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Die Tauscher 24

die-tauscherDr. Uwe Krause
Die Tauscher Teil 24

»Das werde ich, mein Herr.«

Florian hängte den Hörer ein und machte den Fehler, tief Luft zu holen. Danach war ihm schlecht und er konnte nur noch die Falttür aufreißen und nach draußen stürmen, wo ihm die abgasschwere Straßenluft wie Nektar vorkam.

Hammerstain schritt schnell die Straße entlang. Er fühlte sich so wohl wie seit Jahren nicht und das absurderweise deshalb, weil er genau dieses Wohlgefühl mitsamt dem ganzen Hammerstain soeben aufs Spiel gesetzt hatte. Er hatte aufs Gras geschlagen, um die Schlangen zu erschrecken – das war irgendein asiatisches Sprichwort, das ihm in den Sinn kam. Er kaufte in einem Tabakgeschäft ein Zigarettenetui. Ein billiges Ding, ziemlich hässlich, dafür aber enorm dick. Dann machte er sich auf die Suche nach einem Eisenwarenladen. Der Verkäufer schaute verdutzt, als Hammerstain seinen Wunsch äußerte, schnitt dann aber doch einige Lagen Stahlblech auf einer Spezialmaschine hinten im Laden. Hammerstain prüfte, ob die Zuschnitte in das Etui passten, und verließ das Geschäft. Zuerst trug er das Etui in der Sakkotasche, aber dadurch wurde die Seite nach unten gezogen. Die Prüfung in der Spiegelung eines Schaufensters zeigte ein unbefriedigendes Bild, aber glücklicherweise fiel ihm die Brusttasche seines Hemdes ein. Normalerweise trug Hammerstain keine Hemden mit Brusttaschen, er hielt das für vulgär oder unnötig. Heute hatte er eines dieser raren Exemplare aus seinem Kleiderschrank gezogen und nutzte die Möglichkeit, das Etui dort unterzubringen.

Hammerstain schlenderte den Gehsteig entlang. Er wirkte wie ein Flaneur, ein müßiger Spaziergänger, der in dem stets gehetzten Strom der anderen Passanten wie ein Fremdkörper und manchmal wie ein Hindernis wirkte. Immer wieder wurde er angerempelt oder musste ausweichen, wenn eine hoch beladene Karre über den Gehsteig in ein Geschäft gezerrt wurde.

Florian dachte nicht nach. Er ließ sich einfach von seinem Gefühl leiten, willenlos und träge, wie jemand, der nachts in der Dunkelheit in das Badezimmer schlurft und in der Schwärze jeden Handgriff genau ans Ziel bringt.

Hammerstain betrat einen kleinen Platz, der von hohen Mietshäusern umringt wurde und wie ein Knochen wirkte, auf den sich im nächsten Moment die riesigen Köter stürzen würden. Zwei Platanen mühten sich, ihre dürren Zweige ins Licht zu recken. Kinder spielten auf einem Sandhaufen, den Bauarbeiter auf den Gehweg vor einem der Häuser gekippt hatten. An einer Platane lehnte ein Mann, vor sich einen kleinen Ständer mit Zeitschriften. Hammerstain trat zu ihm und studierte das Angebot. Es waren Titel wie ´Populäre Alchemie`, ´Rosenkreuzer-Astronomie` und ´Nachrichten des Vereins zur Moralisierung des öffentlichen Lebens`.

Der Mann lehnte dösend am Stamm, die Schirmmütze verdeckte zur Hälfte sein Gesicht. Er trug einen Anzug, der die Grenze zur Schäbigkeit weit hinter sich gelassen hatte. Knie und Ellbogen glänzten wie poliert, die Jacke hatte mehrere verschiedene Knöpfe, die mit unpassender Garnfarbe angenäht worden war.

Hammerstain ließ sich Zeit, dann sagte er: »Die wirklich interessanten Zeitschriften hast du immer noch in deinem Speziallager im Flur nebenan.«

Der Kopf des Mannes zuckte hoch. Zwischen den tiefen Falten, den Pickeln und Flecken, die die Haut bedeckten, blieb noch Platz für ungläubiges Staunen.

