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Jack Lloyd Folge 31

Jack Lloyd – Im Auftrag Ihrer Majestät

Atem der Rache

Licht fiel in den Raum, in dem Dick und sein Bruder sich befanden. Dick musste mehrmals blinzeln, bis seine Augen sich an den Schein der Fackeln gewöhnt hatten. Er sah Martin, Marvin und noch drei andere Männer, deren Gesichter er kannte, deren Namen er aber vergessen hatte. Es war eine halbe Ewigkeit her, dass er Curacao verlassen hatte. Und in diesem Augenblick, als er in Marvins hassverzerrte Züge sah, wurde ihm klar, dass er niemals einen Fuß in diese gottverlassene Stadt hätte setzen sollen.

Marvin kam direkt auf Dick zu. Einen kurzen Augenblick lang dachte der alte Seebär, Marvin würde ihn wieder schlagen, doch der andere beherrschte sich, offenbar unter großen Anstrengungen.

»Hallo Marvin. Schön dich zu sehen«, ächzte Dick, während zwei der Männer ihn an den Armen ergriffen und auf die Beine zogen.

»Dir wird die Freude noch vergehen, du Wurm!« Marvin war nicht nur wütend, er kochte bald über. Dick schüttelte den Kopf, während seine Augen den Mann, der einmal sein engster Freund und bester Saufkumpan gewesen war, fixierten.

»Bei den meisten Menschen legt sich Hass im Laufe der Zeit.«

»Das würdest du dir so wünschen, nicht wahr? Du hast meine Schwester getötet, du Schwein. Und dafür werde ich dich töten. Das habe ich geschworen an dem Tag, als der Richter dich freigesprochen hat. Wenn du deinen Bruder, der dich damals festhalten sollte, nicht überwältigt hättest, um zu fliehen, dann hätten wir es schon vor Jahren zu Ende gebracht.«

Dick warf seinem Bruder einen kurzen Blick zu. Er hatte die Geschichte anders in Erinnerung. Martin war damals zu ihm gekommen und hatte ihm die Waffe auf die Brust gesetzt. Dem verwunderten Dick hatte der Bruder damals erklärt, dass er das Recht, in Curacao zu bleiben, verwirkt hatte. Martin und die anderen Männer wollten ihn hier nicht mehr haben. Dass sein Bruder ihm damit das Leben gerettet hatte, war Dick bislang nicht klar gewesen.

»Dann bring es jetzt zu Ende, Marvin. Vielleicht finde ich dann endlich meinen Frieden.«

»Du wirst in der Hölle schmoren. Und genau dorthin werde ich dich schicken.«

Dick lachte trocken. Doch das Lachen wurde von einem Sack erstickt, den einer der Männer ihm von hinten über den Kopf stülpte. Dick wurde von zwei Männern in die Mitte genommen und aus dem Raum gezerrt. Dass sie das Haus verließen, konnte er daran erkennen, dass etwas mehr Licht durch den Sack drang. Aber trotzdem konnte Dick nicht erkennen, wohin genau seine Richter ihn brachten. Zuerst wunderte der Holländer sich darüber, dass seine Entführer es wagten, mit einem Gefangenen auf offener Strasse herumzulaufen. Doch dann bemerkte er, dass sie immer wieder stehen blieben und miteinander flüsterten. Wahrscheinlich hatten sie einen Mann als Vorhut geschickt, der jeweils feststellen sollte, ob die Luft rein war. Sie waren eine Weile unterwegs, dann wurde Dick grob zu Boden gestoßen.

»Du wirst jetzt auf einen Wagen gesetzt und wir werden Curacao verlassen. Wenn wir das Tor passieren, wirst du deinen vorlauten Mund halten. Solltest du auch nur versuchen, die Wache oder sonst irgendjemanden auf dich aufmerksam zu machen, wirst du sofort sterben.«

»Deine Rache bedeutet dir eine Menge, hm?«

»Du hast ja keine Ahnung«, brummte Marvin leise, während er Dick den Sack vom Kopf zog und seine Fesseln löste. Dick sah sich kurz um. Er stellte fest, dass sie sich auf einem Innenhof befanden, der rundum von Häusermauern eingegrenzt war. Mitten auf dem Hof stand ein Wagen, vor den ein Esel gespannt war. Marvin und er nahmen vorne auf dem Bock Platz. Martin und die anderen Männer setzten sich hinten auf die Ladefläche.

