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Amerika – Abenteuer in der Neuen Welt – Folge 8

Jörg Kastner
Amerika – Abenteuer in der Neuen Welt
Band 8
Der Eine-Million-Dollar-Zug

Abenteuer, Heftroman, Bastei Verlag, Köln, 66 Seiten, 1,90 €, Neuauflage vom 02.10.2018

Kurzinhalt:
Noch immer sind Jacob, Martin und Irene in Blue Springs eingeschlossen. Und nun wird die belagerte Stadt von Quantrills Guerillas angegriffen! Es ist nur eine Frage der Zeit, wann sie fallen wird. Was dann folgt, ist jedem klar: Brandschatzung, Erschießungskommandos und Vergewaltigungen.

Niemand ahnt, dass William Clarke Quantrill ganz anderen, verwegenen Plänen folgt, in denen die Eroberung der Stadt nur der Anfang ist, an dessen Ende aber ebenfalls Tod und Vernichtung stehen …

Leseprobe

Kapitel 1

Die belagerte Stadt

Die zweite Salve, von den hinter ihren Barrikaden versteckten Verteidigern abgefeuert, brachte den Angriff der fast einhundert Reiter zum Erliegen. Verwundete Männer schrien auf, stürzten aus den Sätteln und wälzten sich auf dem schlammigen Boden hin und her. Die reiterlosen, von dem Schussgewitter aufgeschreckten Pferde stoben nach allen Seiten davon und brachten weitere Unordnung in die Reihen der Angreifer. Wer noch im Sattel saß, zügelte sein Pferd und blickte hinüber zu den beiden Anführern, neben denen ein Mann mit einer großen, schwarzen Flagge ritt. Der zierliche, unauffällige Mann in der Uniform eines Südstaatenoffiziers, der die Schwarze Brigade, wie er seine kleine Armee nannte, befehligte, hob den rechten Arm und schwenkte die Hand mehrmals nach hinten. Erleichtert wendeten seine Männer ihre Pferde, gaben ihnen die Sporen und sprengten zurück hinter die rettenden Hügel.

Ihre Gegner hinter den Barrikaden schickten ihnen einen Kugelhagel nach, der noch den einen oder anderen Freischärler zu Fall brachte. Wer von den aus dem Sattel Geschossenen noch laufen konnte, rappelte sich auf, versuchte ein reiterloses Pferd einzufangen oder hinkte den zurückweichenden Kameraden nach. Manch einer schaffte es, sich in Sicherheit zu bringen. Manch einer brach aber auch unter dem heißen Blei, das auf der Flucht in seinen Körper fuhr, zusammen. Die Verteidiger des kleinen Ortes Blue Springs in der Nähe des Missouri kannten keine Gnade. Genauso wenig wie die Angreifer, die berüchtigte Freischar des ehemaligen Schulmeisters und jetzigen Captains William Clarke Quantrill.

Man schrieb den Juni des Jahres 1863, und in Nordamerika tobte der erbitterte Bürgerkrieg zwischen der Union der Nordstaaten und den konföderierten Südstaaten. Ein Krieg, der hier, im Grenzgebiet zwischen Kansas und Missouri, mit besonderer Härte und Grausamkeit geführt wurde. Kansas hatte der Sklaverei abgeschworen. In Missouri war sie, obwohl sich der Staat auf die Seite der Union geschlagen hatte, erlaubt. Schon vor Ausbruch des Sezessionskrieges, wie der Bürgerkrieg auch genannt wurde, hatten sich hier im Grenzgebiet Anhänger und Gegner der Sklaverei blutige Kämpfe geliefert. Diese flammten jetzt mit erneuter Heftigkeit auf, weil jede der Krieg führenden Parteien hoffte, die Grenzstaaten auf seine Seite zu ziehen. Vielfach wurde der Kampf von irregulären Truppen ausgetragen, und die waren in der Regel noch unerbittlicher als die regulären.

