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Eine Räuberfamilie – Fünftes Kapitel

Emilie Heinrichs
Eine Räuberfamilie
Erzählung der Neuzeit nach wahren Tatsachen
Verlag von A. Sacco Nachfolger, Berlin, 1867
Fünftes Kapitel

Daheim in Deutschland

Im Land unweit der Elbe, wo sich die Lüneburger Heide, diese an lieblichen Oasen so reiche Wüste, meilenweit erstreckt, um nach und nach mit ihrer haidschmucken Romantik der alles erobernden Kultur zur Beute zu werden, liegt ein einsames Gut, dessen stattliches Herrenhaus mit seinen Balkonen und blitzenden Fenstern weit hinaus in die flache Gegend schaut und deshalb von den Landbewohnern weit und breit das Schloss genannt wird.

Hier wohnt der alte Baron von Waldau, abgeschieden von aller Welt, nur in Gesellschaft seiner alten Haushälterin und der übrigen Dienerschaft.

Der einzige Mann, mit welchem der greise Baron verkehrt, ist der Inspektor Walter, ein kluger, ausgezeichneter Beamter, in dessen Händen die ganze Verwaltung des großen Gutes ausschließlich liegt. Auch kommt zuweilen der Pfarrer des nächsten Kirchdorfs zum Besuch. Sonst sieht der alte Herr keinen Fremden bei sich, während er nur den Armen auf seinen einsamen Spaziergängen Besuch abstattet und durch seine Mildtätigkeit der Abgott dieser Menschen geworden ist.

Es war ein prachtvoller Herbsttag, wie wir ihn so mild und schön im Norden haben können. Die Sonne strahlte warm und freundlich vom klaren Äther herab und drang in ein helles, vornehm ausgestattetes Gemach, dessen Glastüren geöffnet waren und den Blick auf einen herrlichen Blumengarten gestatteten.

In der Mitte des Gemachs, welches eine Rotunde bildete, stand ein hoher Samtsessel, worin ein Greis mit schneeweißem Haupt und straffer, jugendlicher Haltung saß. Das Gesicht war mild und freundlich, obwohl von einem beständigen Zug tiefinnerlicher Traurigkeit überschattet. In seiner ganzen Erscheinung drückte sich so recht der Adel einer echt vornehmen Gesinnung aus.

Vor ihm, zu seinen Füßen, saß ein liebliches Mädchen von achtzehn Jahren auf einem niedrigen Schemel und las aus einem Buch vor. Es waren Lenaus Gedichte.

Der Greis war der Herr dieses Schlosses, Baron von Waldau, und das junge Mädchen Agnes Walter, des Inspektors Tochter, an welche Georg seinem Herrn in Neapel die vielen Grüße auftrug.

Agnes las:

O Herz, dein Lauschen ist nicht gut;
sei ewig, Herz, und hochgemut
Da hinten ruft so manche Klage,
und vorwärts zittert manche Frage.
Wohlan! Was sterblich war, sei tot!
Naht Sturm, wohlan! Wie einst das Boot
mit Christus Stürme nicht zerschellten,
so ruht in dir der Herr der Welten.

Über des Greises bleiche Wange rann eine große Träne. Er legte die Hand leise auf der Jungfrau glänzenden Scheitel und sprach mit bebender Stimme: »Ja, vorwärts zittert manche Klage, schließe das Buch, mein Kind! Ein Dichterherz hat für jeden Kummer, für jedes Leid einen Trost, woran sich die menschliche Seele erheben und stärken kann, wenn es nächtlich will werden in ihr. So will auch ich den schwarzen Schrein der Vergangenheit schließen und auf jene Klagen horchen, welche in der Zukunft zitternd an mein Ohr schlagen werden. Und diese Zukunft hat für mich nur einen Namen: Leonhardt!«

»Er wird bald kommen, Herr Baron!«, versetzte Agnes tröstend, »mir sagt es eine Ahnung, welche mich selten getäuscht hat. Ein Brief ist schon unterwegs.«

»Ei, ei, du hast dir am Ende von der alten Doris die Karten legen lassen«, sprach Waldau, ihr liebevoll das Haar streichend. »Wenn ich ihr alles glauben wollte, dann brächte er sich eine Prinzessin aus dem Morgenland mit, wovor uns übrigens der Herrgott in Gnaden bewahre. Gesteh nur, Doris hat den Brief in den Karten gesehen.«

