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Der Wolfmensch – Kapitel 4

Elie Berthet
Der Wolfmensch
oder: Die Bestie des Gévaudan
Aus dem Französischen von A. Kretzschmar
Hartleben’s Verlags-Exedition. Pest, Wien und Leipzig, 1858.

Erster Teil
Kapitel IV

Der Überfall

Schon seit einer Stunde hatte der Prior von Frontenac und sein Neffe Leonce die Stadt Langogne verlassen. Abgesehen von einigen Schwierigkeiten des Weges war nichts vorgekommen, was ihre Reise gestört hätte. Allerdings hatten sie trotz unablässiger Aufmerksamkeit die vor ihnen aufgebrochenen Reiter nicht wieder zu sehen vermocht, aber sie hörten zuweilen Hörnerschall in der Ferne. Die seltenen Wanderer, welchen sie begegneten, gaben ihnen die Versicherung, dass die Jäger kaum eine Viertelmeile voraus seien.

Der Pater Bonaventura hörte daher nicht auf, sein Maultier anzutreiben und gedachte bei jeder Biegung der Straße endlich die hellfarbigen Uniformen des Barons und seiner Piqueurs zu erblicken. Leonce ahmte ihm mechanisch nach.

Dieses Antreiben äußerte aber keine große Wirkung auf die störrigen Tiere, sodass allem Anschein nach die Entfernung zwischen den beiden Reisenden und den besser berittenen Jägern, anstatt sich zu verringern, sich unaufhörlich vergrößern musste.

Nach vielen Umwegen hatte man eines jener hohen Plateaus erreicht, welche in der dortigen Gegend Causse genannt werden und die eine große unbebaute Fläche bilden, welche von noch höheren Bergen eingeschlossen ist.

Diese Ebene war unfruchtbar, kahl und ohne Grün. Nur in weiten Zwischenräumen brachten einige von den Stürmen, deren Gewalt in diesen Gegenden furchtbar ist, halb zerbrochene Kastanienbäume mit ihren gelb werdenden Blättern einige Abwechselung in die graue Gleichförmigkeit des Bodens.

Diese Hochebene endete mit einer waldigen Schlucht, in welche der Weg hineinführte. Obschon sie aber eine gute Viertelmeile lang war und der Blick hier durch nichts gehindert wurde, so war doch von den Jägern immer noch nichts zu sehen.

Übrigens jedoch bot der Weg für den Augenblick keine Schwierigkeit dar. Das ebene, freie, selbst von Strauchwerk entblößte Terrain ließ weder einen Hinterhalt noch einen plötzlichen Überfall von wilden Tieren fürchten. Überdies herrschte auch tiefe Ruhe in diesem ungeheueren Zirkus. Das Wetter war schön und die noch hoch am Horizont stehende Sonne ließ hoffen, dass man noch vor Einbruch der Nacht durch den Wald hindurchkommen würde.

Der Prior schien sich daher auch endlich mit Geduld in die Lage der Dinge zu fügen. Er hörte auf, sein Maultier anzutreiben, welches nicht durch seinen Gehorsam, sondern durch seine Widerspenstigkeit gegen diese Bemühungen des Reiters ganz außer Atem gekommen war, und rief Leonce durch einen Wink näher zu sich heran.

Seit man die Stadt verlassen hatte, hatte der junge Mann kein Wort gesprochen. Mit auf die Brust gesenktem Kopf schien er in seinen Betrachtungen versunken zu sein.

Dennoch aber beeilte er sich zu gehorchen und ritt neben dem Mönch her, was die Breite des Weges nun gestattete.

»Ich glaube, mein Sohn«, sagte der Prior, »dass wir jetzt nicht mehr daran denken dürfen, diesen übermütigen Edelmann einzuholen. Meiner Treu! Vielleicht hätten wir wohl daran getan, in Langogne einige wackere Leute zu unserer Begleitung mitzunehmen. Wir sind aber so übereilt aufgebrochen. Indessen, wir können jetzt höchstens nur noch zwei Meilen vom Schloss entfernt sein und diese werden wir in einer Stunde zurückgelegt haben. Freilich wird der Weg unten in dem Tal der Monadière weit weniger schön sein.«

Und er zeigte mit besorgter Miene auf den Engpass, in welchen das Plateau auslief.

Leonce antwortete bloß durch eine zerstreute Gebärde. Obwohl von sanfter und redseliger Gemütsart war er doch in großem Misstrauen gegen sich selbst und in tiefer Ehrerbietung gegen die erzogen worden, welche Autorität über ihn besaßen. Gewöhnlich zurückhaltend und schweigsam wartete er gern, bis man ihn fragte, ehe er sprach. Dennoch aber war seine Schweigsamkeit seit dem Auftritt in der Herberge eine so hartnäckige, dass der Prior endlich anfing, sich darüber zu wundern.

