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Aëlita – Teil 35

Alexej-Tolstoi-AelitaAlexej Tolstoi
Aëlita
Ein utopischer Roman

Die Flucht

Das Militärluftschiff kreiste noch eine Zeit lang über den Felsen der Heiligen Schwelle, flog dann in der Richtung auf Azora davon und ging irgendwo nieder. Erst da konnten Icha und Gussew hinabsteigen. Auf dem niedergetretenen Moos des Plateaus erblickten sie Losj. Er lag nahe dem Eingang zur Höhle, mit dem Gesicht am Boden, in einer Blutlache.

Gussew hob ihn hoch, nahm ihn auf die Arme – Losj atmete nicht, seine Augen waren fest geschlossen, auf der Brust und am Kopf klebte geronnenes Blut. Aëlita war nirgends zu sehen. Icha jammerte laut, während sie in der kleinen Höhle Aëlitas Sachen zusammensuchte. Es fehlte nur der Mantel mit der Kapuze – wahrscheinlich hatte man sie, ob tot oder lebendig, in den Mantel gewickelt und auf dem Luftschiff fortgebracht. Icha band das, was von der »aus dem Licht der Sterne Geborenen« übrig war, in ein Bündelchen, Gussew warf sich Losj über die Schulter. So gingen sie zurück über die Brücken – unter sich im Dunkel den brodelnden See – über die schmalen Felsenstiegen an den Wänden des nebligen Abgrunds. Auf diesem Weg war einstmals der Magazitl zurückgekehrt, und an seinem Stab trug er die an dem Gespinst festgebundene gestreifte Schürze eines Mädchens der Aolen – als die Kunde von Frieden und Leben.

Oben angelangt zog Gussew das Boot aus der Grotte und setzte Losj, den sie in ein Laken gewickelt hatten, hinein. Dann zog er den Gürtelriemen fester, schob sich den Helm tiefer in die Stirn und sagte entschlossen: »Lebend sollen sie mich nicht in die Hände kriegen. Aber wenn ich erst auf der Erde bin … Wir kommen wieder hierher …« (Es folgten drei unverständliche Worte.) Er stieg in das Boot, ordnete die Steuerführung. »Und ihr, meine Lieben, geht nach Hause oder sonst wohin. Behaltet mich in gutem Angedenken.« Er beugte sich über die Bordwand und verabschiedete sich von dem Piloten und Icha durch einen Händedruck.

»Dich will ich nicht mit mir nehmen, Ichoschka, denn ich fliege in den sicheren Tod. Ich danke dir für alles Gute, meine Liebe. Wir Söhne des Himmels pflegen so etwas nie zu vergessen – so ist das. Leb wohl.«

Er blickte mit eingekniffenen Augen zur Sonne hinauf, nickte den beiden mit einer Kinnbewegung zu und schwang sich in die blaue Luft. Lange schauten Icha und der Knabe in dem grauen Pelz dem davonfliegenden Sohn des Himmels nach. Sie merkten dabei nicht, wie von Süden her hinter den verkarsteten Felsen ein geflügelter Punkt aufstieg und seinen Flug kreuzte. Als Gussew in den Lichtströmen der Sonne untergetaucht war, warf sich Icha in einer solchen Verzweiflung auf die moosbewachsenen Steine, dass der Knabe erschrak. Er fragte sich, ob sie nicht auch den traurigen Tuma verlassen habe.

»Icha, Icha«, rief er immer wieder mit kläglicher Stimme, »sub wcho tua merra tua murra …« Gussew hatte das Militärluftschiff, das ihm den Weg abschneiden wollte, nicht gleich bemerkt. Er kontrollierte seinen Flug nach der Karte, blickte von Zeit zu Zeit hinunter auf die entschwebenden Felsen von Lysiasira und hielt seinen Kurs gen Osten, zu den Kaktusfeldern, wo sie den Apparat zurückgelassen hatten.

Hinter ihm im Boot saß zurückgelehnt der Körper seines Gefährten. Die Zipfel des an seinem Leib klebenden Lakens flatterten im Wind. Losj saß unbeweglich wie ein Schlafender, an ihm war nichts von der abstoßenden Hässlichkeit eines Leichnams. Gussew fühlte erst jetzt, wie teuer ihm dieser Mann war.

Das Unglück hatte sich folgendermaßen zugetragen: Gussew, Ichoschka und der Pilot hatten gerade in der Felsengrotte bei dem Boot gesessen und gelacht. Plötzlich ertönten unten Schüsse. Danach ein Aufschrei. Und eine Minute später stieg aus der Schlucht, gleich einem Geier, das Militärluftschiff auf, das den gefühllosen Körper Losjs auf dem Felsplateau zurückgelassen hatte. Es kreiste noch eine Weile ausspähend über dem Gebirge.