»Ach, an die Karten glaube ich nicht«, rief Agnes eifrig, während eine Purpurglut ihr reizendes Antlitz deckte. »Mein Ahnungsgeist täuscht nicht, wenn auch die Karten von dem Brief erzählen, so weiß ich doch ganz gewiss, dass der junge Herr schon selber mit dem Georg unterwegs ist.«

»Das gebe Gott«, sprach der Alte bewegt, »ich hatte in der vorigen Nacht einen beängstigenden, schrecklichen Traum, dessen Einzelheiten mich noch mit Schauder und Entsetzen erfüllen. Du weißt, dass sein langer Aufenthalt in Italien mir gar nicht gefallen wollte. England und Frankreich wurden über jenes Land, an das ich nun einmal nicht ohne Abscheu denken kann, gänzlich vernachlässigt. Auf meine dringenden Bitten ging er endlich nach Frankreich. Nun erhielt ich in letzterer Zeit wieder Briefe mit dem Poststempel italienischer Städte. Das hat mich sehr geängstigt, mein Kind, da mir einmal in seiner Jugend von einer alten Zigeunermutter prophezeit worden ist, Italien würde sein Unglück. Wenn ich auch an dergleichen nicht glaube, so drückt sich die Erinnerung doch gewaltig in die ängstliche Seele. Wie man auch dagegen ankämpft, das Bild will nicht weichen. Siehst du, mein Kind, der Aberglaube ist eine Hauptmacht des Schicksals, er bestimmt und leitet oft Unbewusst unsere Handlung ein.«

»Gewiss, Herr Baron!«, erwiderte Agnes schelmisch, »Sie glauben an jene Prophezeiung und an den bösen Traum, wie Doris an ihre Karten.«

»Leider«, sagte Waldau nachdenkend, »dagegen hilft kein Verstand, keine Intelligenz. Mit dem Gedanken an jene unglückselige Prophezeiung mag ich am gestrigen Abend wohl eingeschlafen sein, dass er sich so schauerlich in meinen Traum verwebte. Es war mir, als wären wir beide, du und ich, in Italien, in einer mir völlig fremden Gegend, obwohl ich jenes Land ziemlich genau kenne. Wir saßen an einer langen Tafel, welche unter der Last aller kostbaren Leckereien fast zu brechen drohte, welche Angst mir jeden Genuss, zu welchem ich überhaupt auch gar nicht gelangte, verkümmerte. Du saßest an meiner Seite und spieltest mit einem prächtigen Vogel, der sich plötzlich in eine bunte Schlange verwandelte und gegen mich anzischte, worauf sie immer größer und dicker wurde, bis sie die ganze Tafel der Länge nach bedeckte. Ich wollte dich mit fortziehen, doch das Gewicht der Schlange lastete auf uns, dass wir uns nicht zu rühren vermochten. Da trat plötzlich Leonhardt mit einem langen Degen in der Hand in den Saal, seine Brust war geöffnet und ließ eine tiefe, blutige Wunde blicken. Er schlug mit seinem Degen der Schlange den Kopf ab, aber es wuchsen ihr neue. So viel er deren auch abhieb, es war eine leibhaftige Hydra, welche sich urplötzlich in eine schöne Frau verwandelte, ihn umschlang und mit ihm in die Tiefe versank. Mit einem furchtbaren Schrei erwachte ich.«

»Hu, mich schaudert«, sagte Agnes, »wie kann man nur solches träumen. Nein, Herr Baron! An diesen Traum glauben Sie nicht. Des Menschen Geist ist zuweilen im Schlaf ein wahres Ungeheuer, der schauerlichste Märchendichter. Aber das Wetter ist gar so prächtig«, unterbrach sie sich plötzlich heiter, »ich gehe zur Tante Doris, dass sie das Abendessen recht früh im Freien unter der alten Linde servieren lässt, und dann …«

»Nun und dann, du kleine Fee?«, fragte der Baron.

»Dann machen wir noch einen himmlischen Spaziergang ganz hinaus in die braune Heide, um alle bösen Träume und Prophezeiungen den vier Winden zu übergeben, welche mit ihnen ihr Spiel treiben mögen, ja

Lass sie mit den Stürmen geh’n,
Dem rauen Spielgesind’ aus Norden!