»Nun, mein lieber Leonce, was fehlt dir denn?«, fragte er in freundschaftlichem Ton, während die beiden Maultiere mit ihrem Passgang nebeneinander hermarschierten. »Bist du krank oder fürchtest du dich vielleicht auch vor dieser verwünschten Bestie, vor welcher Gott uns bewahren möge?«

»Weder das eine noch das andere ist der Fall, mein Onkel, ich dachte nur …«

»Woran denn, mein Sohn?«

»An nichts, mein hochwürdiger Vater.« Und der schöne Jüngling stieß einen tiefen Seufzer aus, Bonaventura beobachtete ihn verstohlen.

»Leonce«, hob er in ernstem Ton wieder an, »ich bin dir gleichzeitig ein Lob und einen Tadel schuldig – ein Lob für den großmütigen Enthusiasmus, mit welchem du vorhin meine Verteidigung und die deiner werten Beschützer, der Väter von Frontenac, übernahmst; einen Tadel deswegen, weil du dich von deiner Aufwallung hinreißen ließest, einen Edelmann herauszufordern, dessen Unrecht dem deinen nicht zur Entschuldigung gereichen kann.«

»Wie«, fragte Leonce mit schlecht verhehlter Ungeduld, »sollte man die beleidigenden Worte dieses Herrn von Laroche-Boisseau kaltblütig hinnehmen? Sollte man seine beleidigenden Prahlereien in Bezug auf Fräulein von Barjac ohne Widerspruch anhören?«

»Und was geht denn das Fräulein von Barjac dich an, mein Sohn?«

Leonce neigte sich vorwärts, als ob er einen Riemen seines Sattels fester schnallen wollte, in der Tat aber, um die Röte seiner Wangen zu verbergen.

»Mein Onkel«, sagte er, »ich glaubte, Fräulein von Barjac ist die Mündel der Abtei, Eure Mündel. Wir werden die Gastfreundschaft ihres Hauses genießen. Sollte ich daher mit dieser beleidigenden Leichtfertigkeit von ihr sprechen lassen? Aber, ich gestehe«, setzte er lebhafter werdend hinzu, »jedes Wort dieses verhassten Barons wirkte auf mein Gehirn wie die Dämpfe eines berauschenden Getränkes. Ich weiß nicht, welche unbekannte Instinkte sich mir offenbart haben. Ich empfand einen unwiderstehlichen Wunsch, mich auf ihn zu stürzen und ihn ins Gesicht zu schlagen. Wenn ich einen Degen gehabt hätte, so hätte ich ihn, trotz Eurer Gegenwart, sofort angegriffen. Ich hatte aber keinen Degen. Ich bin nicht Edelmann. Ich bin bloß ein bescheidener, friedlicher Schüler der Väter Benediktiner von Frontenac, und ich habe die Beleidigung hinunterschlucken müssen.«

Mit diesen Worten ließ Leonce seiner lange verhaltenen Gemütsbewegung freien Lauf und brach in Tränen aus.

Der Prior schien darüber nicht allzu verwundert zu sein. Er wusste vielleicht besser als sein Neffe selbst, was in dieser naiven Seele vorging.

Dennoch aber hob er mit einem Gemisch von Sanftmut und Strenge wieder an: »Wie, Leonce, du weinst? Muss ich das von einem jungen Manne erwarten, der so gut und in seinem Glauben so fest ist, von meinem geliebten Schüler, von dem Kind meiner Neigung, von dem Sohn meiner Schwester? Woher kommen diese unsinnigen Leidenschaften, welche so plötzlich hervorbrechen? Habe ich dir nicht hundertmal gesagt, Leonce, dass vernünftige, nach Gottes Bild geschaffene Kreaturen niemals zur Gewalt ihre Zuflucht nehmen dürfen? Der Verstand, die Überredung ist es, von welcher der Mensch, der Christ, Gebrauch machen muss. Ahme nicht hierin der unruhigen Jugend unserer Zeit und ganz besonders nicht solchen Wüstlingen wie dieser Baron von Laroche-Boisseau nach, welche stets bereit sind, die Spitze ihres Degens gegen die Vernunft, gegen die Wahrheit, gegen die Gerechtigkeit zu kehren. Sollten dir später, was nicht unmöglich ist, die Vorteile des Ranges und des Reichtums, welche du allzu hoch aufchlägst, zuteilwerden, so erinnere dich, dass Zorn und Hass schmachvolle, deiner unwürdige Laster sind.«

Leonce trocknete sich die Augen.