Quantrills wilde Reiter hatten sich unter den Irregulären den Ruf eines besonders draufgängerischen, brutalen Haufens erworben. Wo sie auftauchten, regierten Vernichtung, Tod, Furcht und Schrecken. Schon mehrere Ortschaften der Sklavereigegner hatten sie in Schutt und Asche gelegt.

Derzeit allerdings sah es so aus, als sollte ihnen das mit Blue Springs nicht gelingen. Jedenfalls nicht so mühelos, wie es sich viele der Angreifer vorstellten, als sie ihre Pferde unter lautem Gejohle in den Kampf getrieben hatten.

Hinter der ersten Hügelkuppe zügelte Quantrill seinen Braunen und sah mit besorgter Miene seine zurückweichenden Männer an, die sich um ihn und die schwarze Flagge herum sammelten. Viele von ihnen hatten Verletzungen davongetragen, einige sogar mehrere. Die Verteidiger hatten unter seinen Männern eine blutige Ernte gehalten.

»Dieser Cordwainer ist ein schlauer Fuchs«, sagte Quantrill zu seinem Unterführer Bloody Bill Anderson, der sein Pferd zu ihm lenkte. »Er hat uns nahe genug herankommen lassen, um uns mit den Salven seiner Leute erhebliche Verluste beizufügen.«

»Trotzdem hätten wir den Angriff nicht abbrechen sollen«, knurrte ein unzufriedener, wütender Anderson und fuhr dabei mit der Hand durch seinen dichten, dunklen Vollbart, als hätten sich dort ein paar ihrer Gegner eingenistet. »Wir hätten versuchen sollen, die Barrikaden zu stürmen. Im Nahkampf hätten wir schnell mit diesen Yankee- Hunden aufgeräumt.«

Quantrill schüttelte seinen schmalen Kopf mit dem dunkelblonden Haar, das unter einem grauen Offiziershut hervorlugte. »Das glaube ich nicht, Bill. Byron Cordwainer scheint mit allen Wassern gewaschen zu sein. Er verlässt sich bestimmt nicht nur auf eine Verteidigungslinie. Ich an seiner Stelle würde es jedenfalls nicht tun.«

Zwei weitere Reiter drängten ihre Pferde zu Quantrill und Anderson, ein blonder Weißer und ein kräftiger Schwarzer. Es waren Custis Hunter und sein ehemaliger Sklave Melvin, der einzige Dunkelhäutige unter Quantrills Männern.

Vor einem halben Jahr noch war Custis Hunter ein glücklicher Mann gewesen und hatte auf Starcrest gelebt, der Plantage seines Vaters. Zusammen mit der Frau, die er in Kürze zu heiraten gedachte, Virginia Lawrence aus Blue Springs. Aber dann überfiel Byron Cordwainer mit seiner aus den Bürgern von Blue Springs aufgestellten Jayhawkers-Freiwilligentruppe die Plantage und brannte sie nieder. Custis’ Vater starb dabei ebenso wie Melvins schwangere Frau. Melvin rettete Custis aus den Flammen des brennenden Herrenhauses, in dem ihn die Jayhawkers zurückgelassen hatten, weil sie den von mehreren Kugeln getroffenen Mann für tot hielten.

Aber Custis kam durch und erholte sich ganz langsam von seinen schweren Verletzungen. Er und Melvin, dem er die Freiheit geschenkt hatte, hatten sich Quantrills Guerillas angeschlossen, um Rache zu nehmen an Byron Cordwainer, den Bürgern von Blue Springs und der Frau, die jetzt Virginia Cordwainer hieß.

Die junge Frau, Tochter des Bankiers Armstrong Lawrence, war aus ihrem Elternhaus geflohen, um der Hochzeit mit dem ungeliebten Byron Cordwainer, Sohn des Bürgermeisters und neben Armstrong Lawrence mächtigsten Mannes von Blue Springs, zu entgehen. Virginia liebte Custis und zog zu ihm. Byron Cordwainer hatte sie sich bei dem Überfall zurückgeholt.