Sie küsste dem alten Herrn die Hände und schwebte leichtfüßig wie eine Elfe hinaus, während der Baron ihr wehmütig lächelnd nachblickte und sich dann mit einem tiefen Seufzer erhob.

Lass deine Toten aufersteh’n
und deiner Qualen dunkle Horden!

So sprach er leise und ging in ein angrenzendes Kabinett, wo er aus einem verschlossenen Schrein ein Kästchen nahm, das nur ein kleines Porträt enthielt, ein wunderschöner Frauenkopf, Leonhardts Ebenbild. Es war des Alten Jugendliebe, der er bis heute sein Herz in unvergänglicher Treue bewahrt hatte.

Der Baron betrachtete es lange. Träne um Träne fiel herab auf das Bild. Endlich hauchte er einen leisen Kuss darauf, als fürchte er, es durch seine Berührung zu entweihen und flüsterte: »Ich erfüllte deinen Wunsch und sorgte für dein Kind, als wäre es mein eigenes. Er sah in mir stets seinen Vater, obwohl ich ihm sagen musste, er sei eine arme Waise. Der Hochmut deiner Peinigerin, welche ich Tante nannte, sorgte dafür, sonst hätte ich ihm auch das so gern erspart. Du armes Opfer meines Geschlechts, sieh mich freundlich und mild an. Du hättest mir die Erde zum Himmel umwandeln können, so liebte ich dich und liebe dich fort und fort in deinem Sohn. Nimm meinen Schwur aufs Neue, dass ich über ihn wachen werde, und sollte ihm dort im Süden, woher all dein Jammer kam, auch Verderben drohen, dann soll kein Pfad zu rau, keine Gefahr zu groß für mich sein, ihn aufzusuchen und zu retten.«

Er blickte das Bild noch einmal an. Es schien ihm zuzulächeln. Sorgsam, mit einer gewissen Feierlichkeit, legte er es wieder in das Kästchen, um aus einem anderen Behälter ein weißes mit großen Blutflecken bedecktes Tuch zu ziehen.

»Lasst mich Euch noch einmal betrachten, ihr traurigen Zeugen einer furchtbaren Vergangenheit, welche man mit mir ins Grab legen soll. Es ist dein Blut, Geliebte! Großer Gott! Woher nahm ich den Mut, jener schauerlichen Stunde deines Todes beizuwohnen, dieses Tuch mit fester Hand in dein Blut zu tauchen und dabei Rache zu schwören? Als du dein süßes Haupt auf den Block legtest, weinten Männer und Frauen. Teufel selber senkten scheu vor Entsetzen den Blick. Nur ich blickte starr ohne Tränen hinauf zu dem Blutgerüst und verhüllte nicht das Antlitz, als der Streich fiel. Du wolltest sterben, du warst erlöst! Dein letzter Blick galt mir, deinem Freund, dem künftigen Vater deines armen Kindes, auf dessen unschuldigem Haupt ein zwiefacher Fluch ruhte.« Er drückte das Tuch an sein Herz und barg es sorgsam wieder in seinen Reliquienschrein, wie er ihn nannte. Noch manche andere Kleinigkeiten enthielt dieser Schrein, wie eine Locke, einen Brief, eine vergilbte seidene Schleife und zuletzt noch eine kleine Bleikugel.

Waldau wog sie in der Hand und blickte dann düster auf seinen linken Arm, er war gelähmt von einem Schuss, von derselben Kugel, welche er nun in der Hand hielt.

»Ich wollte dich rächen, Leontine!«, flüsterte er dumpf, »und trug die Wunde, dieses ewige Angedenken seines Sieges davon. Er durfte triumphieren, während ich seinen Sohn erzog. O Gott, du gabst mir die große Kraft, das Opfer zu vollenden.«

Er warf hastig, mit einer Bewegung des Abscheus die Kugel in den Schrein und verschloss ihn rasch, denn soeben hörte er Schritte in der Rotunde, und eine Stimme, welche ihn rief.

Es war Doris, die alte Haushälterin, eine Antiquität des Hauses Waldau, welche ihrem Herrn mit Hundetreue ergeben war. Georg war ihr richtiger Neffe, ihrer einzigen Schwester einziger Sohn, dem folglich aus der angeborenen Hundetreue gegen seinen jungen Herrn kein Vorwurf zu machen war.

