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Der Detektiv – Der Mord im Sonnenschein – 1. Kapitel

Walter Kabel
Der Detektiv
Band 7
Kriminalerzählungen, Verlag moderner Lektüre GmbH, Berlin, 1920
Der Mord im Sonnenschein

1. Kapitel

Der erste Tag im Hotel

Harst sagte in jenem etwas lebhaften Ton, den er mir gegenüber zumeist anschlägt, wenn ich wieder einmal bewiesen habe, dass ich tatsächlich noch recht unzulänglich als sein Privatsekretär und Gehilfe bin: »Lieber Schraut, jeder Erfolg hängt von der Sorgfalt unserer Arbeit ab. Eine Kleinigkeit vernachlässigen, heißt das Ganze aufs Spiel setzen. Vergessen Sie nicht, dass wir diesmal als Konkurrenten der Offiziellen, also der Kriminalpolizei, in die Erscheinung treten werden und dass meine Millionenwette so gut wie verloren ist, wenn die Offiziellen uns erkannt haben, denn dann finden wir überall mehr Steine auf dem Weg, als uns zuträglich sein kann. Nein, unser Erfolg wird umso sicherer sein, je mehr wir dafür sorgen, dass niemand in uns Harald Harst und Max Schraut vermutet. Deshalb reisen wir auch getrennt nach Hamburg, treffen uns dort und kehren vereint hier nach Berlin zurück. Inzwischen wird dann unser junger Freund und Verbündeter Karl Malke hoffentlich die Stelle als Liftboy erhalten haben, so dass wir zu dritt an meine neue Aufgabe herangehen können.«

Als er so zu mir sprach, waren wir kaum vor zwei Stunden aus Szentowo wieder in Berlin eingetroffen. Während der Eisenbahnfahrt von Malchin hatte Kommerzienrat Kammler, der Beauftragte der Wettgegner Harsts, diesem die zweite der zwölf Aufgaben genannt, die mein Gönner und Brotherr sämtlich zu lösen verpflichtet war, falls er eben nicht seinen Wetteinsatz, eine runde Million, einbüßen wollte.

Diese neue Aufgabe lautete: Restlose Aufklärung des am Geldbriefträger Wilhelm Schmiedicke im Hotel Sonnenschein verübten Raubmordes. Ich brauche über dieses Verbrechen, das acht Tage lang das Tagesgespräch in Berlin hauptsächlich wohl deswegen bildete, weil den Mördern nicht weniger als 1¾ Million an Bargeld und Wertpapieren in die Hände gefallen war, hier nur das Nötigste anzugeben, denn es dürfte noch ziemlich frisch in aller Erinnerung sein.

Am 3. Mai kehrte der Geldbriefträger Schmiedicke von seinem Bestellgang, auf dem er sehr viele Banken, Geschäfte und Privatleute zu besuchen hatte, nicht zurück. Da kurz vorher schon ein anderer Geldbriefträger in eine Falle gelockt, ermordet und ausgeraubt worden war, wurden an demselben Abend die sorgfältigsten Nachforschungen nach Schmiedickes Verbleib angestellt. Doch erst am 4. Mai mittags fand man ihn zufällig im Hotel Sonnenschein in Zimmer Nr. 47 tot auf, gefesselt an einen Stuhl und mit einer Leine erdrosselt. Die Kriminalpolizei hätte fraglos noch längere Zeit nach ihm suchen müssen, wenn eben nicht dem Zimmerkellner von Nr. 47 aufgefallen wäre, dass er die beiden Herren, die die Zimmer 46 und 47 seit etwa vierzehn Tagen bewohnten, seit dem 3. Mai mittags nicht mehr gesehen hatte. Er meldete dies dem Hotelbesitzer August Schütze. Ein Schlosser öffnete dann die Tür von Nr. 47, da die beiden Herren in die Schlösser mit Schützes Erlaubnis Schloßsicherungen hatten anbringen lassen, die ohne Hilfe eines Fachmannes sich nicht aufsprengen ließen, wollte man nicht die Tür halb zerstören. Zum Entsetzen der Eintretenden entdeckte man nun den verschwundenen Postbeamten, neben dem die völlig geleerte Ledertasche lag, tot auf dem Stuhl unter einer darüber geworfenen Bettdecke. Die beiden Bewohner von 46 und 47, die sich als Vater und Sohn, Kaufleute Emil und Viktor Reupert aus Bremen ausgegeben hatten, waren mit ihrer Beute also längst über alle Berge, als der Ermordete gefunden wurde, und hatten einen Vorsprung von etwa 24 Stunden, was gewiegten Verbrechern – und um solche handelte es sich hier doch fraglos nach der ganzen Art der Vorbereitung und Ausführung – vollauf genügt, alle Spuren hinter sich zu verwischen. So war es auch. Die Kriminalpolizei war am 12. Mai, als Kammler meinem Brotherrn die neue Aufgabe stellte, bei der Untersuchung des überaus schwierigen Falles noch keinen Schritt weitergekommen, wenn man von einigen unwesentlichen Feststellungen absieht. Emil und Viktor Reupert hatte geradezu der Erdboden verschluckt, obwohl der Ältere, der angebliche Vater, ein auffallend langer, dünner Mensch mit einem Feuermal an der linken Wange gewesen war, während Viktor (das waren natürlich alles angenommene Namen; in ganz Bremen gab es keinen Kaufmann Reupert) einen künstlichen linken Arm gehabt hatte, beide also besondere Kennzeichen besaßen, die ihre Verfolgung wesentlich hätten erleichtern müssen.

