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Der Detektiv – Die Dame im Lackhut – 1. Kapitel

Walter Kabel
Der Detektiv
Kriminalerzählungen, Verlag moderner Lektüre GmbH, Berlin, 1920

Die Dame im Lackhut
1. Kapitel

Es tröpfelte leicht, als wir auf dem Kurfürstendamm in das Auto stiegen. Harst hatte dem Chauffeur als Ziel eine Straßenkreuzung nordwestlich von Steglitz, einem Berliner Vorort angegeben, die selbst dem Kraftwagenführer ganz unbekannt zu sein schien.

Der Lichtschein der vorbeihuschenden Laternen wurde seltener und seltener. Wir waren durch die Villenkolonie Grunewald und Dahlem gekommen und fuhren nun einen endlos langen, unbebauten Straßenzug entlang. Harst hatte bisher schweigend seine geliebte Mirakulum geraucht und schien tief in Gedanken versunken. Ich wagte nicht, ihn durch eine Frage zu stören, obwohl ich zu gern gewusst hätte, was er heute eigentlich vorhatte, und ob diese abendliche Spazierfahrt etwa mit der neuen Ausgabe zusammenhing, die seine Wettgegner ihm gestellt hatten. Zwölf besonders schwierige Probleme hatte er ja zu lösen übernommen und es ging dabei um einen Wetteinsatz von Millionen.

Plötzlich sagte er nun, indem er sich vorbeugte und zum Fenster hinausschaute: »Aha – der Chauffeur findet sich nicht zurecht. Mag er noch eine Weile vergeblich nach der Straßenkreuzung suchen, die es gar nicht gibt. Er sollte uns ja nur hier in diese Gegend bringen. Man muss vorsichtig sein, wenn man wie wir fast immer hinter Gesetzesverächtern her ist.«

»Wir sind also bei der neuesten Arbeit?«, fragte ich.

»Sogar sehr. Es ist ja auch höchste Zeit, dass wir anfangen. Gestern wurde mir die Aufgabe genannt, und den ganzen heutigen Tag brauchte ich dazu, die merkwürdigen Anzeigen im Berliner Kurier zu studieren, zu sondieren und mit ein paar anderen zu vergleichen, die mich dann veranlassten, diesen kurzen Ausflug zu unternehmen. Darüber unterhalten wir uns aber besser daheim.«

Er drückte auf den Gummiball. Auf den Pfiff hin hielt das Auto sofort. Wir stiegen aus. Harst spielte den Ärgerlichen. »Chauffeur, wenn Sie hier nicht Bescheid wissen, hätten Sie es gleich sagen sollen. Wir kommen ja zu Fuß schneller ans Ziel! Was macht die Taxe?« Er zahlte und gab ein gutes Trinkgeld.

Der Chauffeur dankte überrascht und fuhr davon.

Wir standen allein auf der asphaltierten Straße, sahen vor uns in der Ferne ein paar erleuchtete Fenster und weiter links den hellen Lichtschein über einer größeren Ortschaft.

Harst ging bis zur nächsten Weggabelung, beleuchtete den Pfahl mit den Emailleschildern der Straßennamen, nickte befriedigt und machte kehrt. »Wir sind bereits daran vorübergefahren«, meinte er kurz. »Der Neubau Wissmannstraße 8 liegt dort.« Er zeigte auf ein dunkles Etwas, das bei dem Sprühregen wie eine Ruine aussah.

»Es ist ein alter Neubau sozusagen«, erklärte er. »Dem Grundstückseigentümer ist das Geld knapp geworden, als das zweite Stockwerk erst halb fertig war, und nun steht der Bau seit dem vergangenen Herbst still.«

»Wir haben noch Zeit«, fuhr Harst fort. »Die Zusammenkunft erfolgt erst um Mitternacht. Und jetzt ist es etwa halb zwölf. Ich bin neugierig, wer die Leute sind, die sich mit so übertriebener Vorsicht durch Annoncen verständigen, und was sie treiben mögen.«

Er bog von der Straße auf eine mit einem schlechten Drahtzaun umgebene Bauparzelle ab und wollte offenbar im Bogen von hinten an das halb fertige Gebäude heran. Wir mussten noch über drei Zäune klettern oder zwischen Stacheldrähten hindurchkriechen. Dann erst lag die Baubude des Neubaus dicht vor uns. Man hatte sie stehen lassen, da ihre morschen Bretter wohl nicht einmal das Stehlen belohnten.

Von dieser Bude bis zur Wissmannstraße hin waren es etwa dreißig Meter, bis zur Rückseite des Neubaus ungefähr fünfzehn.