»Herr Baron! Es ist serviert, unter der Linde, wie der gnädige Herr befohlen«, sagte sie mit einem respektvollen Ton, den hundert Dienstjahre nicht hätten heraustreiben können.

»Schön, Doris!«, antwortete Waldau, »sind keine Briefe und Zeitungen angekommen?«

»Der Herr Inspektor hat sie soeben auf den Tisch unter der Linde gelegt. Ich sagte ihm, dass dort kein Platz für Zeitungen und Briefe wäre, indessen er meinte, es sei auch einer aus Italien darunter.«

»Von Leonhardt? Gott sei gelobt!«, rief Waldau freudig.

»Ich glaube, von dem jungen Herrn nicht, Herr Baron! Der Schlingel von Georg hat endlich auch einmal geschrieben. Ich wusste es, ein Brief war unterwegs, es ist aber kein guter. Wollen der gnädige Herr Baron nicht lieber vorher ein niederschlagendes Pulver nehmen?«

»Nachher, nachher, liebe Alte!«, rief Waldau, bestürzt, erschreckt abwehrend und in den Garten hinaustretend.

Dort stand der Tisch, so zierlich und einladend, ländlich und doch vornehm, unter dem grünen Laubdach einer prächtigen Linde serviert und die schönste Hebe in des Inspektors Töchterlein daneben.

Der Baron hatte für nichts weiter Blicke als für die Briefe, und unter diesen nur den einzigen mit dem Poststempel Neapel.

Der verhängnisvolle Brief zitterte in seiner Hand. Er betrachtete die Aufschrift. Sie war von Georgs Hand und das Antlitz des Greises wurde noch blässer.

»Mein Traum!«, murmelte er und brach das Siegel.

Agnes beobachtete ihn mit steigender Unruhe und Angst.

Plötzlich stieß er einen markerschütternden Schrei aus und stammelte: »Das Verhängnis hat ihn erreicht, die Prophetin behält Recht!«

Sie sprang hinzu, um den kraftlos zurücksinkenden Baron in ihrem Arm zu halten und rief ängstlich nach Hilfe.

Eilig und erschreckt kamen der Inspektor und die alte Doris herbei. Letztere hatte kaum den bleichen Baron erblickt, als sie mit einer Art Triumph ausrief: »Ich habe es vorher gesagt. Der Brief aus Italien enthält Unglück. Ringsum war alles schwarz.«

»Ruhe«, gebot der Inspektor unwillig, »lassen Sie den Aberwitz hier aus dem Spiel.«

Der alte Herr erholte sich bald wieder und las noch einmal den Brief aufmerksam von Anfang bis zu Ende. Dann erhob er sich in seiner gewohnten straffen Haltung, lehnte das Essen sanft ab und befahl dem Inspektor, ihm in sein Kabinett zu folgen.

Er schloss die Tür sorgsam ab und sprach mit bewegter Stimme: »Ich muss fort nach Neapel, mein lieber Walter! Leonhardt befindet sich im Palast des Marchese Cantonelli zu Neapel, in den Netzen einer schönen Nichte desselben. Sie wissen, als mein langjähriger Freund, was der Name Cantonelli für Leonhardt bedeutet.«

»Ich weiß es, gnädiger Herr!«, versetzte Walter, »und mich graust ob des schauerlichen Verhängnisses, das ihn zu seinem Vater geführt hat. Indessen sehe ich die Notwendigkeit einer Reise nicht ein, ein Brief wird dasselbe tun.«

»Mitnichten, ich kenne ihn, er hat Leidenschaften seines Vaters geerbt und würde meinen Brief den Flammen opfern. Mein Anblick allein kann ihn retten, und, ich fürchte mich nicht, dem Marchese wieder einmal gegenüber zu stehen.«

»Lassen Sie mich reisen, gnädiger Herr!«, bat Walter mit bewegter Stimme.