»Silwester Hammerstain«, stammelte der Mann, als müsste er irgendeine Fremdsprache von der Tafel ablesen.

»Scheint so«, sagte Florian, »und du brauchst dich nicht so sehr zu freuen.«

Der andere rieb sich verlegen über das Gesicht. Seine schwieligen Finger gaben an den Kinnstoppeln ein kratzendes Geräusch.

»Ist eine Weile her«, sagte er, »ich hab manchmal was von dir gehört, aber du hast dich nicht gemeldet. Fand ich ziemlich mies.«

»Unvorhergesehene Umstände«, sagte Hammerstain und trat näher an den Mann heran. Er befand sich schon eindeutig in der Komfortzone des anderen. Florian klopfte dem Mann auf die Schulter. »Duldet dein Geschäftsbetrieb eine Pause? Meine Assistentin hat ihren Geldbeutel vergessen, bevor sie endgültig verschwand. Ich kann also einen ausgeben.«

»Ich bin der Chef.« Der Mann klemmte den Zeitschriftenständer unter den Arm und ging mit Hammerstain in das nächste Haus. In dem Treppenflur lag kühle Luft, in die sich der Muff feuchter Kellerräume mischte. Kinder liefen von der Straße in den Hinterhof und kreischten mit Hingabe, sodass es im ganzen Treppenhaus widerhallte. Von weit oben antwortete eine scheltende Stimme.

Der Mann, Florian erinnerte sich inzwischen, dass er Kalle Kowacs hieß, klopfte an die Tür der Pförtnerwohnung. Eine Frau im Hauskittel und ausgetretenen Pantoffeln öffnete, aus der Tür klang das Brutzeln eines Zwiebelbratens und der passende scharfe Geruch breitete sich aus.

Kalle schluckte sichtbar. »Ich bin mal weg, wenn Sie das bitte in mein Lager tun?«

Die Frau griff knurrend den Ständer und stellte ihn neben einen Illustriertenstapel hinter sich. Bevor sie grußlos die Tür zuschmetterte, sah Florian die oberste Titelseite – ´Tabu` stand dort, ein nacktes Frauenbein und noch etwas mehr war erkennbar.

»Das Sortiment hat sich nicht geändert«, kommentierte Hammerstain sarkastisch.

»Manche Dinge bleiben«, sagte Kalle. Er warf einen Blick auf Hammerstain. »Andere ändern sich«, fügte er dann hinzu.

»Gibt es diese Kaschemme um die Ecke noch?«

»Hat schon vor drei Jahren zugemacht. Weil sich die Ratten auf dem Gehsteig vor der Tür paarten, hat das Gesundheitsamt den Laden geschlossen. Da wohnen jetzt einige ausländische Großfamilien drin.«

»Dann gehst du vor und zeigst mir den nächsten Fresspalast«, sagte Florian.

Kalle steuerte die nächste Eckkneipe an. Als er sah, dass ein Mann in fleckiger Schürze aus der Tür trat und die Tafel mit der Aufschrift Heute Haxe mit Kraut hereinholte, wurde Kalle hektisch. »Ich bin doch eingeladen, was?«, stieß er hervor, und als Hammerstain nickte, setzte Kalle zu einem komischen Spurt an und wedelte schon von Weitem dem Mann zu.

Hammerstain betrat den Schankraum, als Kalle schon an seinem Tisch saß und etwas nervös zur Tür peilte. Als er Hammerstain sah, ging ein erleichtertes Grinsen über sein Faltengesicht.

»Hab uns die letzten beiden Portionen gesichert«, erklärte er stolz, »die waren eigentlich fürs Personal.«

Florian schielte zu einem der Teller, der noch auf einem Nebentisch stand. In einer fettigen Brühe schwammen irgendwelche unidentifizierbaren Fleischreste und beides wurde gerade von einer aufgetakelten, allzu blonden Frau mit Brotstücken aufgesogen und verschwand genussvoll im knallrot überschminkten Mund.