Custis konnte es erst nicht glauben, als er hörte, dass Virginia den ungeliebten Mann geheiratet hatte. Doch es war so. Seitdem galt der Hass in seinem Herzen auch der einstmals geliebten Frau, deretwegen er alles verloren hatte, die Plantage, sein früheres Leben – und seinen Vater.

»Wir müssen wieder angreifen«, rief Custis, sobald er Quantrill und Anderson erreicht hatte. »Blue Springs darf nicht zur Ruhe kommen!«

»Sie werden nicht zur Ruhe kommen«, entgegnete der Anführer. »Aber mit unserem nächsten Angriff lassen wir uns Zeit. Er muss gut vorbereitet sein. Ich will nicht, dass wir uns noch einmal blutige Nasen holen.«

Custis war einigermaßen beruhigt. Als Quantrill vorhin das Zeichen zum Rückzug gegeben hatte, befürchtete er, der Anführer der Schwarzen Brigade könnte genug haben vom Angriff auf Blue Springs.

Aber es gab etwas für Quantrill sehr Wichtiges in der Stadt, weswegen er sie unbedingt einnehmen wollte. Custis wusste nicht, um was es sich handelte. Nur Quantrill, Anderson und George Todd, der den Angriff auf der Westseite der Stadt befehligte, schienen das zu wissen.

Custis konnte es gleichgültig sein. Hauptsache, er würde die Stadt brennen sehen!

George Todd sprengte zu ihnen heran und sagte zu Quantrill: »Das war ein verdammter Fehlschlag, Bill. Ein halbes Dutzend meiner Männer ist tot, genauso viele schwer verwundet.«

»Bei uns sieht es ähnlich aus«, erwiderte der Freischärler-Captain, dessen ausdrucksloses Gesicht mit den unpassend weichen, fast weiblichen Zügen unbewegt blieb. »Aber beim nächsten Mal zeigen wir es der Yankee-Brut!«

»Das klingt, als hättest du einen Plan«, sagte Todd interessiert.

»Den habe ich«, erwiderte Quantrill und teilte seinen Männern mit, wie er die Stadt erobern wollte.

 

*

 

Martin Bauer verließ die Kirche von Blue Springs mit einem weißen, stramm sitzenden Verband um seine rechte Schulter, in die eine Kugel der Bushwackers gefahren war, wie die konföderierten Irregulären auch genannt wurden. Father Goddard hatte sein Gotteshaus in ein Krankenhaus umgewandelt, um die Verwundeten zu versorgen. Mit mehr Gottvertrauen als Geschick gingen er und die Frauen, die ihm halfen, ihrer Aufgabe nach.

Der einzige Arzt der Stadt, der alte Dr. Hatfield, hatte am gestrigen Tag den Ort verlassen, um auf der Miller-Farm einen Krankenbesuch zu machen. Einer Nachricht zufolge, die Quantrill ihnen mit dem toten Gus Peterson geschickt hatte, befand sich Hatfield jetzt in den Händen der Südstaatler.

Martin blieb vor der Kirche stehen und lauschte der Stille, die über der Stadt lag und die ihm nach dem Feuergefecht unwirklich vorkam, beinah überirdisch. Aber sie passte zu dem Ort. Blue Springs war eine aufstrebende Stadt, der selbst die unermüdlichen Regengüsse der letzten Tage nicht den Anschein von Ordentlichkeit und Sauberkeit hatten nehmen können. Kürzlich erst war die Eisenbahnstrecke nach Kansas City fertiggestellt worden, und jetzt warteten die Bürger auf den Beginn des regulären Bahnverkehrs und die Reisenden, die in ihrer Stadt absteigen und ihr Geld dalassen würden.

Martin und seine Freunde Jacob Adler und Irene Sommer hatte es eher zufällig hierher verschlagen. Mit einem Dampfschiff waren sie von St. Louis aus den Missouri hinaufgefahren, um sich in Kansas City einem Oregon-Treck anzuschließen. Aber das tagelange, pausenlose Unwetter hatte eine Weiterfahrt unmöglich gemacht. Deshalb hatte der Kapitän alle Reisenden an Land setzen lassen, wo sie ein Wagenzug nach Blue Springs bringen sollte, um von dort aus mit der Eisenbahn nach Kansas City zu fahren. Der Wagenzug war von Quantrills Bande angegriffen worden, die es auf Blue Springs abgesehen hatte und verhindern wollte, dass die Bürger der Stadt Verstärkung erhielten.

