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Ingrid Noll – Hab und Gier

Ingrid Noll – Hab und Gier

Karla Pinter war ehemals in einer Bibliothek beschäftigt und im Alter von 60 Jahren aus dem Dienst ausgeschieden, weil sie nicht so gut mit Computern und immer neuer Software umgehen konnte und dies auch zum Ende ihrer Dienstzeit nicht mehr wollte. Sie wird von ihrem ehemaligen Kollegen, Wolfram Kempner, etwas älter als sie selbst, zum Gabelfrühstück eingeladen.

Sie erinnert sich an das Grab seiner Frau Bernadette auf dem Weinheimer Friedhof, genauer gesagt, an die extravagante Inschrift auf der grauem Granitplatte, die das Grab bedeckt. Dort steht nämlich Bleib, wo du bist!, eine eigenartige Aussage, deren Sinn sich Karla nicht ganz erschließt.

Karla überlegt, ob sie Wolframs Einladung annehmen soll. Ihre Freundin Judith, wesentlich jünger als sie und noch in der Bibliothek beschäftigt, vermutet, dass Wolfram nach dem Tod seiner Frau vor einem halben Jahr eine neue Frau suchen könnte. Karla kann durchaus nicht verstehen, dass er sich deshalb an sie wenden könnte. Sie ist nämlich geschieden, hat bekanntermaßen keine gute Meinung vom anderen Geschlecht und für einen Witwer, der Wärme, Trost und Hilfe sucht, ist sie sicher die falsche Adresse. Judith kennt auch die Herkunft des Spruches auf Bernadette Kempners Grab. Er ist aus einem Kinderbuch und lautet vollständig: Bleib, wo du bist, und rühr dich nicht! Dein Feind ist nah und sieht dich nicht!

Schließlich nimmt Karla die Einladung Wolframs an, der selber einen unscheinbares, kleines und schmales Männlein ist und ein riesiges Haus in einem alten Villenviertel der Stadt bewohnt, dessen Garten heruntergekommen ist und dringend die Künste eines Gärtners benötigt.

Als Karla Wolfram zum ersten Mal wiedersieht, erschrickt sie. Er muss offensichtlich sehr krank sein, denn er ist noch viel mehr abgemagert und blass, hat kaum noch Haare auf dem Kopf und ist wohl völlig am Ende.

Sie setzen sich zunächst an den gedeckten Tisch und essen, bis Wolfram schließlich das Gespräch auf den eigentlichen Grund seiner Einladung lenkt. Er ist unheilbar an einen Tumor erkrankt, der inoperabel ist und nicht auf die Chemotherapie angesprochen hat. Er hat überall Metastasen und wird bald sterben. Deshalb ist es für ihn an der Zeit, einige wichtige Dinge zu regeln.

Karla weiß nicht, was sie damit zu tun hat. Er erzählt ihr, dass seine Frau etwas von einer allmächtigen Mutter hatte. Sie habe sich Kinder gewünscht, aber er sei zeugungsunfähig gewesen. Da sei es mit dem häuslichen Frieden vorbei gewesen. Sie habe künftig immer, wenn er versucht habe, sich ihr sexuell zu nähern, laut geschrien: »Bleibt, wo du bist, und rühr dich nicht!«

Sie hätten über Scheidung oder Adoption nachgedacht, aber nichts dergleichen getan. Schließlich habe Bernadette ihn mehr und mehr gequält, und sie seien ein Sadomaso-Paar ganz ohne Peitschen und Eisenketten geworden.

Aber was will Wolfram nun von Karla? Er erzählt ihr davon, dass Bernadette eine reiche Erbin war, das Haus und noch mehr geerbt hatte und niemals fortziehen wollte. Schließlich rückt er damit heraus, dass Bernadette nach einem heftigen Streit mit ihm über ihre scheinheilige Nichte, die ihr viel Geld abknöpfte, einen Schlaganfall erlitt. Er wählte nicht sofort den Notruf, weil er dies nicht begriff. Nun hat er Gewissensbisse und weiß nicht, wie er mit seiner Schuld umgehen soll.