»Das geht nicht, Freund! Wir müssen dem Verhängnis gehorchen«, sprach Waldau entschieden, »es soll auf der Stelle gepackt werden, damit ich morgen so früh wie möglich abreisen kann, um den ersten Zug nach Süden zu benutzen. Still, mein Lieber, es ist entschieden. Teilen Sie meine Reise, ohne ein Ziel zu nennen, den Frauen und der Dienerschaft mit. Ich habe noch zu schreiben und zu ordnen. Doris mag meinen Koffer packen.«

»Sehr wohl, gnädiger Herr!«, versetzte der Inspektor, der seinen Herrn in solchen Sachen genau kannte. »Welchen Diener befehlen der Herr Baron?« Dieser sann einen Augenblick nach, dann schüttelte er den Kopf und versetzte:

»Ich reise allein, Bedienung kann ich überall in jedem Hotel finden, und gegen sonstiges Unglück kann mich kein Diener schützen. Es soll kein Dritter den Zweck meiner Reise erfahren, mein Freund!«

Der Inspektor musste sich, so schwer es ihm wurde, auch in diesen ausgesprochenen Willen des alten Herrn fügen und verließ traurig das Kabinett, während jener die Tür verriegelte und dann eifrig zu schreiben begann, um seine letzten Dispositionen zu treffen; konnte er doch nicht wissen, was ihm alles auf dieser verhängnisvollen Reise zustoßen könnte.

Mittlerweile hatte die Nachricht von der so urplötzlichen Abreise des Barons das ganze Schloss in Aufruhr gebracht. Keine Stunde war verflossen, als auch schon die ganze nächste Umgegend die für die Armen besonders aufregende Neuigkeit wusste.

Die alte Doris war außer sich vor Schrecken und Kummer. Sie wusste es recht gut, wohin die Reise gehen sollte und sah ihren guten Herrn gewiss nicht wieder. Von Welschland war ihm ja alles Unglück gekommen, er hatte niemals davon hören mögen und nun wollte er selber hin.

Wenn sie Leonhardt nicht gar zu sehr in ihr altes treues Herz geschlossen hatte, sie hätte ihm ernstlich zürnen können ob dieses neuen Unheils, das er doch sicherlich verschuldete.

Auch die sonst immer heitere und mutwillige Agnes war wie umgewandelt. Sie half der alten Haushalterin schweigend des Herrn Koffer packen, wobei ihr Träne um Träne über die rosige Wange floss.

»Und ganz allein will der Herr reisen?«, fragte sie, »keinen Diener mitnehmen?«

»Ganz mutterseelenallein«, rief Doris, »man könnte darüber den Verstand verlieren. Aber so war er stets, ich kenne ihn. Was der sich einmal vorgenommen hat, das setzt er auch durch, musste doch damals die alte Tante, na, Kind, das war ein Höllendrache, die Segel streichen und den Leonhardt aufnehmen. Der gute Herr wollte ihn als sein eigen Kind taufen lassen. Das aber litt die Frau Baronin Tante nun partout nicht, so ein ehrloser Balg, dessen Vater ihn nicht anerkenne und dessen Mutter auf dem Blutgerüst, ach was, es braucht ja nicht alle Welt zu wissen, die Zunge läuft oft mit dem Verstand fort, Kind!«

Die Alte ärgerte sich offenbar, dass sie mehr geplaudert hatte, als ihr erlaubt sei, und packte mit einer Hast, als wolle der Herr schon in der nächsten Minute abreisen.

Agnes aber stand starr wie eine Bildsäule. Das Gehörte klang so furchtbar in ihrem Ohr, dass sie es nicht für wahr halten konnte. Leonhardts Bild, das sie von ihrer Kindheit an mit einer Art Anbetung still im Herzen getragen hatte, stieg bleich und düster vor ihr empor. Seine Mutter auf dem Blutgerüst, sein Vater ihm fremd und unbekannt, war es nicht Pflicht, den Armen zu lieben?

Und der alte Baron? Nun erst erschien er ihr in einer Strahlenkrone, von allem Edlen und Göttlichen getragen, das die Menschenbrust zu fassen vermag. Vielleicht hatte er Leonhardts Mutter geliebt? Es musste sicher so sein. Die romantische Seele des achtzehnjährigen Mädchens malte sich dieses Bild mit allen Farben der Schwärmerei aus. Was ihren Busen erfüllte, sie sprach es nicht aus. Als am späten Abend noch ein Zug von Landleuten der Gegend erschien, um dem so allgemein verehrten Herrn zum Abschied ihre Wünsche und Grüße mitzugeben, und als der Baron mit etwas zitternder Stimme, welche die Rührung seines Inneren verriet, so herzlich dankte und bald wiederzukommen versprach, da floh sie in ihr Kämmerlein und verbarg schluchzend ihr Antlitz in die Kissen.