»Ich nehme nur ein Wasser«, erklärte Florian, »mein Magen braucht Schonung.«

»Mal wieder vermöbelt worden?«

Kalle schaute mit gerecktem Hals zur Küchentür hinter der Theke. Der Wirt stampfte heran und knallte die gefüllten Teller auf den Tisch.

Kalle band sich das Tischtuch des freien Nebentisches um den Hals. »Ich fange dann mal an.«

»Lass es dir schmecken«, sagte Florian.

Kalle aß mit der Gier und der Begeisterung eines Mannes, der jahrelang von Pappmaschee leben musste. Florian schaute ihm zu, wie er Riesenportionen auf der Gabel balancierte, kaute, dass sein Gesicht bis zum Haaransatz in Bewegung geriet und zugleich den Nachschub zurechtlegte. Sein Teller war in unglaublich kurzer Zeit sauber wie frisch gespült. Das lag auch daran, dass Kalle ihn abgeleckt hatte. Er wischte sich mit dem Tischtuch über das Gesicht und peilte zu dem anderen Teller, mit dem Rieseneisbein, dem Kartoffelbreigebirge und dem dampfenden Sauerkrauthügel.

»Falls du noch …«, setzte Florian an, da hatte sich Kalle den Teller schon gegriffen. »Wäre ja schade, wenn was umkommt«, quetschte er zwischen Kartoffeln und Kraut heraus.

Dieses Mal aß Kalle etwas langsamer, gab stöhnende Laute des Genusses von sich und lehnte sich schließlich seufzend zurück, nachdem er den Teller mit Brotresten, die er von der Blondine bekommen hatte, abgewischt hatte.

»Was zu trinken?«

»Oh, eine Weiße wäre nicht schlecht, aber ich will ja nicht …«

Florian winkte dem Wirt.

»Wie lange haben wir uns nicht gesehen?«, fragte er dann.

Kalle trank seine Riesenschale mit einem Zug halb leer und überlegte dann.

»Paar Jahre. Könnten fünf sein. Ja, ich glaube, es waren fünf Jahre. Du warst im Ausland und dann wieder zurück. Hab dich ein paar Mal noch so gesehen, aber du kanntest keinen mehr. Und dann hab ich nur noch einige Male von dir gehört, wenn du randaliert hast und irgendwo rausgeschmissen worden bist.«

»War eine harte Zeit«, sagte Hammerstain, mehr zu sich selbst.

Kalle schob seine fleckige Hand über den Tisch und legte sie auf Hammerstains Arm. Es war eine freundschaftliche Geste, seltsam, unerwartet und dennoch willkommen.

»Ist ja gut, dass du dich trotzdem an wen erinnerst.«

»Reiner Egoismus«, sagte Florian.

»Wegen meiner Schmuddelhefte bist du jedenfalls nicht gekommen«, stellte Kalle fest, um dann resigniert zu ergänzen: »Verkaufen sich eh immer schlechter. Was braucht einer Schundzeitschriften, wenn er es alles in den normalen Illustrierten zu sehen bekommt? Und in den Revuen, da lassen die Tussis ja auch alles fallen, für ´n kleinen Schein darfst du sogar anfassen. Und dann tauchen auch noch die Beschützer auf und kassieren die Hälfte deiner Einnahmen. Die Typen werden immer dreister. Und jetzt, wo alles drunter und drüber geht, tauchen sie aus allen Richtungen auf und du hast am Ende gar nichts mehr.«

»Drunter und drüber ist ein Stichwort«, sagte Hammerstain. »Du hast doch noch immer deinen Bekanntenkreis?«

»Das ist so ziemlich alles, was ich habe. Suchst du jemanden?«

»Ich brauche ein paar fixe Jungs mit Feuerzeugen.«

Kalle schaute ihn verblüfft an. »Und wann?«, erkundigte er sich dann.

»Ich würde sagen, du lässt heute die Liebhaber von Schmuddelheftchen schmoren und wir ziehen gleich los. Mir bleibt nicht viel Zeit.«

Kalle zuckte die Schultern. »Wer bezahlt, der bestellt auch. Kriege ich vielleicht noch eine Zigarre?«

In den nächsten zwei Stunden folgte Hammerstain dem wie ein Schlot qualmenden Kalle durch die Straßen und Häuser des Stadtviertels. Am Schluss standen da acht oder neun Männer jeden Alters. Sie wirkten, als gehörten sie zu einer Familie oder als wären sie aus einer einzigen Form geschlüpft. Alle waren hager und sehnig, alle hatten flinke, unruhige Augen, einen bitteren Zug um den Mund und die schläfrige Gelassenheit von Männern, die wissen, wie es läuft.