Die Reisenden waren zwar durchgekommen, aber Martin fragte sich, ob das an ihrem Schicksal etwas änderte. Sie waren zusammen mit den Bürgern der Stadt in Blue Springs eingeschlossen, ohne Hoffnung auf Rettung. Es war ein langer, beschwerlicher Weg, der den norddeutschen Bauernsohn nach Amerika geführt hatte. War der Weg hier zu Ende?

Er dachte an den jungen Peterson, den besten Reiter der Stadt, der in der Nacht ausgesandt worden war, um Hilfe aus Kansas City zu holen. Quantrill hatte ihn erwischt und mit einem Ultimatum, das die Aufforderung zur bedingungslosen Kapitulation enthielt, in die Stadt zurückgeschickt. Die Aufforderung steckte an einem Messer, das in Petersons Brust gerammt worden war. Den toten Kurier hatten die Bushwackers auf seinem Pferd festgebunden. Jetzt lag Peterson in einem Nebenraum der Kirche aufgebahrt und Mary Calder, seine junge Verlobte, trauerte um ihn.

Und in Kansas City wusste man nichts über die verzweifelte Lage, in der sich Blue Springs befand. Auch telegrafisch hatte man keine Hilfe anfordern können. Alle Verbindungen waren unterbrochen. Wahrscheinlich war das ebenfalls Quantrills Werk.

Mit langsamen Schritten, die frische, ein wenig nach Pulverrauch und Tod schmeckende Luft dieses ersten regenlosen Morgens seit vielen Tagen in sich saugend, ging der stämmige Deutsche durch die leeren Straßen der wie ausgestorben wirkenden Stadt. Sein Ziel lag im vornehmen Südteil: das Haus der Cordwainers, wo er und seine Freunde Unterkunft gefunden hatten. Hier wollte er sich ein wenig ausruhen. Sein verletzter Arm schmerzte so heftig, dass Martin für eine Weile als Schütze nicht zu gebrauchen war.

Wenn er länger auf die Fenster der verriegelten und teilweise verbarrikadierten Häuser sah, bemerkte er zuweilen ein Paar Augen oder zumindest das Flattern der Vorhänge. Alte, Frauen und Kinder warteten ängstlich auf den Ausgang des Kampfes, der über das Schicksal der Stadt und ihrer Bewohner entscheiden würde. Wie Quantrills Männer mit eroberten Städten umgingen, war allgemein bekannt. Häuser wurden abgebrannt, Männer erschossen und Frauen vergewaltigt. Nicht in alle Fenster konnte er blicken. Viele, besonders die zu ebener Erde gelegenen, waren mit Brettern vernagelt.

Die Wohnhäuser wurden größer, pompöser und waren von kleinen Parks umgeben, als er ins südliche Viertel kam. Hier lebten die wohlhabenden Familien, wie die Cordwainers und die Lawrences. Sie bestimmten, was in Blue Springs geschah. Sie sorgten dafür, dass alle Bürger der Stadt auf der Linie der Sklavereigegner waren. Und doch waren fast alle Bediensteten, die Martin bislang hier gesehen hatte, Schwarze.

Dieses Land Amerika war ebenso seltsam wie groß.

Seine Bewohner fochten einen gnadenlosen Bruderkrieg untereinander aus, in dem es nicht zuletzt um die Frage der Sklavenbefreiung ging. Und doch duldeten die Nordstaaten, die für die Abschaffung der Sklaverei eintraten, in ihren Reihen Staaten, in denen die Sklaverei erlaubt war. Der Staat Missouri, an dessen westlichem Rand Blue Springs lag, war solch ein Staat.