Harst war gerade über ein Stück Eisendraht gestolpert und fluchte leise, als ich durch die leeren Fensteröffnungen in den Kellerräumen an der rechten Hausseite eine Lichterscheinung aufblitzen sah. Es war wie ein weißer Strich von Funkengarben gewesen, vielleicht ein halber Meter lang waagerecht verlaufend. Nur den Bruchteil einer Sekunde hatte dieses Aufleuchten sich gezeigt. Ich glaubte, Harst hätte es nicht bemerkt, und teilte ihm nun hastig mit, was ich soeben beobachtete.

»Gut, gut, lieber Schraut«, meinte er dann flüsternd. »Sie haben nur nicht alles gesehen. Ah – wahrhaftig – eine Frauengestalt, die eilig der Straße zuläuft!« Er wurde erregt. »Schraut, die Person kam aus dem Kellereingang. Jetzt hat die Dunkelheit sie verschluckt. Trotzdem, versuchen Sie sie einzuholen und markieren Sie den Wegelagerer. Verstanden! Das beseitigt am leichtesten den Verdacht, dass Sie hier spionieren wollten.«

Meine Grippe war vergessen. Meinen langen Regenmantel aufraffend, jagte ich der Wissmannstraße zu am Neubau vorüber. Ich vermied nach Möglichkeit jedes Geräusch. Nun blinkte matt wie Stahl unter meinen Füßen das Asphaltpflaster. Ich schaute nach rechts, nach links, lauschte angestrengt. Dann glaubte ich rechts etwas wie einen dunklen Schatten auf der Straße wahrzunehmen, auch das Topp Topp eiliger Füße zu hören. Ich setzte mich in Galopp. Und ich holte auf, sehr schnell sogar! Es war die Frau, ohne Zweifel, und ihre Kleidung behinderte sie mehr als mich mein Schnupfen.

Dann schien sie gemerkt zu haben, dass jemand hinter ihr herlief. Sie tat es mir gleich, hob die Röcke an und stürmte nun wie gehetzt weiter. Es half ihr aber nichts.

Bald war ich so dicht hinter ihr, dass ich sie anrufen konnte.

»Halt oder ich schieße!« Innerlich lachte ich dazu.

Sie blieb wirklich stehen. Nun war ich neben ihr. Sie hatte einen seidenen, dunklen Regenmantel an, trug einen schwarzen Lackhut und einen dichten schwarzen Schleier.

»Was … was wollen Sie?«, keuchte sie mühsam hervor.

Ich hörte ihrer Stimme die bebende Angst an.

»Ein armer Handwerker bittet nur um eine kleine Gabe«, krächzte ich noch heiserer, als der Schnupfen es mit sich gebracht hätte. Ich hatte den Mantelkragen während der Jagd hochgeschlagen und die Krempe meines weichen, grauen Filzhuts nach unten gestülpt, duckte mich nun ganz krumm zusammen.

Ich fühlte die prüfenden Blicke der Frau, die ihrer Stimme nach noch jung, sehr jung sein musste. Sie fasste in die Manteltasche sehr zögernd, wandte dabei wie lauschend den Kopf nach links. Ich vernahm das Trappeln von Pferdehufen, aber kein Räderrollen. Nun sah ich auch einen großen, dunklen Fleck, der schnell auf uns zukam. Da riss ich der Frau die Geldbörse aus der Hand. Wenigstens etwas sollte sie mir überlassen, etwas, das ihr gehörte, das uns vielleicht über ihre Person Aufschluss geben konnte. Dann war ich mit ein paar Sätzen am nächsten Drahtzaun, blieb an den Stacheln hängen, lief querfeldein, warf mich lang hin und kroch im Bogen nach rechts wieder auf die Straße zu. Kaum hatte ich sie erreicht, als ein geschlossener Wagen, aus der Richtung des Neubaus kommend, lautlos, aber sehr schnell vorüberrollte. Ich hatte bald festgestellt, dass die Frau im Lackhut verschwunden war, und ich reimte mir unschwer zusammen, dass das elegante Gefährt mit den beiden flinken Pferden und dem Kutscher mit Livree, Zylinder mit hellem Hutband auf die Frau hier gewartet und sie nun davongeführt hatte.

Ich beeilte mich nun, zu Harst zurückzukehren. Aber bei der Baubude traf ich ihn nicht mehr an. Ich stand noch da und überlegte, ob ich leise rufen sollte, als er neben mir auftauchte, mich am Arm packte und mir etwas zuraunte.

»Schraut, die Sache hier lässt sich gut an. Da drinnen liegt eine Leiche, dort rechts im Keller, mitten auf dem Bauschutt – die Leiche eines Knaben von etwa zwölf Jahren.«

Ich hätte im Dienst Harsts eigentlich längst gelernt haben müssen, meine Nerven besser in der Gewalt zu haben.