Am 12. Mai abends gegen 7 Uhr hatte Harald Harst jene eingangs erwähnten Sätze gesprochen und dann hinzugefügt: »Immerhin brauchen wir diesmal nicht zu befürchten, dass diese neue Aufgabe, wie es bei der vorigen der Fall gewesen war, durch die Zeitungen, die ja meiner Wette spaltenlange Artikel gewidmet haben, wieder in alle Welt posaunt wird. Ich habe Kammler verpflichtet, dieses zweite Problem ebenso wie die ferneren bis nach der jedesmaligen Erledigung streng geheim zu halten. Trotzdem will ich keine Vorsicht versäumen, damit wir wirklich inkognito im Sonnenschein absteigen, wie ich schon sagte. Sie fahren noch heute Abend, natürlich verkleidet, und ich folge morgen früh. Morgen Nachmittag treffen wir uns im Alsterpavillon gegen sechs Uhr. Sie besorgen inzwischen in Hamburg einen eleganten fahrbaren Krankenstuhl und ein paar ältere Koffer sowie allerlei gebrauchte Sachen zum Füllen der Koffer. Wir werden reich gewordene einfache Leute darstellen. Danach richten Sie sich bei den Einkäufen.«

Während er mir diese Befehle erteilte, saß er an seinem Stutzflügel in seiner Bibliothek und fantasierte leise über Motive aus Wagners Walküre. Seine geliebte, süßlich duftende Mirakulum hing ihm im Mundwinkel. Er spielte künstlerisch, und es war ein Genuss, ihm zuzuhören.

Nach einer Weile erklärte er dann ganz unvermittelt: »Ich habe die Berichte in den Zeitungen über den Schmiedicke-Fall gesammelt und sehr genau studiert. Sie doch auch, Schraut, nicht wahr?«

»Gewiss, vor kaum zehn Minuten«, erwiderte ich.

»Was ist Ihnen dabei aufgefallen?«

Diese Frage kannte ich schon. Mir sollte auch bei der Geschichte in Szentowo so alles Mögliche auffallen. Aber – Harst stellte eben zu große Ansprüche an mich als seine bescheidene Hilfskraft. Er maß zu sehr mit eigenem Maß. Wie konnte ich wohl wie er, der doch für den Detektivberuf geradezu hervorragend begabt ist, sofort überall da Besonderes wittern, wo ganz winzige Unstimmigkeiten in dem Tatsachenmaterial sich zeigten? Ich antwortete daher auch jetzt diplomatisch: »Vorläufig ist mir nichts aufgefallen. Ich werde die Berichte aber nochmals durchsehen.«

Er schlug ein paar dröhnende Bassakkorde an, die wie ein ärgerlicher Ausruf klangen. Dann sanken seine Hände von den Tasten herab. »Ich glaube weder an das Feuermal des einen noch an den künstlichen Arm des anderen«, sagte er. »Die beiden Burschen haben als geriebene Verbrecher diese besonderen Kennzeichen nur vorgetäuscht, um nachher desto sicherer zu sein. Wer einen solchen Millionenraub plant, darf auf der Wange keinen talergroßen rotbraunen Fleck haben und wählt sich nicht gerade einen Einarmigen zum Komplizen.«

Ich wagte zu bemerken, dass doch der Zimmerkellner von 46, 47 verschiedentlich gesehen hätte, wie Viktor Reupert nur den rechten Arm gebrauchte, während der linke Unterarm mit der handschuhbekleideten künstlichen Hand stocksteif auf dem Tisch ruhte.