»Verzeiht mir, mein Onkel, diese Anwandlung von Schwäche«, sagte er, indem er seiner Stimme wieder einen festen Ausdruck zu geben suchte. »Ich kann noch gar nicht recht begreifen, wie ich mich so hinreißen lassen konnte. Indessen, da wir gerade von meiner Stellung in der Welt sprechen, so erlaubt mir endlich Aufklärungen zu verlangen, welche die Ehrfurcht mich bis jetzt abgehalten hat, von Euch zu fordern, und welche dennoch von Stunde zu Stunde für meine Ruhe notwendiger werden.«

»Der Augenblick ist zu einer Erklärung ziemlich schlecht gewählt«, sagte der Mönch, indem er sich umsah. »Wenn du indessen etwas auf dem Herzen hast, mein Sohn, so zögere nicht länger, es mir zu sagen.«

»Vielleicht, mein vortrefflicher Onkel, hätte ich Euch, meinem Mentor und besten Freund, den Zustand meiner Seele schon früher offenbaren sollen. Seit Kurzem hat eine schwarze Traurigkeit sich meiner bemächtigt. Ehrgeizige Träume von weltlichen Freuden und irdischem Ruhm verfolgen mich Tag und Nacht. Diese Unruhe des Gemütes, welche zuweilen eine wahrhafte Angst wird, hat ihren Grund ohne Zweifel in der tiefen Ungewissheit, in der ich mich noch in Bezug auf die Zukunft befinde, welche mich erwartet. Meine Gedanken irren im leeren Raum umher und verirren sich in Ermangelung eines vorgezeichneten Weges. Hört mich daher, mein geliebter Onkel, und ich beschwöre Euch, weist die Bitte, die ich an Euch richten werde, nicht zurück. Ich habe frühzeitig meinen Vater und meine Mutter verloren, die ich niemals gekannt habe, aber es hat mir weder an der zärtlichsten Pflege noch an der liebevollsten Nachsicht gefehlt. Seid gesegnet, mein würdiger Onkel, für die unverbrüchliche Liebe, welche Ihr der armen Waise bewiesen. Ihr habt mich in Euer friedliches Klosterasyl aufgenommen. Ihr habt es Euch zur Freude gemacht, mein Herz und meinen Geist zu bilden, Ihr habt mich durch Vorschrift und Beispiel gelehrt. Jeder der vortrefflichen Väter von Frontenac, Eure Freunde und Eure Brüder, hat Euch bei dieser wohltätigen Aufgabe unterstützt, und die Gelehrtesten und Weisesten sind bemüht gewesen, mir ihre Wissenschaft und ihre Weisheit beizubringen. Deshalb schließe ich auch Euch alle in ein gemeinsames Gefühl der Ehrerbietung und Dankbarkeit ein. Ich betrachte mich als Euer Kind und frage mich, ob ich jemals die Kraft haben werde, Euch zu verlassen. Seit einiger Zeit aber, mein hochwürdiger Vater, scheint Ihr, sei es nun Zufall, sei es mit Absicht, alles Mögliche aufzubieten, um mich von dem Kloster abwendig zu machen, in welchem ich meine Jugend zugebracht habe. Es beliebt Euch zuweilen meine Studien zu unterbrechen und Ihr versäumt keine Gelegenheit, mich mit der Welt in Berührung zu bringen. Heute zum Beispiel verlangtet Ihr, dass ich den geräuschvollen, tumultuarischen Vorgängen einer großen Jagd beiwohne. Diese Forderungen und die neuen Ideen und Instinkte, welche sie erwecken, sind die Ursache der moralischen Unordnung, in welcher Ihr mich jetzt seht. Ungestüme Bewegungen reißen mich wider Willen hin, wie Ihr soeben dem Baron von Laroche-Boisseau gegenübergesehen habt, und ihre Gewalt erschreckt mich zuweilen. Von Euch hängt es ab, diesen unsinnigen Gemütsbewegungen ein Ende zu machen. Wenn ich wirklich der Welt entsagen soll, wenn ich die Gewissheit habe, diese Bewegungen durch Euren Rat und Eure Ermutigung zu beherrschen, so bitte ich Euch, mein guter Onkel und hochwürdiger Vater, erlaubt mir, so schnell wie möglich in die Abtei zurückzukehren, hier das Novizengewand anzulegen und nach Ablauf der gewöhnlichen Probezeit das Gelübde zu leisten. Ich wünsche dort zu leben und zu sterben mitten unter Freunden, die mir stets teuer sind und sein werden.«

Der Pater Bonaventura war ohne Zweifel auf diese Worte gefasst, denn er gab keine Überraschung darüber zu erkennen. Dagegen zeigten sich zahlreiche Falten auf seiner breiten kahlen Stirn.

