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Der Detektiv – Die Augen der Jolante – 1. Kapitel

Walter Kabel
Der Detektiv
Kriminalerzählungen, Verlag moderner Lektüre GmbH, Berlin, 1920

Die Augen der Jolante
1. Kapitel 

Der D-Zug, der am Nachmittag drei Uhr in Sassnitz Anschluss an den Trajektdampfer nach Trelleborg in Schweden hat, war am 21. Mai schon von Berlin ab recht leer. Der Bäderverkehr nach Rügen hatte noch nicht eingesetzt, obwohl das Wetter seit März an eigentlich stets gleichbleibend heiter und warm gewesen war.

Uns konnte der wenig besetzte Zug nur angenehm sein. Wir hatten in einem Raucherabteil der zweiten Klasse zwei Fensterplätze, waren allein und blieben es dann auch bis Sassnitz. Wir hatten es uns recht bequem gemacht, bequemer als es gewöhnliche Sterbliche zu tun pflegen. Aber wir waren ja auch keine Durchschnittsreisenden, nein, wir fuhren gen Rügen als Vertreter der weltberühmten Seifen- und Parfümfabrik Habicht und Sohn, München. Unsere Musterkoffer standen im Gepäckwagen und als Geschäftsreisende einer so wohlriechenden Firma dufteten wir und unsere Coupé-Koffer, Handtaschen und so weiter auf zehn Meter nach allen Wohlgerüchen Arabiens.

»Das gehört zum Kostüm«, hatte Harst gesagt, als er sich und seine Sachen mit Parfüm tränkte.

Bis Stralsund war mein Kollege Hugo Himpel sehr schweigsam und studierte ein Buch über Segelsport mit einem Eifer, als müsste er demnächst sein Schifferexamen ablegen. Ich las inzwischen die Morgenzeitungen.

Erst als wir Stralsund hinter uns hatten und mit der Dampffähre nach Rügen übergesetzt worden waren, nahm Harst die Beine von den Polstern, stand auf, reckte sich und sagte leise: »Mein lieber Schraut, wir befahren nunmehr den Boden der Insel Rügen, sind also dort angelangt, wohin uns unsere neue Aufgabe befiehlt. Die Gemütlichkeit hört auf, die Arbeit fängt an, und von diesem Moment an bin ich für Sie nur noch Hugo Himpel, Commis voyageur, und Sie für mich Moses Mackelsohn, beide von der Firma Habicht.« Dann setzte er sich mir gegenüber. »Ich möchte nur wissen«, meinte er ebenso leise, »woher unsere Wettgegner diesmal eine Ausgabe ausgegraben haben, von der in Berlin nicht mal das größte Revolverblatt etwas je gehört haben will. Was treibt die geheimnisvolle Jacht an den Küsten Rügens?, lautete unsere Aufgabe. Ich hatte angenommen, dass über diese Jacht wenigstens eine leise Andeutung in Berlin zu erfahren wäre. Heute früh, als Sie und meine Mutter unsere Koffer packten, habe ich zwölf Zeitungsredaktionen angeläutet – mit negativem Erfolg. Wir fahren also direkt ins Blaue hinein. Ich wählte den Hafen- und Badeort Sassnitz auch nur deshalb als Reiseziel, weil er der Bedeutendste der Insel ist, zumeist durch den Verkehr mit Schweden und Kopenhagen und dann auch wegen der Nähe der berühmten Kreidefelsen von Stubbenkammer.«

Da trat der Speisewagenkellner ein. »Nehmen die Herren am Diner teil? Hier ist die Speisenfolge.«

Harst-Himpel bejahte. »Belegen Sie ein Tischchen für uns, Ober, und stellen Sie eine Mix Bara kalt. Fahren Sie immer diese Strecke?«, fügte er hinzu und nahm eine Zeitung zur Hand.