Hammerstain stand ihnen gegenüber. Seine Geldbörse hatte er in die Hosentasche gesteckt und behielt die Hand in der Tasche. Einige der Typen, die ihm gegenüberstanden, waren gewiefte Taschendiebe. Und genau diese Geschicklichkeit brauchte Hammerstain jetzt.

»Du kannst deine Flossen von deiner Börse nehmen«, sagte nun der eine, »wir haben Ganovenehre, wir beklauen den Chef nicht.«

»Gut zu wissen. Aber ich finde diese Haltung lässig«, entgegnete Hammerstain grinsend. Dann wurde er ernst. »Ich will nicht, dass jemand verletzt wird.«

Die Männer reagierten mit einem Glucksen. »Diese Typen haben zurzeit die Überlebensdauer von Sahneeis in der Sommersonne.«

»Trotzdem.«

»Könnte schwierig werden mit dem Lastwagen«, warf einer ein.

»Alles eine Frage des Zeitpunkts«, mischte sich Kalle ein, »ich habe das im Blick.«

Hammerstain verteilte die Anzahlungen. »Den Rest gibt es später«, sagte er.

Die Gruppe verteilte sich auf drei Taxis und fuhr in Richtung auf die Innenstadt. Unterwegs stiegen einige Männer aus und eilten in Geschäfte.

Florian schaute durch die Frontscheibe auf die Hochhäuser des Stadtzentrums, die über den Hausdächern immer näher rückten. Neben ihm saß Kalle und brummelte eine Melodie vor sich hin. Als sie einen Tankwagen überholten, klopfte Kalle seinem Nebenmann, einem Jungen mit einem guten Schuss farbigen Blutes, auf die Schenkel. Der wartete, bis das Taxi langsamer fuhr, und glitt dann nach draußen.

»Alles gute Jungs«, sagte Kalle.

»Was anderes könnte ich auch nicht gebrauchen.«

»Aber du bezahlst auch gut.«

»Das tue ich«, bestätigte Florian, »und wenn ihr wirklich gut seid, lege ich einen Bonus drauf.«

Kalle knurrte und wechselte die Melodie. Jetzt war es irgendetwas Munteres aus einer Operette.

Florian hatte an diesem Morgen einen Schrank zur Seite gewuchtet, einen Ziegel aus der Wand gezogen und dahinter ein Bündel mit Geldscheinen entdeckt. Er kannte dieses Versteck so gewiss, wie er seinen Namen wusste. Allerdings verstand er nicht, wieso er diese opulente Reserve nicht schon längst genutzt hatte, um beispielsweise seine quengelnde Assistentin zu bezahlen. Bei dem Gedanken an Sara Levinsohn bekam Hammerstain einen bitteren Geschmack in den Mund. Aber das war jetzt nicht das Thema.

Er holte tief Luft und ließ das Taxi anhalten.

Zusammen mit Kalle ging er den Rest des Weges zu Fuß. An einer Kreuzung blieben sie stehen und betrachteten das Gebäude, das sich vor ihnen in den Himmel erhob. Es war ein marmorverkleideter Turm, der ein wenig wie die frei stehende Stütze einer gigantischen gotischen Kathedrale wirkte. Die Fassade wurde durch senkrechte Mauerstreifen gegliedert, die Fenster wirkten wie senkrechte Lichtbänder und oben verjüngte sich der wuchtige und dennoch elegante und schlanke Block zu einer stufigen Pyramide, auf deren Spitze der Ankerplatz für Luftschiffe ruhte.

Das war das Gebäude, das sich Alfred Simon Zucker hatte errichten lassen und daher wurde es allgemein als das Zuckerhaus bezeichnet.