»Leonce«, fragte er mit gedankenvoller Miene, »hast du dir auch alles reiflich überlegt? Ist dieser Beruf für das Klosterleben ein freier und aufrichtiger?«

»Ich … ich glaube es.«

»Und ich, der ich in deiner Seele lese wie in einem aufgeschlagenen Buch, ich bin vom Gegenteil überzeugt. Diese leidenschaftlichen Bewegungen, von welchen du sprichst, beweisen mir deutlich, dass du nicht für das Kloster geboren bist. Glaubst du, dass unter dem Priestergewand dieses wallende Blut, diese reizbaren Nerven sich mit einem Mal beschwichtigen werden? Nein, dieses Gewand würde dich brennen wie das Hemd des Nessus. Übrigens, mein Sohn, untersagen jene Gründe, welche du später erfahren wirst, das Klosterleben unbedingt.«

»Was sagt Ihr, mein Onkel?«, rief Leonce mit dem größten Erstaunen. »Man würde mir den Trost verweigern, der allen verwundeten Seelen verheißen ist …«

»Aber deine Seele ist nicht verwundet, und wäre sie es auch, so könnte doch in deinem Alter die Wunde nicht sehr gefährlich sein. Frage mich nicht. Du darfst aber nicht mehr daran denken, in Frontenac oder in irgendeinem anderen geistlichen Haus ein Gelübde, dich dem Klosterleben zu widmen, abzulegen – wenigstens nicht, bis die Umstände sich geändert haben und du selbst die ganze Bedeutung eines solchen Opfers kennst.«

Leonce war verblüfft.

»Mein Vater«, hob er wieder an, »ich werde geduldig warten, bis Ihr es für angemessen erachtet, mir diese seltsame Weigerung zu erklären. Aber wenn Ihr mich aus dem Kloster verstoßt – guter Gott, welches Schicksal wird mir dann beschieden sein? Ich hatte immer geglaubt, als ich Euch mich mit so vieler Sorgfalt gegen die Aufregungen und Stürme des weltlichen Lebens waffnen sah, Euer geheimer Wunsch wäre, mir Widerwillen gegen diese Welt einzuflößen.«

»Wenn dies der Fall gewesen wäre, mein Sohn, so hätten die hochwürdigen Väter von Frontenac und ich das Ziel überschritten, welches wir erreichen wollten. Unser einziger Wunsch ist gewesen, aus dir einen unterrichteten, festen, rechtschaffenen Mann zu machen, einen Christen, welcher später ein Muster in der Gesellschaft wäre. Aber sieh, Leonce«, setzte der Mönch mit einem Anflug von Strenge hinzu, »ich habe den wirklichen Beweggrund dieses angeblichen Berufes durchschaut, der dir so plötzlich gekommen ist. Er hat seinen Ursprung in beleidigtem Stolz, in gewaltsam zurückgedrängtem Ehrgeiz. Du beginnst jetzt von Weitem das glänzende Theater der Welt zu sehen. Wie alle jungen Leute empfindest du die Bedrängnis, in demselben eine bedeutende Rolle zu spielen, den Ruhm desselben zu erobern, alle Freuden desselben zu erschöpfen. Mitten in diesem Streben und Trachten aber wirst du von deiner Ohnmacht, deiner Niedrigkeit betroffen. Du sagst dir, dass die Wege, welche zu hohen sozialen Stellungen führen, dir armen Plebejer, dir, dem Neffen eines schlichten Mönches, verschlossen sind. Antworte einmal aufrichtig, Leonce, ist das nicht wahr?«

»Mein lieber Onkel, könnt Ihr wirklich glauben …«

»Es sind vielleicht auch noch andere Gründe vorhanden«, fuhr der Prior fort, indem er ihm einen jener Blicke zuwarf, welche bis in die innerste Seele des jungen Mannes zu dringen schienen. »Der aber, welchen ich soeben ausgesprochen habe, ist der hauptsächlichste, der am wenigsten bestreitbare. Wohlan, Leonce, ich möchte dir nicht übertriebene Hoffnungen einflößen, die in ihrer jugendlichen Übertreibung nicht zu verwirklichen sind, aber ich sage dir, die Zukunft hat für dich genug Vorteile in Bereitschaft, um einem gemäßigten Ehrgeiz zu genügen. Habe daher Vertrauen zu dir selbst und gehe mutig auf die Vernunft und die Gerechtigkeit gestützt vorwärts – Gott wird das Übrige tun.«

Als ob diese Worte, trotz der Zurückhaltung, welche sie begleitete, einen zu lebhaften Eindruck auf seinen Neffen hätten machen können, hob der Prior sofort wieder an: »Noch einmal, Leonce, lass deinen Geist nicht unklugerweise abgeschmackten Hirngespinsten nachsagen und bemühe dich, mich recht zu verstehen. Ich bin tot für die Welt und habe für mich auf Erden nichts mehr zu suchen. Du aber bist mein Schüler, mein Freund, mein Pflegesohn. Ich habe dich heranwachsen sehen, ich habe selbst deine guten Triebe entwickelt, ich weiß, welche Tugenden mitten unter den Unvollkommenheiten unserer menschlichen Natur in deinem Herzen wohnen. Den Ehrgeiz, den ich nicht mehr für mich habe, habe ich für dich. Ich lebe in meinem geliebten Schüler wieder von Neuem. Deshalb habe ich zahlreiche Pläne für dein irdisches Glück, für dein Emporkommen entworfen, und diese Pläne werden von den Vätern von Frontenac, welche dir mit so inniger Liebe zugetan sind, mit ihrer ganzen Macht und ihrem ganzen Ansehen unterstützt werden. Unsere Bemühungen, unsere Tatkraft, unser Einfluss – alles wird aufgeboten werden, um ein großes und glückliches Geschick zu sichern.«

Es war, als ob diese Erklärungen in Leonce einen gewissen Grad von Misstrauen erweckten. Anstatt seinem Onkel zu danken, blieb er düster und befangen.