Mit einer dämonischen Gewalt zog es sie mit fort in die weite, weite Ferne hinaus, war ihr die Heimat doch mit einem Mal wie ein großer Kirchhof geworden.

Am nächsten Morgen, es war noch ganz dunkel, da bestieg der Baron ohne weiteren Abschied seinen Wagen. Der Inspektor lenkte die Pferde und fort ging es der einige Meilen entfernten Eisenbahnstation zu.

Agnes sah ihn wegfahren. Sie streckte die Arme nach dem Wagen aus und hätte vor Sehnsucht und Schmerz sterben können.

Doch niemand bemerkte einige Stunden später ihre innere Umwandlung. Als der Vater mit dem Wagen wieder heimkehrte, ging alles wie früher seinen gewohnten, ordnungsmäßigen Gang, welcher sich nur durch größere Stille und trübe Gesichter auszeichnete.

Aber am Abend desselben Tages kam wieder ein Brief per Express aus Neapel mit Georgs Aufschrift

Da war nun freilich guter Rat teuer, ihn dem Herrn Baron nachschicken? Das ging nicht. Den Brief öffnen, noch viel weniger, denn mit dem Herrn war in solchen Dingen nicht zu spaßen.

Doris legte, trotz des Inspektors Abscheu, eilig die Karten. Die Ehre derselben war ein für alle Mal gerettet durch ihre letzte Prophezeiung, welche buchstäblich in Erfüllung gegangen war. Dagegen konnte der Inspektor, der ungläubige Thomas, nichts einwenden.

»Viel Unglück in dem Brief, alles schwarz, sehen Sie, ich bitte Sie, lieber Walter, Pique Ass, die Neun, die Sieben und die Dame, das bedeutet ein großes Unglück; Gott steh uns bei, wenn der junge Herr nur nicht zu Schaden gekommen ist. Hier liegt ein Todesfall, ja, ja, dieses abscheuliche Welschland, das wird des Leonhardts Verderben, die alte Zigeunerin hat recht!«

»Vater, öffne den Brief!«, sagte Agnes plötzlich entschlossen, »wir müssen wissen, was derselbe enthält, damit du deine Maßregeln treffen kannst. Der Baron wird den ungewöhnlichen Umständen sicherlich Rechnung tragen.«

Walter blickte einige Minuten unschlüssig vor sich hin und drehte den Brief hin und her.

Die alte Doris legte von Neuem ihre Karten und studierte eifrig darin.

»Öffnen Sie in Gottes Namen den Brief, Walter«, sagte sie mit großer Entschiedenheit, »der Herr Baron wird es Ihnen danken.«

Es war eine seltsame Erscheinung, dass dieses entschiedene Wort der alten Haushälterin, welches sie doch nur aus den Karten schöpfte, auf den Inspektor, der ein großer Feind solcher abergläubischen Experimente war, einen so großen Einfluss ausübte, dass er ohne sich weiter zu besinnen das Siegel brach, den Brief rasch entfaltete und den Inhalt buchstäblich mit den Augen verschlang.

Bleich und zitternd entfiel das Schreiben plötzlich seinen Händen, er schlug dieselben vor das Gesicht und stöhnte: »Die alte Doris hat recht, Leonhardt ist auf den Tod verwundet und in Räuberhänden, nur ein Lösegeld von 5.000 Scudi kann ihn retten. Ich muss fort, noch in dieser Stunde«, setzte er plötzlich mit fester Stimme hinzu, »auf, Kinder, packt mir das Notwendigste zusammen, ich habe noch viel zu besorgen.«

»Um des Himmels Willen, was soll denn aus dem Gut werden, wenn Sie auch davonlaufen, Walter?«, schrie die Haushälterin entsetzt aus.

Der Inspektor lief in voller Verzweiflung auf und nieder in der Stube.