In einer Zeitung auf dem Flussdampfer PRIDE OF MISSOURI hatte Martin die Proklamation gelesen, mit der Abraham Lincoln, Präsident der Nordstaaten, die Sklaven in den Konföderierten Staaten für frei erklärt hatte. Darin hatte es geheißen: Dass am ersten Tag des Januar unseres Herrn 1863 alle Personen, die in einem Staat oder bestimmten Teil eines Staates, dessen Bewohner zu der Zeit in Aufruhr gegen die Vereinigten Staaten sind, von der Zeit und für immer frei sein sollen, und die vollziehende Staatsgewalt der Vereinigten Staaten mit Einschluss der Militär- und Marinegewalt die Freiheit solcher Personen anerkennen und erhalten wird und nichts tun wird, um solche Personen oder eine von ihnen in ihren Bemühungen für ihre tatsächliche Freiheit zu hindern.

Die Schwarzen in den Sklaven haltenden Staaten des Nordens aber waren nicht davon betroffen. Sie blieben weiterhin Sklaven.

Mitreisende auf dem Schiff hatten das Martin gegenüber als einen politischen Schachzug Lincolns bezeichnet. Der Präsident durfte Staaten wie Missouri nicht verprellen, wollte er verhindern, dass sie Partei für die Konföderation ergriffen. Später, wenn der Krieg gewonnen und die Sklaven in den Südstaaten freie Menschen waren, würden die übrigen Sklavenstaaten mitziehen müssen, denn das System der Sklaverei würde sich dann überlebt haben.

Vielleicht stimmte das. Martin jedenfalls hatte Vertrauen zu Abraham Lincoln. Er hatte diesen großen Mann, auf dessen breiten Schultern eine ungeheure Verantwortung lastete, persönlich kennengelernt, als er und Jacob dabei geholfen hatten, die Entführung des Präsidenten durch Quantrills Guerillas zu verhindern.

Lincolns zerfurchtes, gütiges, weises und stets zu einem humorvollen Lächeln fähiges Gesicht stand so deutlich vor seinem inneren Auge, als sei dieses Zusammentreffen erst gestern erfolgt. Er spürte, dass dieser Mann nur das Beste für sein Land und dessen Bewohner wollte, auch wenn Martin nicht alle Winkelzüge der großen Politik verstand. Er wünschte Lincoln Glück und Erfolg für seinen schweren Kampf.

Das große weiße Herrenhaus der Cordwainers lag ebenso verlassen vor ihm wie alle übrigen Gebäude der verängstigten Stadt. Auch hier waren die Fenster im Erdgeschoss vernagelt. Martin schritt über den breiten Kiesweg und stellte ohne Erstaunen fest, dass die Tür verschlossen war. Er zog heftig an der Klingelschnur.

Als er über sich ein Geräusch hörte, blickte er hoch. Ein nicht vernageltes Fenster im ersten Stock war geöffnet worden. Clyde, der grauhaarige schwarze Butler schaute heraus.

»Einen Moment, Mr. Bauer«, rief er, als er Martin erkannte. »Ich öffne Ihnen gleich.«

Clyde verschloss das Fenster wieder sorgfältig und kam die Treppe herunter. Martin hörte, wie er einen schweren Riegel zurückzog, bevor er die Haustür öffnete.

Der Butler stand nicht allein in der Türöffnung. Hinter ihm starrten Avery und Abigail Cordwainer den Deutschen fragend an. Der Bürgermeister von Blue Springs hielt, ebenso wie sein Butler, einen Karabiner in der Hand.

»Was ist geschehen?«, wollte der alte Cordwainer wissen. »Haben wir Quantrill geschlagen?«

»Zurückgeschlagen ist wohl der passendere Ausdruck«, sagte Martin erschöpft, als er eintrat. »Seine Männer haben sich an unseren Barrikaden blutige Köpfe geholt. Aber ich bin ziemlich sicher, dass es noch nicht vorbei ist.«

»Wieso nicht?«, fragte die Frau des Bürgermeisters. »Was können diese Banditen nur von uns wollen?«

»Ich bin nicht aus dieser Stadt«, antwortete der Deutsche achselzuckend. »Ich weiß es nicht.«

»Ich habe mein ganzes Leben in dieser Stadt verbracht und weiß es auch nicht«, brummte Cordwainer, während Clyde die Tür wieder verriegelte.