»Ich will gern glauben«, sagte er endlich, »dass die Pläne, um welche es sich handelt, nicht zu unangenehmen Deutungen Anlass geben werden und dass die Intrigen, welche der Baron von Laroche-Boisseau den Mönchen von Frontenac zur Last legte …«

»Ha, das ist die Wirkung der giftigen Worte dieses Edelmannes!«, unterbrach ihn der Pater Bonaventura mit schmerzlichem Erstaunen. »Aber du, Leonce, wie kannst du diesen giftigen Pfeil gegen deine Freunde und deine Vorväter zurückschleudern?«

Es lag so viel in dem Ton des Priors, dass Leonce schnell von seinem Maultier, welches stehen blieb, heruntersprang. Er eilte auf seinen Onkel zu, ergriff seine Hand und bedeckte diese mit Küssen und Tränen.

»Verzeiht mir, verzeiht mir!«, rief er mit von Schluchzen unterbrochener Stimme. »Wenn Ihr wüsstet, was ich leide. Ich glaube, Gott verlässt mich!«

Die Aufrichtigkeit dieses Schmerzes rührte den Pater Bonaventura.

»Ich entschuldige gern«, entgegnete er lächelnd, »eine vorübergehende Verirrung. Armer Leonce, glaubst du, ich errate nicht die Ursache dieser seltsamen in deiner sonst so friedlichen und gleichmäßigen Gemütsstimmung eingetretenen Veränderung, die Ursache dieser düsteren Traurigkeit oder dieser Aufwallungen, welche plötzlich hervorbrechen wie die Stürme der Seele? Der Augenblick ist jedoch nicht günstig, um über dergleichen Dinge zu verhandeln. Wir werden diesen Gegenstand ein andermal wieder aufnehmen. Steige auf, Leonce, und lass uns unsere Reise weiter fortsetzen.«

Der junge Mann gehorchte mit seiner gewöhnlichen Unterwürfigkeit und sie ritten wieder einige Augenblicke nebeneinander her.

»Mein Kind«, hob nach einiger Zeit der Mönch in wohlwollendem Ton wieder an, »obwohl ich dir deinen Fehler verziehen habe, so will ich dir doch eine Buße auflegen. In Mercoire werden wir den Baron von Laroche-Boisseau wiederfinden. Es wird mir Freude machen, wenn ich sehe, dass du jeden neuen Streit mit ihm vermeidest. Ich habe ganz besondere Gründe, um zu wünschen, dass zwischen Euch weder Hass noch Zorn weiter bestehe. Du würdest es später sicher bereuen, meinen Rat nicht befolgt zu haben. Nun, Leonce, was wirst du antworten?«

»Eine Beleidigung, die mir zugefügt wird, kann ich vergeben, mein Onkel. Aber soll ich in meiner Gegenwart eine Person beleidigen lassen, die ein Recht auf meine Zuneigung, auf meine Achtung hat?«

»Ich muss dein Versprechen ohne Bedingung haben. An der Genauigkeit, mit welcher du demselben nachkommst, werde ich beurteilen, ob du deine unbegreifliche Aufwallung wirklich aufrichtig bereust.«

»Es sei, mein Onkel. Ich gebe Euch dieses Versprechen, aber, mein Gott, welchen Prüfungen unterwerft Ihr mich fortwährend!«

»Prüfungen? Leonce, ich verstehe dich nicht mehr.«

»Ach, ich verstehe mich selbst kaum. Mein armer Kopf ist ein Chaos, in welchem alles sich durcheinander wirrt. Ach, mein Onkel, mein guter Onkel, warum habt Ihr verlangt, dass ich nach Mercoire zurückkehre?«