»Seit März«, erklärte der Kellner

»So, dann wissen Sie vielleicht, was es mit dieser kurzen Notiz hier auf sich hat. Hier steht: ›Die geheimnisvolle Jacht ist letztens abermals von Sassnitz aus beobachtet worden. Sie hielt südöstlichen Kurs und segelte sehr schnell.‹ Wir wollen nämlich in Sassnitz eine Weile bleiben, Ober, und da interessiert man sich doch für alles, was mit der See zusammenhängt.«

Der Kellner zuckte die Achseln. »Geheimnisvolle Jacht – ja, da kann wohl kein Mensch den Herren näheren Aufschluss geben. Ich verkehre in Sassnitz in der Bergstraße in der Toten Flunder, einer sehr gemütlichen Kneipe. Dort hat letztens ein Fischer mir so einiges erzählt. Viel war es nicht. Die Herren entschuldigen, ich muss weiter. Vielleicht finde ich nachher Zeit …«

»Ne, lassen Sie mal!«, meinte Harst-Himpel. »So versessen sind wir auf die Jacht denn doch nicht.«

Der Kellner verschwand. Ich nahm Harst mit einem »Sie gestatten?« die Zeitung ab und suchte nach der Notiz, die er eben vorgelesen hatte. Ich musste sie übersehen haben, obwohl ich selbst die Anzeigenseiten genau studiert hatte – nach Harstschem Rezept, da er stets behauptete, dort fände man oft recht Merkwürdiges.

Heute fand ich nicht einmal die Notiz, schaute auf und schaute in Harald Harsts durch den blonden Schnurrbart, die Bartkoteletten und den Nickelkneifer recht stark verändertes, nun ein wenig ironisch lächelndes Gesicht.

»Lieber Mackelsohn, es war ein Schuss auf gut Glück eben«, sagte er gelassen. »Die Notiz finden Sie nicht, da ich sie bloß erfunden habe! Sie sehen: Wir wissen jetzt schon, wo wir in Sassnitz verkehren werden, in der Toten Flunder natürlich.«

 

*

 

Drei Tage später. Ein prachtvoller Morgen. Mein Kollege saß auf unserem zum Meer hinausgehenden Balkon bereits beim Frühstück, während ich in meinem Zimmer – wir hatten zwei benachbarte in der Pension Seeblick genommen – noch bei der Toilette war. Ich band mir gerade den Selbstbinder vor dem Spiegel um, als es klopfte.

Es war das Stubenmädchen. »Herr Mackelsohn, zwei Herren wünschen Sie und Herrn Himpel zu sprechen.«

»So?« Das klang sehr gedehnt.

Da erschien Harst in der Balkontür. »Es werden Bekannte aus der Branche sein, Mackelsohn«, meinte er. »Nur herein mit ihnen, Fräulein …«

Das Mädchen ging. Aber es hatte uns beiden einen so eigentümlichen Blick zugeworfen.

»Sehr faul«, flüsterte Harst. »Es gibt fraglos eine peinliche Überraschung. Die Augen der blonden Lisbeth musterten uns, als wären wir plötzlich als Raubmörder entlarvt.«

Er setzte sich wieder auf den Balkon. Abermals klopfte es. Dieses Mal war es ein älterer sehr großer Herr mit grauem Spitzbart, sehr gut angezogen, und einer der Polizeibeamten von Sassnitz in Uniform, ein blonder Mensch mit hellen Fischaugen.

Der Beamte fragte sofort ziemlich barsch: »Ich möchte Ihre Papiere sehen. Sie sind doch Herr Himpel?«

Von der Balkontür kam die Antwort. »He, Herr Wachtmeister, Himpel bin ich. Das da ist Mackelsohn – Moses Mackelsohn.«

»Na

, das ist gleichgültig. Ihre Papiere bitte.«

Harst langte in die Brusttasche, holte seine Brieftasche hervor, öffnete sie, fasste hinein, ließ die Hände aber wieder sinken.