»Vater«, sprach Agnes mit entschlossenem Ton, »lass mich dem Herrn Baron nachreisen. Ich fürchte mich nicht, vielleicht hole ich ihn noch vor dem Ziel ein. Du gibst mir Georgs Brief und das Lösegeld mit.«

»Wohin denkst du? Ein junges Mädchen allein, allen Gefahren einer solchen langen Reise ausgesetzt, nein, das geht auf keinen Fall.«

»Dann reise ich in Männerkleidung, Vater«, rief Agnes. Ihr Antlitz nahm einen energischen Ausdruck an, ihre Augen blitzten kühn und herausfordernd. »In des Barons Garderobe hängt noch ein vollständiger Anzug aus Leonhardts Knabenjahren, als er von der Hochschule heimkehrte. Ich zog den Anzug schon einmal an, er passt mir wie angemessen. O, liebes Väterchen, denke doch groß genug von deiner Tochter, um ihr auch einmal etwas Außergewöhnliches zuzutrauen, wo ein Menschenleben, ja, das ganze Glück unseres guten Herrn auf dem Spiel steht. Lass mich reisen, Vater! Es wird dem gnädigen Herrn ein Trost sein, wenn er mich, seinen Liebling, erblickt, wenn ich an seiner Seite bin. Sollte, was Gott verhüten möge, das Unglück sich in seiner ganzen Größe vollenden, wer tröstet ihn dann in der Verzweiflung? Wer führt ihn zurück in die Heimat? Das kann nur ich allein, Vater! Habt Ihr alle nicht so oft gesagt, ich sei des Herrn guter Engel?«

»Ja, ja, das Kind hat ganz recht, Walter!«, sprach Doris nun mit der vorigen Entschiedenheit. »Bei dem unermesslich großen Unglück, welches dieser Brief enthält, muss man auch einmal anders denken und tun, als wir es sonst pflegen. Das Kind hat recht, nur sie allein vermag den alten Herrn vor Verzweiflung zu schützen, wenn er in dem falschen Land allein ist und keinen Trost hat, als den Georg, der nicht mitzählt. Agnes ist dem gnädigen Herrn alles, ich weiß, was ich weiß, und sage nur, dass Sie eine Sünde begehen, Walter, wenn Sie dem Kind nicht den Willen tun. Es wird seinen Weg schon hinfinden, aber schnell, das ist jetzt die Hauptsache.«

Und das entschiedene Wort der alten Doris siegte zum zweiten Mal. Der Inspektor wusste nicht mehr, was er aus sich selber machen sollte. Er gehorchte nun schon wiederholt einer alten, abergläubischen Frau, das ihre Weisheit aus den Karten holte, wie seinem eigenen unmündigen Kind.«

Und doch, er konnte nicht anders. Als er sich in seiner früher so energischen Weise nicht mehr zurechtfinden konnte, so fühlte er es mit einer Art Resignation, dass ihm die Ereignisse über den Kopf gewachsen waren, und musste seiner Tochter im Stillen beipflichten, obwohl es ihm bei dem Gedanken an die Gefahren einer solchen Reise kalt überlief und ihm der Angstschweiß auf die Stirn trat.

»Nun denn«, sagte er endlich mit einem tiefen Seufzer, »ich sehe wohl ein, dass ich, um nicht eine ungeheure Verantwortlichkeit auf mich zu laden, nachgeben muss. Wohl denn, mein Kind! Tue, wie du gesagt hast. Gott wird dich geleiten und schützen auf dieser schweren Bahn. Meinen Segen hast du dazu. Gott allein weiß es, wie sehr mein Herz bluten wird bei unserem Abschied.«

Er küsste ihr die Stirn und verließ tief bewegt das Zimmer. Agnes aber warf sich mit einem unterdrückten Jubelruf an der Alten Brust und rief unter Lachen und Weinen: »Habe Dank, dass du mir beigestanden hast, den Vater zu besiegen, treue Seele! O, wie glücklich werde ich sein, dazu beitragen zu können, den jungen Herrn zu retten und jeden bösen Zauber zu brechen, der ihn in Italien zurückhält.«

Die alte Doris blickte sie forschend an, lächelte dann schlau vor sich hin und legte schnell die Karten.

»Hm, hm«, murmelte sie, »es geht alles gut, du bringst den Alten und den Jungen heim, und dann …«

Sie brach schmunzelnd ab und legte die bunten Blätter rasch auf die Seite.

»Jetzt wollen wir packen, mein Täubchen! Wir haben noch mehr Kleider von dem jungen Herrn, mit denen wir dich zum reisenden Studenten umwandeln können!«