Gussew spuckte über Bord, dermaßen war ihm nun der Mars zuwider. Jetzt nur den Apparat erreichen und Losj einen Schluck Schnaps einflößen. Er berührte den Körper, er war kaum merklich warm. Seit Gussew ihn auf dem Plateau hochgehoben hatte, war noch keine Erstarrung eingetreten. ›Gott geb es und er kommt wieder zu sich.‹ Gussew hatte an sich selber die schwache Wirkung der marsianischen Kugeln erfahren. ›Aber die Ohnmacht dauert bereits allzu lange.‹ Besorgt wandte er sich nach der Sonne um, die sich dem Untergang zuneigte, und da erblickte er das aus der Höhe herabstoßende Luftschiff.

Um einer Begegnung auszuweichen, drehte Gussew das Steuer und nahm Kurs nach Norden. Aber auch das Luftschiff änderte seine Richtung. Von Zeit zu Zeit erschienen die gelblichen Rauchwölkchen von Gewehrschüssen. Da begann Gussew, das Boot hochsteigen zu lassen. Er rechnete damit, die Geschwindigkeit beim Abstieg verdoppeln zu können und so dem Verfolger zu entgehen.

Der eisige Wind pfiff in den Ohren. Tränen verdunkelten die Augen und gefroren an den Wimpern. Eine Schar widerwärtiger, unbeholfen mit den Flügeln schlagender Ichi versuchte, sich auf das Boot zu stürzen, verfehlte jedoch ihr Ziel und blieb zurück. Gussew hatte schon längst die Richtung verloren. Er fühlte sein Blut in den Schläfen pochen, die stark verdünnte Luft peitschte eisig gegen sein Gesicht. Nun ging Gussew in voller Fahrt abwärts. Das Luftschiff blieb zurück und verschwand hinter dem Horizont.

Unter ihm dehnte sich jetzt, soweit das Auge reichte, eine kupferrote Wüste. Ringsum kein Bäumchen, kein lebendes Wesen. Einzig und allein der Schatten des Bootes flog über die flachen Hügel, über die gewellte Oberfläche des Sandes, über die Risse des steinigen, wie Glas aufglitzernden Bodens. Hier und da warfen die Ruinen ehemaliger Wohnstätten einen traurigen Schatten. Und überall war diese Wüstenei durchfurcht von den Betten der ausgetrockneten Kanäle.

Die Sonne senkte sich immer tiefer, dem gleichmäßigen Rand der Sandfelder zu, schon breitete sich das melancholische kupferne Rot des Sonnenuntergangs aus, und Gussew sah unter sich nichts als wellige Sandflächen, Hügel und die zu Staub zerfallenen Ruinen des sterbenden Tuma.

Die Nacht brach schnell herein. Gussew ging nieder und landete auf einer sandigen Ebene. Er stieg aus dem Boot, nahm das Laken von Losjs Gesicht und hob seine Augenlider, presste das Ohr an sein Herz – Losj saß da, weder tot noch lebendig. An seinem Finger bemerkte Gussew ein an einem Kettchen hängendes winziges Flakon, das geöffnet war.

»Ach, diese Einöde«, sagte Gussew und entfernte sich ein Stück vom Boot. Eisige Sterne entzündeten sich an dem unermesslich hohen schwarzen Himmel. Bei ihrem Schein erschien der Sand grau. Es war so still, dass Gussew das Rieseln des Sandes in der tiefen Spur seiner Füße hören konnte.

Der Durst quälte, die Schwermut übermannte ihn.

»Ach, diese Einöde!« Gussew kehrte zum Boot zurück und setzte sich ans Steuer. Wohin fliegen? Der Stand der Gestirne war absonderlich und ihm völlig fremd.

Gussew schaltete den Motor ein, doch die Luftschraube blieb wieder stehen, nachdem sie sich ein paar Mal träge gedreht hatte. Der Motor arbeitete nicht. Die Hülse mit dem explodierenden Treibpulver war leer.

»Na, schon gut«, sagte Gussew mit halblauter Stimme. Er stieg wieder aus dem Boot, steckte sich den Knüppel hinten in den Gürtel, hob Losj heraus. »Gehen wir, Mstislaw Sergejewitsch.« Er legte ihn sich über die Schulter und machte sich auf den Weg, bis an die Knöchel in dem sandigen Boden versinkend. Er ging lange. Als er an einen Hügel kam, legte er Losj auf die halb verwehten Stufen einer Treppe, warf einen Blick auf die einsam im Sternenschein auf dem Gipfel des Hügels stehende Säule und legte sich in den Sand, mit dem Gesicht nach unten. Eine tödliche Ermattung rauschte in seinem Blut.