»Weshalb verlangen Sie eigentlich unsere Papiere zu sehen?«, fragte er leicht gereizt. »Haben wir etwa gestohlen, he? Und wer ist jener Herr, Ihr Begleiter? Gewöhnlich stellt man sich vor, wenn man zu Fremden kommt.«

Der Beamte blickte auf den Spitzbärtigen. Da polterte dieser schon los: »Wer ich bin? Das sollen Sie gleich erfahren! Sie segeln hier unter falscher Flagge, Sie beide. Wer weiß, was Sie in Wahrheit für lockere Vögel sind! Ich bin nämlich August Habicht, Seniorchef der Firma in München, die Sie angeblich vertreten – angeblich! Unter meinen Angestellten gibt es weder einen Hugo Himpel noch einen Moses Mackelsohn, verstanden!«

Das war ja eine nette Überraschung! Harst hatte gerade eine Münchener Firma gewählt, weil wir hofften, sie würde in Norddeutschland keine Geschäfte machen. Und nun musste gerade der Seniorchef hier in Sassnitz auf uns aufmerksam werden. Ich war wirklich gespannt, wie Harst sich aus dieser Patsche herauswinden würde. Gewiss, er besaß ja einen Ausweis mit Fotografie, ausgestellt vom Berliner Polizeipräsidium, dass er der Assessor a. D. Harald Harst aus Schmargendorf-Berlin, Blücherstraße 10, sei, und dass alle Behörden gut täten, ihn nach Kräften zu unterstützen, da er als Liebhaberdetektiv sich eines geachteten Namens erfreue. Aber wenn wir mithilfe dieses Ausweises uns aus dieser Klemme befreiten, dann war unser Inkognito zum Teufel und unser Erfolg stark infrage gestellt. Es würde sich ja in Kurzem hier und in den Nachbarbädern herumsprechen. Von der Verschwiegenheit der braven Sassnitzer Polizei hielt ich nicht viel! Dass Harst, der berühmte Harst in einer Vermeidung, also zu einem ganz bestimmten Zweck, und so weiter und so weiter.

Diese Gedanken schossen mir durch den Kopf. Da sagte Harst schon und steckte dabei die Hände in die Hosentaschen: »Ich freue mich, Sie kennen zu lernen, Herr Habicht. Im Übrigen möchte ich Sie bitten, schleunigst unser Zimmer zu verlassen. Sie scheinen nicht zu wissen, dass es in Minden in Westfalen eine Firma gleichen Namens gibt. Wir sind nicht Ihre Vertreter, sondern die der Mindener Firma, damit Sie beruhigt sind. Wir haben auch auf den Anmeldezettel ausdrücklich Minden geschrieben.«

Ich war starr. Minden? Allerdings: Harst hatte die Zettel ausgefüllt.

Der Beamte holte einen Zettel hervor, entfaltete ihn und brummte. »Die Schmiererei hier kann auch München heißen. Bitte, überzeugen Sie sich.«

Harst winkte ab. »Lassen Sie nur. Schon gut. Adieu, Herr Habicht. Und wegen der Beleidigung lockere Vögel sehen wir uns vor Gericht wieder. Herr Wachtmeister bitte, nennen Sie mir die hiesige Wohnung des Herrn da, der leider noch immer hier herumsteht. Ich werde Strafantrag wegen Beleidigung gegen ihn stellen, das bin ich schon der Firma Habicht, Minden schuldig!«

Habicht-München stotterte eine Entschuldigung »Ich bin gern bereit, in die hiesige Armenkasse etwas einzuzahlen«, meinte er. »Dieser Irrtum meinerseits ist doch …«

»Hinaus, Herr«, rief Harst »Hinaus – sofort!«

Der Spitzbärtige drückte sich schleunigst. Harst reichte dem Wachtmeister aus seiner Zigarrentasche drei Importen mit Leibbinden. »Da, Sie sollen nicht umsonst die zwei Treppen raufgekraxelt sein. Wo wohnt denn dieser grimmige Habicht?«   

»Keine Ahnung, Herr Himpel. Er kam vor einer Stunde zu unserem Gemeindevorsteher aufs Büro. Ich war gerade auch da. Er wetterte sofort los, meinte, Sie beide wären sicher gefährliche Gauner, und ließ niemand zu Wort kommen. Um ihn loszuwerden, schickte mich der Gemeindevorsteher mit.«

Gleich darauf waren wir allein. Ich lachte leise auf.

Da sah ich Harsts ernstes Gesicht, sah seine weit offenen Augen förmlich flimmern. Und ich schwieg sofort. Denn diese Augen kannte ich. Es waren die Harald Harsts, wenn er etwas Wichtiges entdeckt hatte.

Er stand da und starrte dem Beamten nach. Dann holte er Hut und Stock aus seinem Zimmer.