»Erstens, mein Sohn, weil ich keinen sicheren und keinen angenehmeren Reisegefährten finden könnte wie dich. Andererseits wünsche ich, wie du schon bemerkt hast, dich die Welt kennen zu lehren, in welche du eintreten sollst. Deshalb habe ich diese günstige Gelegenheit benutzt, um dich in ein Haus einzuführen, wo die Elite des Adels des Gévaudan sich zusammenfinden wird. Endlich hatte ich auch noch einen Beweggrund. Ich habe bemerkt, mein lieber Leonce, dass du einen ganz eigentümlichen Einfluss auf Fräulein von Barjac ausübst. Unsere gebieterische Mündel scheint in deiner Gegenwart wieder etwas von der Schüchternheit und Zurückhaltung zu finden, welche einem wohlerzogenen Mädchen zukommen. Es ist, als ob deine sanfte zarte Natur, die nur aus Gefühl und Vernunft zusammengesetzt ist, sich in diesem stolzen, unausgebildeten Charakter spiegelte, der nur aus Willkür und Unabhängigkeit besteht. Dieser Eindruck hat sich schon vor mehreren Jahren kundgegeben. Erinnerst du dich, Leonce, des ersten Besuches, den wir Fräulein von Barjac bei den Ursulinerinnen in Mende abstatteten? Seit sechs Monaten war die unfügsame Pensionärin in dem Kloster, und den armen Schwestern war es noch nicht gelungen, sie bis zum Buchstabieren zu bringen. Sie zerriss ihre Näh- und Stickarbeiten und schimpfte ihre Lehrerinnen. Mit unordentlichen Kleidern, verworrenem Haar und dennoch reizend wie ein rebellischer Engel kam sie in das Sprachzimmer. Meine Ermahnungen nahm sie ungeduldig hin und beobachtete ein störriges Schweigen. Während ich, außer mir über diese Verstocktheit, beiseite mit der Superiorin sprach, nähertest du dich Christine von Barjac. Obwohl beinahe selbst noch Kind, schienst du doch mit diesem unzähmbaren Mädchen Mitleid zu haben. Anfangs hörte sie dich mit Erstaunen, dann mit Wohlgefallen an. Wir konnten euer Gespräch nicht verstehen, aber wir hörten nicht auf, euch beide zu beobachten. Ein Buch lag in der Nähe. Du schlugst es aufs Geratewohl hin auf und begannst der aufmerksamen Schülerin den Mechanismus der Wortbildung zu erklären. Es dauerte nicht lange, so ergriff sie ihrerseits das Buch. Einen Augenblick lang zögerte sie und stammelte und du musstest ihr neue Erklärungen geben. Endlich ergriff sie das Buch wieder und dieses Mal, o Wunder, las sie fast eine ganze Seite ohne Fehler. Was die Lehrerinnen durch sechsmonatliche Anstrengung nicht zu erreichen vermocht waren, hattest du binnen einigen Minuten bewirkt. Ich war außer mir vor Verwunderung und die Superiorin weinte vor Freuden, während die Schülerin selbst ganz betroffen von ihrem wunderbaren Erfolg dastand.«

»Das ist wahr, mein Onkel, das ist wahr«, antwortete Leonce in außerordentlicher Aufregung. »Aber was kann es nützen, dergleichen Erinnerungen zurückzurufen?«

»Seit jener Zeit«, fuhr der Mönch fort, »habe ich zahlreiche Beispiele von dem Übergewicht erlebt, welches du auf sie ausübtest. Bei jedem meiner Besuche auf dem Schloss bemerkte ich eine günstige Veränderung an ihr, wenn du mich begleitest. In deiner Gegenwart ist sie bescheiden und gut. Sie unterdrückt ihre Aufwallungen, welche ihre Diener und ihre Freunde betrüben. Sie gleicht mit einem Wort mehr dem, was sie nach unserem Wunsch sein soll. Ich gestehe offen, mein lieber Leonce, ich handle ganz besonders in dem Interesse unserer Mündel, indem ich dich zu ihr führe. Das undankbare Kind zeigt sich nicht immer sehr ehrerbietig gegen mich und gegen die anderen Väter von Frontenac, und zwar bloß, weil es unsere Pflicht ist, ihr gute Ratschläge zu erteilen und die Ausschreitungen ihres ungestümen Charakters zu tadeln. Nun aber wäre ich untröstlich, wenn unter den gegenwärtigen Umständen Fräulein von Barjac eine ungünstige Meinung von sich gäbe. Du hast gehört, welche schlimme Urteile die Leute der Umgegend über sie fällen. Deshalb hoffte ich, mein Sohn, dass du mir schon durch deine Gegenwart behilflich sein würdest, unser Zögling in den Grenzen eines strengen Anstandes in Gegenwart der vornehmen Leute zu erhalten, welche sich in Mercoire einfinden werden.«