»Ich werde mich etwas ausruhen«, sagte Martin und ging nach oben.

Unten blieben die Menschen zurück, die sich mit keinem Wort nach seiner Verwundung erkundigt hatten. Sie waren zu sehr mit sich selbst beschäftigt.

Auf dem Gang im ersten Stock steuerte Martin mit müden Schritten sein Zimmer an, als er plötzlich einen spitzen Schrei hörte, gefolgt von einem lang gezogenen, gequälten Stöhnen. Es war die Stimme einer Frau.

Sofort dachte er an Irene, die er und Jacob auf dem Auswandererschiff unter ihre Fittiche genommen hatten. Sie war mit ihrem kleinen Sohn Jamie im Haus der Cordwainers zurückgeblieben, als ihre beiden Freunde an diesem Morgen weggegangen waren, um die Stadt gegen Quantrill zu verteidigen.

Als er vor der Tür ihres Quartiers stand, hörte er ein leises Wimmern, das aber nicht aus ihrem Zimmer kam, sondern aus dem Nebenraum. Er klopfte dort gegen die Tür, vorsichtig erst, dann heftiger.

»Herein«, rief schließlich eine Frauenstimme, ohne dass das Wimmern aufhörte.

Als er eintrat, wäre er beinahe sofort wieder gegangen. Auf die Szene, die sich seinen Augen bot, war er nicht vorbereitet. Irene und das schwarze Dienstmädchen Beth beugten sich über das riesige, von einem Baldachin überspannte Bett, in dessen zerwühlten Kissen Virginia Cordwainer lag und sich in schmerzhaften Krämpfen wand.

Das schweißnasse Nachthemd der schwangeren Virginia war so weit hochgeschoben, dass ihre Brüste zur Hälfte hervorlugten. Ihre Hände hatten sich ins Bettlaken gekrampft, als wollte sie es zerreißen. Ihr Gesicht, von dem der Schweiß in kleinen Bächen herunterlief, war schmerzverzerrt. Aus ihrem halb geöffneten Mund drang das fortwährende Wimmern und Stöhnen.

»Pressen«, stieß Irene hervor, während sie Virginias Gesicht mit einem feuchten Tuch abtupfte. »Sie müssen stärker pressen, Virginia!«

»Das … tu ich … doch …«, brachte die Frau im Bett unter Schmerzen hervor. »Ich tu … alles … was ich kann … Es … es geht … einfach nicht!«

»Es muss gehen!«, beharrte Irene. »Ihr Kleines will unbedingt auf diese Welt, und Sie müssen ihm dabei helfen.«

Martin erbleichte und sagte stotternd: »Ich habe nicht gewusst, dass es schon so weit ist.«

»Niemand hat es gewusst«, antwortete Irene. Da bemerkte sie seinen Verband, und ihr Gesicht wurde noch ernster. »Martin, was ist passiert?«

»Nur ein Streifschuss. Aber das macht nichts. Ich bin alles andere als ein Meisterschütze und damit kein großer Verlust für die Stadtverteidigung. Ich glaube, ich habe keinen von den Quantrill-Männern getroffen. Aber wir haben sie doch zurückgeschlagen.«

»Dann ist unsere Stadt gerettet?«, fragte das Dienstmädchen hoffnungsvoll.

»Nein. Quantrill belagert uns weiterhin. Ich bin ziemlich sicher, dass er wieder angreift.«

»Was ist mit Jacob?«, erkundigte sich Irene, und ihre Stimme zitterte vor Angst. Sie empfand mehr für Jacob als bloße Freundschaft, auch wenn sie das niemandem sagte, weil Carl Dilger, der Vater ihres Kindes, in Oregon auf sie wartete. »Ist ihm … etwas zugestoßen?«

»Nein«, antwortete Martin kopfschüttelnd. »Er hat zwei von Quantrills Halunken erwischt, aber die ihn nicht.«

Virginia versuchte, sich ein wenig aufzurichten, schaffte es aber nicht und sank ermattet wieder in die Kissen zurück.