»Auf Wiedersehen.« Und weg war er.

Ich saß nun auf dem Balkon am Frühstückstisch und hatte doch keine rechte Freude an den weichen Eiern, dem Landschinken und der Strahlenbahn, die die Sonne auf die nur leicht bewegte See warf. Ich grübelte darüber nach, was in aller Welt es sein könnte, das Harsts Spüreifer wachgerufen hatte.

Ich will kurz zusammenfassen, was wir bisher in der Toten Flunder vom Fischer Wilhelm Steffke und dem Kapitän des Passagierdampfers Deutschland erfahren hatten.

Steffke, der einen Motorkutter besaß, hatte die Jacht am 15. April, also vor etwa fünf Wochen, zum ersten Mal gesehen. Sie begegnete ihm östlich von der Stubbenkammer morgens gegen sieben Uhr bei nebligem Wetter. Ganz plötzlich hatte ein Windstoß damals die Nebelschleier weggeweht. Da hatte Steffke keine hundert Meter entfernt eine dunkelgrau gestrichene Zwölf-Meter-Jacht mit Kuttertakelung bemerkt, die mit prall gefüllten Segeln südwärts steuerte. An Bord hatte sich nur ein Mensch im blauen Schifferanzug, Mütze auf dem Kopf und vor dem Gesicht eine schwarze Maske gezeigt. Das war das erste Debüt der geheimnisvollen Jacht. Drei Tage darauf, wieder bei diesigem Wetter, traf der Fährdampfer Deutschland sie nördlich von der Stubbenkammer. Abermals stand nur der Maskierte am Steuer. Wieder vier Tage später wurde sie von Fischern vor Arkona beobachtet (Nordspitze Rügens) und dann noch viermal abwechselnd von Steffke und anderen Fischern. Stets war das Deck der Jacht bis auf den einen Menschen leer gewesen, stets hatte sie ihre schnelle Fahrt fortgesetzt, ohne sich um die Nähe der Fischerkutter oder der Deutschland zu kümmern, aber stets war die Luft neblig gewesen, wenn sie gesehen wurde. Das war eigentlich alles, was wir bisher über unsere Aufgabe wussten.

Eins will und muss ich jedoch noch erwähnen. Besonders in Sassnitz hatte sich inzwischen um die Jacht ein förmlicher Legendenkranz gebildet. Steffke meinte allen Ernstes, sie wäre so etwas wie ein moderner fliegender Holländer. Der Kapitän der Deutschland erklärte: »Ein Schmugglerschiff natürlich – was sonst!« Unser Pensionsvater wieder, ein früherer Kapitän, sagte: »Es sind Spione einer fremden Macht, die unsere Küstengewässer abloten.« Diese Ansicht des alten Herrn Hellmer fand die meisten Anhänger. Deshalb hatten auch die in Sassnitz stationierten Torpedoboote eine ganze Woche lang der Jacht Nacht für Nacht aufgelauert. Aber sie zeigte sich nicht, zeigte sich erst in der achten Nacht, als die flinken Torpedoboote die Suche aufgegeben hatten und im Hafen geblieben waren. Abermals wurde nun von der Halbflottille auf See vier Nächte Patrouillendienst geschoben.

Nichts! Und seitdem wäre die Jacht nicht wieder aufgetaucht. Dieser letzte Patrouillendienst war gerade an dem Tag beendet worden, als wir in Sassnitz eintrafen.

Hiermit war unser Wissen erschöpft. Und mit diesem nichtssagenden Wissen sollten wir nun herausbringen, was das geheimnisvolle Fahrzeug hier an der Küste trieb! Eine böse Aufgabe, fürwahr! Jedenfalls hatten Harsts Wettgegner nun endlich etwas gefunden, das ihnen vielleicht – nein – sehr wahrscheinlich zum Sieg verhalf.

Erst gegen zwölf Uhr mittags erschien Harst-Himpel im Familienbad, wo ich mich gerade von der Sonne braten ließ, die es sehr gut mit den Kurgästen meinte. Wir badeten täglich, aber stets nur im flachen Wasser bis zum Hals, da unsere Bärte nicht ganz natürlich festgewachsen waren.