»Und Ihr, mein Onkel, der Ihr so klug und so weise seid«, rief Leonce mit einem gewissen Grad von Verzweiflung, »habt Ihr niemals an die Gefahr gedacht, welche dergleichen Experimente für mich haben könnten? Aber Ihr habt Euch geirrt. Die Vorgänge, von welchen Ihr sprecht, sind die Wirkungen des Zufalls. Fräulein von Barjac, diese junge Dame von hoher Geburt und großem Vermögen, hat niemals einen Blick der Aufmerksamkeit auf mich fallen lassen. Niemals hat sie jemanden so viel Kälte und Zurückhaltung bewiesen. Wenn sie mich sieht, so empfindet sie nur Zwang und Befangenheit. Um ihr, die so lebhaft und so beweglich ist, zu gefallen, müsste man jenem flotten und frivolen Herrn von Laroche-Boisseau gleichen, der sich so laut des Vorzugs rühmte, womit sie ihn beehrt. Ich bin nichts für sie, sage ich Euch. Deshalb, mein Onkel, beschwöre ich Euch: Haltet mich nicht lange in Mercoire zurück, und wenn wir das Schloss werden verlassen haben, so habt die Güte zu erlauben, dass ich niemals wieder dahin zurückkehre.«

Diese Worte waren wie durch eine furchtbare Marter entrissen. Es war ein Schrei des Herzens, welcher dieses Mal nicht verfehlen konnte, verstanden zu werden.

Übrigens hatte, wie man ohne Zweifel erraten konnte, der Prior die immer klareren Geständnisse seines Neffen nicht erst erwartet, um die geheimen Gefühle dieser offenen Seele zu erkennen. Auch öffnete er schon den Mund, um entweder Tröstungen oder vielleicht auch Vorwürfe an Leonce zu richten, als ein Blick, den er um sich her warf, seinen Gedanken eine andere Richtung gab.

Die Reisenden waren nämlich an dem äußersten Ende der Causse angelangt. Vor ihnen führte ein düsterer Engpass zwischen zwei bis an den Gipfel mit Bäumen bedeckten Berge hinein. Der Weg wurde schwierig und rau. Ungeheure von benachbarten Höhen herabgestürzte Felsenstücke ließen kaum Platz genug für die Passage eines Reiters. Die Sonne, welche während des vorstehend mitgeteilten Gespräches tiefer hinabgesunken war, vergoldete noch den Gipfel der höchsten Bergspitzen, drang aber schon lange nicht mehr in diese tiefe Schlucht, in welcher sich die Nebel anzuhäufen begannen.

So weit das Auge reichte, sah man nur Bäume mit dunklem Laub. Es war, als ob ein unermesslicher und unendlicher Wald Hügel, Täler und Berge in sein Blätternetz hüllte.

Diese plötzliche Veränderung der Umgebung, der wilde Anblick dieser Einöde, und mehr als alles Übrige, die Gewissheit, dass man nun in den Bereich kam, wo die furchtbare Bestie des Gévaudan hauste, waren wohl geeignet, einen lebhaften Eindruck auf den Onkel und den Neffen zu machen.

Der Prior begnügte sich daher mit einer leichten Veränderung in seiner Stimme zu antworten: »Ich hätte auf das, was du soeben gesagt hast, viel zu entgegnen, mein Sohn, aber es würde mir in diesem Augenblick an der notwendigen Freiheit des Geistes mangeln und wir werden den Gegenstand dieses Gespräches später wieder aufnehmen. Wir nähern uns jetzt den Schluchten der Monadière, wo, wie man versichert, das wilde Tier erst gestern noch Opfer gefordert hat. Sprechen wir daher nicht mehr und sei bemüht, dich so dicht wie möglich an mich zu halten. Gott und die Heilige Jungfrau mögen uns schützen!«

Leonce teilte nicht die Furcht seines Onkels, aber dennoch war es ihm vielleicht nicht unlieb, die Erklärung, welche er gleichwohl erst herausgefordert hatte, noch verschieben zu können. Es lag in dem Herzen des Jünglings stets eine Schüchternheit, welche ihn abgeneigt machte, die ersten Geheimnisse seiner Zärtlichkeit dem hellen Tageslicht preiszugeben. Deshalb empfand der junge Mann keinen Verdruss über diese Unterbrechung, sondern kam der Aufforderung des Paters Bonaventura mit Unterwürfigkeit nach.

Sie ritten einige Minuten lang rasch weiter. Je weiter sie aber kamen, desto dichter war das Dunkel rings um sie herum. Der Wald war gleichsam eine Mauer von Eichen, Tannen und Buchen. Diese dicht beieinanderstehenden und dicht belaubten Bäume hätten selbst am Mittag und bei heller Witterung nicht erlaubt, in ihrem Schatten zu lesen. Zu dieser Abendstunde aber, in dieser von dräuenden Bergklippen umgebenen Schlucht sah man vom Himmel kaum noch einen fahlen Schimmer. Das Auge unterschied nichts mehr in der tiefen Dunkelheit. Gestrüpp und Dornen warfen ihre stacheligen Ranken bis über den Weg hinweg.