Harst stand vom Flügel auf, meinte: »Na, warten wir ab, lieber Schraut. Die Offiziellen schwören scheinbar auch auf diesen künstlichen Arm, genauso wie sie auch den Fehler begehen, dem Haus Preßburger Straße 5 viel zu geringe Beachtung zu schenken. Doch – genug jetzt davon. Rüsten Sie sich. Es wird Zeit. Ihr Zug geht 9 Uhr 45 ab Lehrter Bahnhof.«

Ich bin jetzt einundvierzig Jahre alt. Aber der Herr, der dann den Hamburger Zug bestieg und es sich an einem Fensterplatz 2ter, Raucherabteil, bequem machte, war mindestens sechzig. Nun, für mich als früheren Schauspieler ist »Maske machen« nicht schwer. Harst hat es wieder von mir gelernt.

Kurz vor Abgang des Zuges kam noch ein langbärtiger Kerl herein, der einen starken Fuselgeruch mitbrachte und der offenbar leicht angetrunken war. Sein Gesicht war die typische Säuferphysiognomie. Und trotzdem: Es war Harst! Erst als wir zehn Minuten unterwegs waren, sprach er mich an. Wir waren die einzigen Reisenden in unserem Abteil. Wir unterhielten uns nur über nebensächliche Dinge, bis Harst mir dann die neueste Abendzeitung reichte und auf eine bestimmte Stelle darin deutete. Ich las die dick gedruckte Überschrift (es war eine Anzeige in Größe 6 mal 6 Zentimeter): »Fünf Preßburger« – darunter – »wünschen die Bekanntschaft hübscher, heiratslustiger, junger Damen zu machen. Diskretion zugesagt. Briefe unter K W 111 an die Expedition dieser Zeitung.«

Ich ließ das Blatt sinken. Da beugte Harst sich weit vor und flüsterte mir zu: »Es ist die erste Spur, Schraut. Merken Sie sich: Im Annoncenteil steht manchmal mehr als unter Allerneuestes. Gute Nacht. Ich schlafe jetzt.«

Er lehnte sich in seine Ecke zurück, streckte die Beine aus und schien wirklich in Kurzem eingeschlummert zu sein. Mein Ehrgeiz hielt mich dagegen noch lange wach. Ich grübelte über Harsts Worte nach. Erste Spur? Ich sann und sann. Dann kam mir wie ein Blitz die Erleuchtung. Ich erinnerte mich: Harst hatte ja Preßburger Straße 5 erwähnt! Und in der Anzeige hieß es »Fünf Preßburger«! Ja, diese scheinbare Heiratsannonce hielt er für den Beginn einer Fährte – ohne Zweifel! Ich muss hier einfügen (für die Leser, die die Einzelheiten der Mordsache Schmiedicke nicht mehr genügend gegenwärtig haben), dass der Geldbriefträger lebend zuletzt im Haus Preßburger Straße 5 von der Frau Regierungsrat Walter gesehen worden war (gegen elf Uhr vormittags am 3. Mai), der er eine Postanweisung auszuzahlen gehabt hatte. Er war dann also fraglos von der Walter direkt zum um die Ecke in der Fröbelstraße liegenden Hotel Sonnenschein zu den Reuperts gegangen, obwohl er noch in den Gebäuden bis zum Hotel hin eine Menge Bestellungen zu erledigen hatte. Daher nahm die Kriminalpolizei auch an, dass die Reuperts, die fast täglich Geldbeträge per Post erhalten hatten, ihn durch die Zusicherung eines guten Trinkgeldes dazu bestimmt hatten, gerade am 3. Mai seinen Bestellgang zu unterbrechen und zu einer gewissen Zeit sich bei ihnen einzufinden.

Ich war sehr stolz darauf, dass ich den Zusammenhang zwischen der Anzeige und Preßburger Straße 5 entdeckt hatte. Als ich dann in Hamburg Harst dies mitteilte, sah er mich fragend an.

»Na – und weiter?«, meinte er.

»Ja – was denn weiter?«, sagte ich etwas unsicher.