Leise, immer wieder von gequältem Stöhnen unterbrochen, fragte sie: »Stimmt das … mit … Doc Hatfield? Ist er … Quantrills Gefangener?«

»Es sieht so aus. Jedenfalls lautete so die Nachricht, die wir bei Peterson fanden.«

»Bei Peterson?«, wiederholte Virginia stockend.

In knappen Worten berichtete Martin von dem glücklosen Kurier, den die Südstaatler, tot und auf sein Pferd gebunden, nach Blue Springs zurückgeschickt hatten.

»O Gott«, murmelte sie und schloss die Augen. »Wer soll mir dann noch helfen?«

»Wir«, sagte Irene laut. »Und Gott.«

Aber ihr Gesicht verriet Martin, dass sie nicht so überzeugt davon war, wie sie sich der Schwangeren gegenüber gab.

Irene wandte sich wieder an ihn und zeigte auf das Kinderbett mit dem kleinen Jamie, der verängstigt dreischaute. »Ich habe Jamie herübergeholt, damit er nicht allein ist. Aber es ist wohl nicht das Richtige für ihn. Könntest du auf ihn achtgeben?«

»Sicher doch.«

Irene und er trugen das Bettchen mit dem kleinen Kind in sein Zimmer.

»Es läuft nicht gut, oder?«, fragte Martin, als sie dort angekommen waren. »Ich meine, die Geburt.«

»Nein«, antwortete Irene und atmete tief aus. »Es sieht sogar ziemlich schlimm aus. Beth und ich haben das Gefühl, dass das Kind quer im Bauch liegt. Ein Arzt müsste her, dringend.«

»Weiß Virginia das?«

»Nein. Je länger sie nichts davon weiß, desto besser.«

»Gibt es sonst niemanden in Blue Springs, der sich mit solchen Sachen auskennt?«

»Leider nicht. Die Hebamme ist letzten Monat gestorben.«

»Warum hilft euch Mrs. Cordwainer nicht? Ich meine die alte Dame, Virginias Schwiegermutter. Sie hat immerhin schon zwei Kinder auf die Welt gebracht.«

»Sie scheint nicht daran interessiert zu sein.«

»Nicht interessiert?«, wiederholte Martin ungläubig. »An der Geburt ihres eigenen Enkels?«

»Es ist nicht ihr Enkelkind«, sagte Irene langsam, nach den richtigen Worten suchend. »Jedenfalls nicht eigentlich.«

»Das verstehe, wer kann, ich nicht.«

»Byron Cordwainer ist nicht der Vater. Verstehst du das?«

»Ja. Aber wieso? Ich … ich meine …«

»Wieso Virginia das Kind eines anderen Mannes im Bauch trägt? Weil sie diesen Mann liebte und ihn heiraten wollte, bis Byron Cordwainer ihn ermorden ließ.«

»Was?«, fragte ein fassungsloser Martin und starrte Irene noch ungläubiger an als zuvor.

In knappen Worten berichtete Irene ihm, was sie von Virginia erfahren hatte. Sie war noch nicht ganz fertig, als eine ganze Reihe spitzer Schreie aus dem Zimmer der Schwangeren erscholl.

»Ich muss wieder rüber«, sagt Irene. »Pass gut auf Jamie auf!«

Als sie Martin mit dem Kind allein gelassen hatte, sah der Auswanderer andächtig auf den jungen, im Vergleich zu dem stämmigen Mann winzig wirkenden Erdenbürger und murmelte: »Ein Kind, dessen Vater tot ist. Und ein Kind, dessen Vater irgendwo in diesem großen Land verschollen ist. Was hatte ich doch für ein Glück, dass mein Vater ein einfacher Heidebauer war.«

Quelle:

  • Jörg Kastner: Amerika – Abenteuer in der Neuen Welt. Band 8. Bastei Verlag. Köln. 02.10.2018