Das Hauptportal öffnete sich über vier Stockwerke und wirkte wie eine Mischung aus Märchenschloss und Hochzeitstorte. Einige Stufen führten von der Straße nach oben. Es herrschte ein ständiges Kommen und Gehen – flitzende Büroboten, Paketträger, junge Frauen, denen man die Sekretärin auf zwei Kilometer ansah, Durchschnittsangestellte in passabel sitzenden Anzügen oder modischen Kleidern aus der Warenhauskonfektion, stets mit Aktenkoffer bewaffnet und Handwerker in ihrer Arbeitskleidung. Und dann gab es die anderen Gestalten, überelegant gekleidet, die müßig herumstanden, aber unter der Hutkrempe hervor alles im Blick hatten. Wenn man genau hinschaute, entdeckte man immer mehr von dieser Sorte. Sie wechselten untereinander die Position, gingen vom Eingang zu den zwei Reihen parkender Autos und schienen sich dort in wartende Chauffeure zu verwandeln, schlenderten von dort auf den Bürgersteig und schienen Zeitung zu lesen und landeten schließlich wieder unter dem Eingang.

Ihr Wachwechsel war genau abgesprochen und synchronisiert, er wirkte normal, sogar souverän. Aber Hammerstain witterte die Nervosität, die hinter jeder Bewegung der Wachen steckte. Als wären sie aus einer Karikatur entsprungen, trugen einige sogar ständig ein Köfferchen mit sich, in dem sicherlich keine Geige untergebracht war.

Dies hier war so etwas wie das Hauptquartier der Zucker-Nachfolger. Die Burg, die bisher noch niemals angegriffen worden war. Aber der Angriff würde kommen, damit rechneten alle. Es sei denn, sie selbst waren schneller und zerschmetterten die Konkurrenz. Und sie konnten sich gegenseitig nicht trauen. Sie behielten nicht nur die Umgebung und die Passanten im Auge, sondern auch die anderen Wachen.

Kalle schaute auf die Normaluhr auf der anderen Straßenseite.

»Dann wollen wir mal«, murmelte er. Aus einem Werkzeugkasten holte er einen grauen Kittel. Er wartete, bis wieder ein Lieferwagen mit der Aufschrift eines Handwerksbetriebs in der dritten Reihe parkte. Kalle hetzte mit seinem komischen, mädchenhaft schlenkernden Lauf zwischen den Autos über die Straße. Kurz hinter den anderen Handwerkern – als wäre er derjenige, der den Wagen abzuschließen hatte – betrat Kalle das Gebäude.

Hammerstain schlenderte ein Stück zur Seite und vertiefte sich in die Auslagen eines Modegeschäftes. Im Spiegel des Fensters sah er eine Gestalt, die vom Gehsteig zwischen die parkenden Wagen huschte und verschwand. Eine Minute später stieg ein dünner Rauchfaden aus einem Wagen und kurz danach waren Flammen zu sehen. Jemand schrie eine Warnung, dann gab es einen kurzen Knall, das Schaufenster zitterte, als der Wagen explodierte.

Hammerstain rannte über die Straße. Während er noch lief, brannte der nächste Wagen und explodierte, die Wucht riss die schwere Limousine in die Luft und schleuderte sie auf die Dächer der benachbarten Wagen.

Vor dem Gebäude brach das Chaos aus. Menschen liefen schreiend davon, es fielen Schüsse, aber der Schütze hatte in die Luft gezielt. Brennende Wagen rollten aus der Parkspur und blockierten die Fahrbahn. Die Autos auf der Straße wichen hektisch aus, Hupen tönten, auch auf der anderen Seite blockierte eine qualmende Karosserie die Fahrbahn. Die Fläche vor dem Gebäude war mit einem Schlag leer, eine absurde Insel der Einsamkeit in einem Meer der Hysterie.