Er klopfte mich auf die Schulter: »Lieber Schraut – das Weitere ist ja gerade die Hauptsache! Doch – lassen wir es jetzt.«

Den 13. Mai über blieben wir in Hamburg. Am 14. morgens reisten wir nach Berlin. Mein Krankenstuhl stand im Gepäckwagen. Ich fuhr erster Klasse und war jetzt der frühere Gutsbesitzer Michael Schrammel aus Neuhof bei Hamburg, der infolge eines Schlaganfalls zumeist von seinem Pfleger und Diener Heinrich Hinkel, welcher bescheiden in der 3ten saß, gefahren werden musste und der in Berlin einen berühmten Professor konsultieren wollte.

Das Hotel Sonnenschein in der Fröbelstraße war damals ein erst zwei Jahre alter Prachtbau mit allem modernen Komfort. Der Besitzer August Schütze, ein früherer Oberkellner, konnte mit seinem Einfall, sein Hotel nicht wie üblich Astoria, Zentral, Kontinental« oder so ähnlich getauft zu haben, sehr zufrieden sein. Sonnenschein – das behielt jeder, das wirkte erwärmend, lockend, vielverheißend. Und – Hotel Sonnenschein war denn auch immer sehr gut besetzt. Wir hatten von Hamburg aus telefonisch nach freien Zimmern angefragt, drei belegt und fanden daher bei unserer Ankunft alles in Nr. 30, 31, 32 bereit. Sie lagen den bewussten 46, 47 in der 2. Etage schräg gegenüber und dicht an der Haupttreppe und dem Fahrstuhl.

Harst spielte den langjährigen, treuen und vertrauten Diener vorzüglich. Er trug eine solide Nickelbrille, leicht ergrauten, kurzen Vollbart und zu einem fertig gekauften blauen Anzug mit ehrbaren Harmonikahosen Schaftstiefel, die stets nach Tran dufteten. Seine leicht gerötete Nase verriet eine kleine Vorliebe für Alkohol in jeder Form. Seine Stimme war stets rau wie ein Reibeisen, und seine Geschwätzigkeit und unterwürfige Höflichkeit gegenüber dem Hotelpersonal mustergültig. Wir hatten deshalb drei Zimmer genommen, um im mittelsten, 31, vor Lauschern völlig sicher zu sein. Harst schlief in 32, ich in 30, und 31 war der gemeinsame Wohnraum, wo wir auch die Nebenmahlzeiten einnahmen.

So begannen wir also am 14. mittags an Ort und Stelle mit unserer Arbeit. Nun – ich will den Mund nicht zu voll nehmen, denn mein Teil an dieser Arbeit war recht bescheiden. Gleich nach unserer Ankunft packte mein treuer Heinrich Hinkel mich ins Bett, da ich angeblich von der Fahrt sehr angegriffen war. Er brachte mir Bücher, Zeitungen, Ess-, Trink- und Rauchbares und verschwand bis gegen neun Uhr abends. Ich langweilte mich über die Maßen trotz eines Kriminalromans, den er mir gekauft hatte und der recht spannend war. Wenn man aber selbst an einer Verbrecherjagd beteiligt ist, hat selbst die beste Detektivgeschichte nur wenig Reiz.

Endlich erschien mein alter Heinrich dann und erklärte, nun bei mir bleiben zu wollen, half mir beim Anziehen und führte mich in unser Wohnzimmer. Hier ließ er die Maske fallen, nachdem er die Doppeltür zum Flur verriegelt und über das Schlüsselloch ein Tuch gehängt hatte.

»So, lieber Schraut, jetzt können wir mal für eine Weile wir selbst sein«, meinte er und setzte sich in den zweiten Korbsessel, zündete sich eine seiner geliebten Mirakulum an und sog den Rauch mit Behagen ein. »Zwei von den Offiziellen habe ich schon herausgefunden«, fuhr er fort. »Ich kenne sie noch von meiner Tätigkeit bei der Staatsanwaltschaft her. Tüchtige Leute sind es, besonders der Kriminalwachtmeister Schilling, der hier jetzt den Oberkellner mimt. Der andere tritt als Hotelgast, Geschäftsreisender, auf. Mit Schilling habe ich mich bereits angebiedert. Er hält mich für durchaus echt als Heinrich Hinkel, das merkte ich, hält mich außerdem für einen harmlosen Schwätzer, der gern guten Kognak trinkt. Übrigens unser Karl ist auch schon da. Er sieht in seiner Liftboyuniform mit angeklebtem Scheitel wie eine uniformierte Hopfenstange aus. Er hat jetzt Dienst und fuhr mit mir nach oben. Als ich mich ihm zu erkennen gab, war er nicht im Geringsten überrascht, sagte nur: ›Herr Harst, Sie müssen den Kopf gebückter tragen. Mit der Kopfhaltung sind Sie noch zu sehr Assessor. Ich habe Sie beide gleich erkannt, als Sie ankamen.‹ Ein tüchtiger Junge, sehr brauchbar. Er ist seit gestern hier in Stellung. Seine geringe Lohnforderung ließ ihn zwanzig Mitbewerber aus dem Feld schlagen.«