Aber Wolfram hat Karla nicht eingeladen, damit sie ihm eine Strafe auferlegt oder die Absolution erteilt. Er bittet sie lediglich darum, dass sie ihn direkt neben seiner Frau begraben lässt, Kosten und Pflege für das Grab übernimmt und auf dem Grab die Inschrift Dein Feind ist nah! verewigen lässt. Dafür will er ihr ein Viertel des Geldes vermachen, das der Verkauf seiner Villa nach seinem Tod erbringt. Den Rest erbt ein Heidelberger Hospiz. Karla willigt ein, erleichtert, dass sie weiter nichts tun soll. Eine rabenschwarze Mordgeschichte beginnt.

Ingrid Noll erzählt aus der Perspektive ihrer Hauptfigur, der berenteten Bibliotheksangestellten Karla Pinter, eine Geschichte, die ebenso mordlüstern wie witzig daherkommt und den Leser von der ersten bis zur letzten Seite dermaßen fesselt, dass er das Buch kaum aus der Hand zu legen vermag.

Dabei beschreibt sie sehr genau die seelischen Abgründe der agierenden Personen, die mit dem Besitz von großen Reichtümern geködert über Leichen gehen. Psychologisch ist der Autorin hier ein absolutes Meisterstück gelungen, da das Ganze eben nicht nur einfach trocken beschrieben wird, sondern auch immer wieder ein leichtes Augenzwinkern die bösen Taten der Figuren begleitet. Die Charaktere sind sehr genau gezeichnet, und ihre psychischen Eigenheiten dabei sehr gut herausgearbeitet. Man kann insbesondere bei den älteren Figuren merken, dass die Erzählerin selbst über eine ganze Menge Lebenserfahrung verfügt, die sie diesen Personen angedeihen lässt.

Wie dem immer so ist, eine Tat ergibt die andere, sodass am Ende mehrere Morde geschehen sind und damit der blutige Reigen noch immer nicht beendet zu sein scheint. Bis zum Schluss kommt dabei keine Langeweile auf, und auch die Sprachkunst der Verfasserin hat hohes Niveau.

Zuletzt wird sogar eine langjährige Freundschaft Opfer der Gier nach viel Geld, die diesen Roman bestimmt, und statt dieser Freundschaft entsteht die Frage, welcher der beiden Charaktere überleben wird.

Dennoch hat man bei dieser Geschichte als Leser nie den Eindruck, es werde einem zu viel zugemutet, da sie – wie bereits gesagt – mit viel Heiterkeit verfasst wurde.

Fazit:
Ingrid Noll ist mit Hab und Gier ein herausragender Kriminalroman gelungen, der von wunderbarem schwarzem Humor getragen wird. Die Geschichte gehört zu den besten Storys dieses Genres, die ich je gelesen habe. Auch die Sprache der Autorin wird höchsten Ansprüchen gerecht und rundet ein insgesamt äußerst gelungenes Projekt ab.

Ich möchte den Roman allen Lesern empfehlen, die Wert auf gepflegte, intelligente und witzige Krimis legen und sich außerdem gerne von einer Geschichte fesseln lassen.

Die Autorin:

Ingrid Noll wurde 1935 in Schanghai geboren und studierte Germanistik und Kunstgeschichte in Bonn, um Lehrerin zu werden. 1959 heiratete sie den Arzt Peter Gullatz. Sie hat drei erwachsene Kinder und mehrere Enkelkinder.

Die Autorin begann, Kriminalromane zu schreiben, als ihre Kinder das Haus verlassen hatten und erzielte damit großen Erfolg. Ihre Krimis wurden zu Bestsellern. 1994 erhielt sie den Friedrich-Glauser-Preis für Die Häupter meiner Lieben und 2005 den Friedrich-Glauser-Ehrenpreis der Autoren für ihr Gesamtwerk. Ihre Bücher wurden in 27 Sprachen übersetzt.

Quellen:

  • Ingrid Noll, Hab und Gier, Diogenes Taschenbuch, Zürich, 2015.
  • de.wikipedia.org
  • www.diogenes.ch

Bilder:

  • Cover des Romans. Mit freundlicher Genehmigung des Diogenes Verlags
  • Foto der Autorin von Renate Barth. Copyright: Diogenes Verlag. Ebenfalls mit freundlicher Genehmigung des Diogenes Verlags.

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