»Wohin fahren wir?«

»Du wirst es sehen, wenn wir da sind«, brummte Marvin ungehalten.

»Und wenn eine der Wachen fragt?«

»Dann lässt du mich reden und hältst dein verlogenes Maul.«

Dick seufzte leise. Er hatte sich seine letzten Stunden definitiv anders vorgestellt. Am liebsten wollte er in einer Schlacht sterben, die Planken eines Schiffes unter seinen Füßen. Aber so schändlich von einer Horde rachsüchtiger Männer für etwas ermordet zu werden, was er nicht getan hatte, gehörte eigentlich nicht zu seiner Lebensplanung.

»Du wirst dich kaum umstimmen lassen, was Marvin?«

»Du hast deine Unschuld immer beteuert. Aber selbst wenn du es wirklich nicht gewesen bist, der sie getötet hat, was ich nicht glaube, warum hast du ihren Tod nicht zumindest verhindert?«

»Weil ich …«

»Weil du betrunken warst! Wie du immer betrunken warst.«

»Als ob du besser gewesen wärst!« Dick wurde langsam wütend. Bisher hatte er die Situation geduldig hingenommen, ja beinahe teilnahmslos. Er hatte registriert, dass die Männer ihn töten würden, wenn kein Wunder geschah. Aber irgendwie hatte er für sich beschlossen, dass er es verdient hatte. Vielleicht war er aus diesem Grund von Bord gegangen, ja vielleicht hatte er sich auch nur aus diesem Grund überhaupt für die Fahrt gemeldet, um hier endlich seinen Frieden zu finden. Aber die Scheinheiligkeit, mit der Marvin und seine Kumpanen ihn behandelten, als wären sie zeit ihres Lebens bessere Menschen gewesen als er, störte den alten Mann gewaltig.

Martin, der spürte, dass sein Bruder langsam begann, sich aufzuregen, und der offenbar fürchtete, wenn Marvin und Dick lautstark aneinander gerieten, könnte das ungebetene Aufmerksamkeit auf sie lenken, zischte von hinten: »Spart euch das für später auf. Dick, du wirst die Gelegenheit bekommen, dich zu verteidigen.«

»Natürlich. Irgendwo außerhalb der Stadt, da wo ihr mich ungestört aufknüpfen könnt. Marvin, darf ich dich daran erinnern, dass du damals der Mann warst, der mit mir in der Schenke gesessen und einen Krug nach dem anderen geleert hat? An diesem Abend hatte Maike sich nicht wohlgefühlt und wollte, dass ich …«

»Wenn du nicht augenblicklich dein schändliches Maul hältst, werde ich dich an Ort und Stelle abstechen«, zischte Marvin, dessen Augen gefährlich funkelten.

»Warum sollte ich schweigen? Kannst du die Wahrheit nicht vertragen?« Dick wurde immer lauter. Seine Stimme überschlug sich fast. In seinen Augen standen Tränen. Offenbar nahm ihn die Erinnerung an diesen Abend doch mehr mit, als er ursprünglich geglaubt hatte.

»Welche Wahrheit? Du hast sie …«

»Spar dir die Litanei! Sie hat dich damals gebeten, mich an diesem Abend in Ruhe zu lassen. Sie wollte, dass ich zu Hause bleibe, dass ich bei ihr bleibe. Und ich hätte fast auf sie gehört, wenn du mich nicht gedrängt hättest, dir zu folgen und mir deine Sorgen anzuhören.«

»Entweder schweigst du augenblicklich, oder ich werde …«

»Was werdet ihr sonst? Mich interessiert die Geschichte, vielleicht sollten wir sie uns zu Ende anhören.« Marvin wurde von einer Stimme unterbrochen, die Dick hier am allerwenigsten erwartet hatte. Jack stand in dem Torbogen, der aus dem Innenhof hinaus auf die Straße führte. Neben ihm hatten sich Joe, Elena und eine Handvoll weiterer Männer aufgebaut, die mit einläufigen Pistolen auf Marvin und seine Leute zielten.

Fortsetzung folgt …

Copyright © 2011 by Johann Peters