Von hinten erklang Hupen. Hammerstain blickte in die Richtung, aus der nun ein Tanklastwagen mit Anhänger angerast kam. Der Fahrer riss die Tür auf, sprang ab, rollte über den Asphalt, raffte sich auf, brüllte mit den Armen wedelnd eine Warnung und war plötzlich in einer Seitenstraße verschwunden. Der Tankwagen fuhr weiter, langsamer werdend, aber immer noch mit ausreichender Wucht, um den ersten querstehenden Wagen zu rammen und ein Stück unter der Motorhaube mitzuschleifen. Es sah aus, als hätte ein Krokodil einen in Flammen stehenden Fisch im Maul. Die brennende Limousine kam frei, geriet zwischen Deichsel und Anhänger. Der Anhänger stieg hoch und stürzte um. Zwei oder drei Meter wurde das Metall kreischend über die Straße geschleift, dann kam alles zum Stillstand. Hammerstain beobachtete, wie aus einem Leck ein Strahl Benzin, wie ein Springbrunnen, quoll. Es war eine Sekunde, die sich in eine Ewigkeit zu dehnen schien. Dann blitzte ein Funken und im nächsten Moment blühte eine feurige Explosionswolke auf, stieg zwischen den Fassaden höher und höher und verging in schwarzem Rauch.

Wasser pladderte auf die Straße. Es war kein Regen. Das Luftschiff, das am Turm ankerte, hatte zur Notabfahrt die Ballasttanks geleert. Der riesige Aluminiumrumpf stieg mit dem Bug auf, Motoren sprangen an, das Luftschiff trieb mit dem Wind zur Seite.

Aus dem Gebäude klang das Scheppern einer Alarmglocke. Hammerstain drückte sich an die Wand. Aus dem Vorder- und Hintereingang stürmten die Menschen, rannten kopflos an der Straße entlang, die zu einer Flammenfläche geworden war, die nun weitere Wagen in Brand setzte.

Hammerstain atmete tief ein und setzte sich in Bewegung, gegen den Strom der Fliehenden. Er umrundete das Gebäude, erreichte eine schmale Gasse, die zum Lieferanteneingang führte. Die enge Durchfahrt war von quer abgestellten Wagen blockiert, bei manchen ratterten die Motoren noch immer im Leerlauf. Hammerstain kam an die Laderampe und setzte zum Sprung an. Er blieb hängen, fiel hin und rappelte sich schimpfend wieder auf. Peinlich, aber immerhin ohne Zeugen.

Die eisernen Rolltore waren automatisch geschlossen worden, aber an der Seite war eine niedrigere Eisentür. Sie war unverschlossen, so wie es die Feuervorschriften der Stadt Groß-Berlin verlangten. Zucker war ein gesetzestreuer Bürger gewesen. Zumindest in dieser Hinsicht.

Hammerstain drückte die Tür auf. Die Alarmglocke füllte das gesamte Gebäude mir ihrem höllischen Lärm, als wollte sie die Menschen alleine durch ihre Schwingungen nach draußen spülen.

Es gab Mauern, die in keinem Plan verzeichnet gewesen waren. Nicht gut. Hammerstain suchte sich seinen Weg, dort war ein rotes Blinklicht, das einen Durchgang bezeichnete.

Jetzt war er in der Eingangshalle. Sie war menschenleer, Papiere, Koffer und Hüte lagen auf dem Boden, durch die Fenster konnte er die züngelnden Flammen sehen. Ein weiteres Auto explodierte, hier drinnen gab es nur ein fernes Beben. Alle Aufzüge waren nach unten gefahren, die Türen standen offen und waren blockiert.

Hammerstain zögerte. Wegen dieser elenden, nicht eingezeichneten Mauern war er auf der falschen Seite der Eingangshalle gelandet.

Er musste es riskieren. Eine Sekunde Konzentration, dann rannte er los, quer durch die Halle an den Aufzügen vorbei. Draußen vor dem Fenster war nur ein Flammeninferno, kein Mensch zu sehen, der ihn bemerken konnte. Er erreichte die Aufzugtür auf der anderen Seite. Auf Knopfdruck glitt sie zur Seite und gab den Weg in eine kleine Kabine frei. Hammerstain drückte den Knopf, im nächsten Moment schloss die Tür und er knickte in den Knien ein, weil der Aufzug wie eine Kanonenkugel hochschoss.