Nun prallte ich aber doch zurück und stammelte: »Eine Leiche? Etwa ermordet?«

Harst schwieg und zog mich in die Baubude hinein. Wir stellten uns hinter die schief in den Angeln hängende Brettertür.

»Es fehlt nicht mehr viel an zwölf, Schraut«, meinte er dann. »Wir können die anderen sehr bald erwarten. Falls überhaupt noch jemand kommt!«, fügte er hinzu.

Der Regen fiel stärker. Harst zog seine Uhr. Ich sah die Leuchtpunkte des Zifferblatts und der Zeiger.

»Doch noch eine Viertelstunde«, flüsterte er. »Wir können es wagen. Vielleicht trifft meine Vermutung zu, und der Junge lässt sich noch bei geeigneter Behandlung ins Leben zurückrufen, obwohl …«

Er schlich hinaus und auf das Haus zu. Dort machten ihn die Regenschleier unsichtbar. Kaum zwei Minuten blieb er weg. Dann kehrte er mit einer kleinen Gestalt im Arm zurück, legte den Knaben behutsam in der Bretterbude auf die Erde und richtete sich wieder auf.

»Schraut, wir müssen näher heran, sonst sehen wir nichts«, flüsterte er nun. »Dort vor dem Kellereingang ist ein Behälter zum Kalklöschen eingegraben. Er ist tief genug, um darin knien zu können. Vorwärts – aber leise!«

Still, fast unheimlich mit seinen dunklen Fensteröffnungen anzuschauen, lag der Neubau kaum fünf Meter vor uns. Mein Herz begann lebhafter zu hämmern. War das nun wieder eine Situation! Hinter uns in der Bude der kleine Tote, den Harst verschleppt hatte, vor uns der Keller, in dem vielleicht ein Verbrechen begangen worden war und in dem sich noch andere Personen einfinden sollten – nach Harsts Andeutungen.

Plötzlich auf der Straße das Rattern eines Autos. Es fuhr vorüber. Die Lichtkegel der Laternen verschwanden schnell wieder.

Harst hatte sich erhoben, schaute dem Auto nach. »Es hält dort hinten«, meldete er leise. »Etwa an derselben Stelle, an der wir vorhin ausstiegen. Sollten etwa die Leute, die ich erwarte, ähnlich wie wir dem Chauffeur absichtlich ein falsches Ziel genannt haben?«

Etwa fünf Minuten vergingen. Harst kniff mich in den Arm. »Genau 12!«, raunte er mir ins Ohr.

Da sah auch ich einen Herrn im Zylinder und eine Dame im langen Mantel an der Rückseite des Neubaus entlanghuschen. Sie tauchten im Kellereingang unter.

Als ich mich nach Harst jetzt umsah, bemerkte ich nur noch, wie er auf allen vieren auf das eine Kellerfenster zu kroch.

Mein Herz jagte. -Ich wünschte, ich besäße Harsts Nerven! Unsinn, er hat ja keine. Noch nie habe ich gemerkt, dass er auch nur leicht zusammenzuckte, selbst bei unverhofften Zwischenfällen kein Deut.

Im Kellerraum blitzte es hell auf. Ich sah aber nur die äußere Spitze des Lichtkegels einer Taschenlampe, der einmal über den Boden hinglitt und dann für mich nicht mehr sichtbar war. Nur ein schwacher, heller Schein blieb hinter der einen Fensteröffnung nunmehr unbeweglich, so, als ob die Taschenlampe irgendwo einen festen Ruheplatz gefunden hatte.

Der Regen ließ nach. Die Knie taten mir weh. Als ich mich einmal mit der Hand auf den Boden des Kalkbehälters stützte, fasste ich in eine weiche, breiige Masse: Kalk! Die Minuten schlichen. Nichts geschah. Harst konnte ich nicht sehen. Dann wurde es heller und heller, sodass ich es vorzog, auch den Kopf hinter dem Rand des Behälters zu verbergen. Ich fürchtete, man könnte mich bemerken.

Ich hielt das Knien nicht mehr aus. Mochte auch der Lodenmantel unbrauchbar werden. Ich setzte mich. Ich saß in einer Wasserlache, rutschte schnell mehr nach rechts.

Da – wie ein elektrischer Schlag ging es mir durch den Körper. Jemand hatte meinen Hut berührt! Mein Kopf fuhr herum.

Gott sei Dank: Harst!

»Kommen Sie, Schraut«, meinte er gelassen. »Die beiden sind nicht mehr da.«