Er wusste nicht, wie lange er so ohne Bewegung dagelegen hatte. Der Sand kühlte seinen Körper aus, das Blut begann zu stocken. Da setzte sich Gussew auf, verzagt hob er den Kopf. In geringer Höhe über der Wüste stand ein rötlicher, düsterer Stern am Himmel. Er war wie das Auge eines großen Vogels. Gussew schaute auf ihn und riss den Mund auf.

»Die Erde.« Mit einem Ruck nahm er Losj auf die Arme und rannte los, auf den Stern zu. Er wusste jetzt, in welcher Richtung er zu gehen hatte, um den Apparat zu finden.

Mit pfeifendem Atem, schweißtriefend, setzte Gussew in riesigen Sprüngen auf seinem Wege über die Gräben, aufschreiend vor Zorn und über Steine stolpernd. Er lief und lief – vor den Augen nichts als den nahen dunklen Horizont der Wüste. Ein paar Mal legte er sich mit dem Gesicht auf den kalten Sand, nur um wenigstens mit der feuchten Ausdünstung des Bodens die ausgedörrten Lippen zu erfrischen. Dann nahm er den Gefährten wieder hoch und schritt von Neuem weiter, immer wieder aufblickend zu den rötlichen Strahlen der Erde. Sein Schatten bewegte sich einsam durch den Weltenfriedhof.

Als scharfe Sichel ging die abnehmende Olla auf. Gegen Mitternacht erschien auch der runde Mond Litcha – sein Schein war sanft und silbern, doppelte Schatten legten sich jetzt über den gewellten Sand. Die beiden merkwürdigen Monde zogen über das Firmament – der eine aufsteigend, der andere in der Abnahme begriffen. In ihrem Licht verblasste der Talzetl. Weit in der Ferne erhoben sich die eisigen Gipfel von Lysiasira.

Die Wüste endete nun. Es war kurz vor der Morgendämmerung. Gussew war bei den Kaktusfeldern angelangt. Mit einem Fußtritt warf er eine der Pflanzen um und sättigte sich gierig an ihren bebenden fleischigwässrigen Blättern. Die Sterne verloschen. An dem lilafarbenen Himmel traten rosige Wolkenränder hervor. Und da vernahm Gussew ganz deutlich in der Stille des Morgens ein monotones metallisches Klopfen, etwa wie das Aufschlagen von eisernen Walzen.

Gussew begriff sehr bald, was das zu bedeuten hatte. Über das Kaktusdickicht ragten die drei gitterförmigen Masten seines Verfolgers, des Militärluftschiffes. Die Aufschläge kamen von dort her. Die Marsianer waren dabei, den Apparat zu zerstören.

Gussew rannte, gedeckt von den Kaktusgewächsen, weiter und erblickte zugleich das Luftschiff und daneben den riesigen verrosteten Buckel des Flugapparats. Zwei Dutzend Marsianer schlugen mit großen Hämmern auf seine genietete Außenhülle ein. Offenbar hatten sie eben erst mit ihrer Arbeit begonnen. Gussew legte Losj in den Sand und zog seinen Knüppel aus dem Gürtel.

»Ich werde euch, ihr Hundsfötter!«, schrie er kreischend mit sich überschlagender Stimme und sprang hinter den Kaktusbüschen hervor. Er lief auf das Luftschiff zu und zerschmetterte mit einem Hieb des Knüppels einen der metallenen Flügel, schlug einen Mast um und trommelte gegen die Bordwand, als wäre sie ein Fass. Aus dem Inneren des Luftschiffes sprangen Soldaten heraus. Sie warfen ihre Waffen weg, kollerten wie Erbsen vom Deck herunter und zerstreuten sich fliehend nach allen Seiten. Im Nu war das ganze Feld leer, so groß war das Entsetzen vor dem allgegenwärtigen, unverwundbaren Sohn des Himmels, dem auch der Tod nichts anhaben konnte.

Gussew schraubte die Luke auf und schleppte Losj hinein. Beide Söhne des Himmels verschwanden im Inneren des Eies.

Die Lukentür schlug zu. Und da erblickten die Marsianer, die sich im Kaktusdickicht verborgen hatten, ein ungewöhnliches und erschütterndes Schauspiel.

Das riesige, mit Rost bedeckte Ei, groß wie ein Haus, begann zu dröhnen, unter ihm erhoben sich braune Wolken von Staub und Rauch. Der Tuma erzitterte bei diesen furchtbaren Schlägen. Mit Geheul und Donnergetöse bewegte sich das gigantische Ei hüpfend über das Kaktusfeld. Dann hing es in Staubwolken über dem Boden und schoss gleich darauf wie ein Meteor in den Himmel hinein, die grimmigen Magazitl mit sich nehmend, fort in ihre Heimat.