Zuckers Privataufzug, die Expressverbindung zwischen seinen Gemächern im obersten Stockwerk und dem Eingang. Keine Sicherungen, Zucker in seiner Überheblichkeit hatte darauf vertraut, dass immer genügend seiner Pistolenmänner da wären, um jeden ungebetenen Gast auszuschalten, bevor er überhaupt auch nur die Aufzugtür berühren konnte.

Die Fahrt dauerte nur Sekunden, in denen Hammerstain mit klopfendem Herzen abwartete und auf das metallische Gleiten lauschte, mit dem die Kabine die dreihundertundfünfzig Meter Schacht hochstieg.

Mit einem Surren hielt der Aufzug. Die Tür glitt mit einem Glockenton zur Seite. Der Kerl mit der Maschinenpistole, der ihn erwartete, war nicht da. Stille, nur von der Straße her drang Sirenenklang in die weiten Räume.

Mit einem leichten Zögern betrat Hammerstain das, was einmal Zuckers Privatbereich gewesen war. Das Tabernakel, das Heiligtum des Herrschers.

Zuckers Geschmack ließ sich auch hier nicht leugnen. Groß, golden, plüschig, protzig. Fehlten nur noch die Preisschilder. Zucker wird seinen Gästen die Preise genannt haben.

Hammerstain lief lautlos über einen Teppich, in dem er bis zu den Knöcheln einsank. Diese Umgebung stank nach Reichtum und nach Macht, die sich selbst keine Grenzen auferlegte. Es war die Hölle, aufbereitet für die Hochglanzseiten eines Lifestyle-Magazins.

Hammerstain durchquerte einige Räume. Dies musste der Salon sein. An den Wänden hingen Ölschinken in Garagentorgröße. Zucker, Zuckers Vater, Zuckers Mama. Und Noira. Viel Haut, kaum Kleidung.

Hammerstains Herz krampfte sich zusammen. Von draußen dröhnten Motoren, das Luftschiff hatte alle Propeller in Gang gesetzt und fuhr nun zum Ausweichankerplatz.

Die Terrasse, davor eine Tür. Verschlossen. Hammerstain trat sie ein. Dahinter eine Wendeltreppe. Sehr gut, genau nach Plan. Oben die privatesten Privatgemächer Zuckers, Schauplatz seiner legendären Orgien, nach denen die Stadt lechzte. Ein großer Raum, in der Mitte ein Bett in Spielfeldgröße, daneben ein runder Pool, auf dem erhöhten Ansatz an der Wand Unmengen von Kissen. Wände und Decken verspiegelt, dazwischen Alabasterreliefs sich liebender Paare in Stellungen, die auf gymnastischen Fähigkeiten beruhen mussten. Teuer, wertvoll. Und trotzdem billig. Hammerstain dachte an das Porträt von Noira, erkannte ihr Gesicht in mehreren der Reliefs und knirschte mit den Zähnen. Wieder das Gefühl zu stürzen. Endlos.

Durch eine Tür in die Kommandozentrale. Reihen von Telefonen, Fernkopierern, Telegrafen. Karteikästen, Aktenschränke und an den Wänden Stadtkarten. Hier hätte die Polizei Arbeit für ein Jahrzehnt gefunden. Aber in einem dieser Karteikästen waren die Namen von Dreivierteln der Berliner Polizei, verbunden mit der peniblen Auflistung aller gezahlten Summen. Ob auch Trauts Name darunter war? Die Vorstellung behagte Hammerstain nicht.

Im nächsten Raum der runde Tisch. Legendär, Zuckers Tafelrunde. Tisch, gepolsterte Stühle, ein Telefon, ein großer Tresor in der Ecke.

Der konnte es nicht sein. Weiter. Das kleine Büro. Schreibtisch, Sessel. Zwei Stühle für Besucher. Telefon.

Und ein Ölgemälde an der Wand. ´Bäuerinnen auf dem Kirchgang`. Zufall oder hatte Zucker so etwas wie Humor gehabt? Letzteres wohl weniger. Hammerstain riss das Bild von der Wand und legte es auf die Schreibtischplatte. Er war da, wo er sein wollte. Er atmete tief ein und lockerte die Finger. Florian schloss die Augen. Intuition.