»Und unsere Sache – wie steht es damit?«, fragte ich, denn ich konnte mir nicht gut denken, dass Harst all die Stunden erfolglos außerhalb unserer Zimmer zugebracht hätte.

»Hm … unsere Sache … faul, oberfaul! Diesmal hat mir Kammler ein bemaltes Eisenstück als Nuss zum Knacken gegeben.«

»Na, na, es wird schon werden«, tröstete ich. »Sie haben doch die Anzeige zum Beispiel, die … fünf Preßburger, von denen Sie ja behaupten, es wäre die erste Spur.«

Er beschaute seine Fingernägel, die jetzt Hoftrauer zeigten, weil ein Heinrich Hinkel aus Neuhof bei Hamburg doch nicht gut mit tadellosen Nägeln herumlaufen konnte. »Auch ein Eisenstück lässt sich schließlich breitschlagen«, meinte er, immer im halben Flüsterton. »Das ist meine einzige Hoffnung jetzt, nachdem die erste Spur in nichts zerronnen ist.«

»So? Schade. Darf ich nicht Einzelheiten darüber hören?«

»Gewiss. Ich war auf der Zeitungsexpedition – vier volle Stunden. Um dreiviertel 6 kam eine junge Dame mit dem Ausweis und holte die eingelaufenen Offerten unter K W 111 ab. Es waren nur zwei. Mithin muss sie schon die Hauptmenge vorher geholt haben. Sie öffnete die beiden Briefe sofort im Expeditionsraum an einem der Schreibpulte, machte ein sehr enttäuschtes Gesicht und fuhr dann mit einem Omnibus bis zur Karlstraße, wo sie im Fremdenheim Pestell wohnt. Sie heißt Gertrud Hold und sieht auch recht hold, wenn auch ebenso traurig aus. Sie ist die Tochter des Rechnungsrats Hold aus Eberswalde und sucht hier eine Stellung als Gesellschaftsdame, Empfangsdame oder dergleichen. Ich verdanke diese Einzelheiten der Pensionsinhaberin, der Witwe Pestell, bei der ich seit heute ein Zimmer belegt und für acht Tage für einen Neffen vorausbezahlt habe, der morgen ankommen soll und nie ankommen wird, da der arme Junge, der ja gar nicht existiert, erkranken wird. Auf diese Weise kann ich häufiger bei der Pestell mich zeigen, die offenbar für Geld alles tut … auch spionieren.«

»Aber, aber, wozu dies alles, wenn Sie doch von der Anzeige sich nichts versprechen?«, meinte ich mit ehrlichem Erstaunen.

Worauf Harst die vierte Mirakulum am Stummel der dritten anrauchte und entgegnete: »Oh, die Gertrud Hold gefällt mir, lieber Schraut, hauptsächlich deswegen, weil sie sich mit ihren Eltern eines Menschen wegen überworfen hat, der ein Taugenichts sein soll. Und Taugenichtse interessieren mich immer.« Er gähnte zwanglos. »Ich hatte gehofft«, fuhr er etwas lebhafter fort, »dass ein Mann die Offerten einfordern würde. Insofern ist diese Spur ein Fehlschlag – aber nur insofern, lieber Schraut. Gute Nacht. Ich bin müde. Sie finden wohl allein ins Bett.«

Ich lag noch eine ganze Weile wach und schlief dann mit der Überzeugung ein, dass Harst es mit mir jetzt wieder genau so machte wie in Szentowo, wo er mich auch zumeist mit halben Andeutungen abspeiste. Gertrud Hold war ihm … interessant. Arme Gertrud! Dieses Interesse eines Harald Harst für deine holde Person ist nicht ganz ungefährlich.