering, dass man ihnen gern Nahrung gewährte.

Die anderen Zwerge aber mussten großen Hunger leiden. Sie beschlossen daher, den Sachsenstein zu verlassen und einen anderen Ort aufzusuchen, an dem es bessere Menschen gäbe. Vorher aber versuchten sie durch List das Mädchen, welches alles Unheil über sie gebracht hatte, in ihre Gewalt zu bekommen. Der Plan glückte und derb wurde dasselbe von den erzürnten Zwergen gezüchtigt.

Nun kam der Tag, an welchem das Völkchen den geliebten Sachsen­ stein verlassen sollte. Vor dem Rathaus in der Sachsa hatten sich alle versammelt und sind dann mit Musik und Gesang fortgezogen. Sie hatten aber ihre Hehlkappen auf. Darum konnten die Leute, die alle jubelten, als sie vernahmen, dass die kleinen Diebe im Abmarsch begriffen seien, sie nicht sahen; doch hören konnten sie genug. Das war ein Murmeln, Schnattern und Getrappel, als ob eine ganze Schar Gänse mit ihren platten Füßen durch den Sumpf patschte und vorlaut eine die andere im Geschnatter überbieten wollte.

Dann wieder ertönte Musik und Gesang, ja, der ganze Sachsenstein erklang, als wäre er ein großer Kessel, in dem Tausende von Goldstücken hin und her geworfen würden. Die Anführer des Zuges standen vor dem Rathaus und fragten die Leute, ob sie ein ewiges Bergwerk oder lieber von jedem der ihren einen Pfennig haben wollten.

Da sagten die törichten Menschen: »Gebt uns lieber jeder einen Pfennig.«

Weil nun aber der Zwerge so viele waren, stellten sie einen Dresdener Scheffel auf den Marktplatz.

Dahinein warf nun jeder vorüberziehende Zwerg seinen Pfennig, und bald war das Maß über und über voll. Als die Ersten des Zuges in dem Dörfchen Steina angekommen waren, standen die Letzten noch bei den Zwerglöchern vor dem Sachsenstein. So viele Zwerge hatten in dem Alabasterfelsen gewohnt.

Die kleine Schar zog nordwärts. Als sie in Scharzfels ankam, empfingen die Quärge auf der Schneie sie aufs Herzlichste. Vor allen Dingen musste nun aber daran gedacht werden, den Hunger der Reisenden zu stillen. Da die Erbsen gerade zu reifen begannen, begab man sich auf die Felder der Bauern und aß nach Herzenslust.

Mit großem Kummer sahen diese die Verwüstung, bis es ihnen endlich gelang, die kleinen Räuber zu erhaschen und sie tüchtig durchzuprügeln. Davon habe ich schon bei den Scharzfelser Quärgen erzählt. Mit diesen gemeinschaftlich zogen denn auch die Sachsensteiner Zwerge von dannen, immer weiter nach dem Norden. Kamen sie aber unterwegs an ein Erbsenfeld vorüber, so ging es geschwind hinein. Feldarbeiter, die gerade anwesend waren, konnten gar nicht begreifen, was das für ein Geräusch war, das an ihr Ohr schlug. Sie erzählten, in den Erbsen hätte es geschmatzt, als ob Schweine gefressen hätten, aber weder Schweine noch sonst ein lebendes Wesen wäre zu sehen gewesen.

In Osterode haben die Zwerge sogar an der Wirtstafel gespeist und dabei einen furchtbaren Lärm gemacht.