Übrigens, da es immer bergab ging, breitete der Nebel einen immer dichteren Schleier über die Landschaft. Die Gipfel der Berge, die Spitzen der Felsen, die Senkungen des Bodens, alles, was als Orientierungszeichen gedient hatte, war verschwunden. Dennoch aber war den Reisenden recht wohl bekannt, dass dieser Wald von zahlreichen Straßen durchschnitten wurde und dass ein Irrtum in Betracht der obwaltenden Umstände vielleicht nicht ohne Gefahr sein würde.

Anfangs richteten sie sich nach den in den tonigen Boden von den Ochsenkarren, welche sich nach Mercoire begaben, gezogenen Geleisen. Dies war ein sicheres Zeichen, dass sie sich auf dem großen Kommunikationsweg des Schlosses mit der Umgegend befanden, weil die meisten anderen Wege des Waldes für dergleichen Karren nicht fahrbar waren.

Allmählich aber entschwand ihnen auch diese rettende und sichere Spur. Der Boden hatte eine andere Beschaffenheit. Er war jetzt trocken, felsig und zu hart, um den Eindruck der Räder aufzunehmen. Vergebens warteten sie, dass eine Lichtung im Wald, eine Zufälligkeit des Terrains oder ein ihren Augen vertrauter Gegenstand ihnen erlaubte, sich der Richtung zu versichern, welche sie folgen sollten.

Der Nebel aber hüllte alles in seine trostlose Gleichförmigkeit. Die beiden Reiter sahen einander, trotz ihrer Nähe, nur wie unklare und fantastische Gestalten.

Endlich erreichte man einen Ort, wo die Straße sich teilte, und Leonce hielt sein Tier an. Der Prior, welcher seinen Rosenkranz betete, um vielleicht seine Gedanken von seiner geheimen Furcht abzulenken, zog ebenfalls den Zügel seines Maultieres an.

»Lieber Onkel«, sagte der junge Mann mit verlegener Miene, »nach einigen flüchtigen Beobachtungen glaubte ich, wir wären endlich an dem Kreuz des heiligen Paulus angelangt, aber ich habe mich geirrt. Ohne Zweifel sind wir an dem Kreuz vorbeigekommen, ohne es zu sehen. Kennt Ihr den Ort, wo wir sind? Was mich betrifft, so entsinne ich mich nicht, jemals hier gewesen zu sein.«

»Ich auch nicht, mein Sohn«, entgegnete der Prior mit ächzender Stimme. »Heilige Jungfrau, sollten wir uns verirrt haben?«

»Auf jeden Fall können wir uns nicht um viel geirrt haben, aber ich wollte, wir könnten die Höhe erreichen. Auf dem Kamm des Gebirges muss noch heller Tag sein. Was meint Ihr, mein Onkel? Wollen wir diesen Weg zur Linken nehmen, der zum Gipfel der Monadière zu führen scheint? Sobald ich nur einmal ein wenig freien Raum um mich hätte, würde ich die Richtung des Schlosses bald zu finden wissen.«

»Ich vertraue mich dir an, mein Sohn«, antwortete der Pater Bonaventura schüchtern. »Ich gebe gern zu, dass in diesem Augenblick deine Ratschläge besser sein können als die meinen. Es soll dies aber, hoffe ich«, setzte er, indem er sich zu scherzen bemühte, hinzu, »keine Konsequenz für die Zukunft sein.«

Leonce selbst schien sehr unentschlossen zu sein, als der ferne Ton einer Trompete oder eines Hornes von der linken Seite her mitten durch das allgemeine Schweigen hallte.

»Hierher, mein Onkel«, rief er. »Ganz gewiss werden wir auf dieser Seite Leute finden. Übrigens werden wir auch den Berg gewinnen und uns dann auf bestimmte Weise orientieren. Also vorwärts! Von der Nacht dürfen wir uns in diesem undurchdringlichen Dickicht nicht ereilen lassen.«

Der Prior folgte mechanisch, aber Leonces Erwartung ward getäuscht. Der neue Weg führte, nachdem er über eine leichte Erhöhung des Terrains hinweggegangen war, mittelst eines steilen Abhanges gerade wieder nach der waldigen Schlucht hinab, die man hatte vermeiden wollen.

Die verirrten Reisenden mussten abermals haltmachen, um sich miteinander zu beratschlagen. Während dieser kurzen Pause ertönte das Horn abermals, dieses Mal aber von einer anderen Seite.

»Es ist unbegreiflich!«, hob der Mönch ängstlich wieder an. »Jetzt kommt der Ton von der rechten Seite.«

»Das Echo treibt in den Gebirgen zuweilen ein sonderbares Spiel«, entgegnete Leonce mit nachdenklicher Miene. »Die Lage des Ortes und dieser dichte Nebel können ganz außerordentliche Täuschungen zur Folge haben. Der, welcher das Instrument bläst, ist ohne Zweifel nicht da, wo er zu sein scheint. Wir werden ihn bald hier, bald da hören und vielleicht befindet er sich kaum zweihundert Schritte vor uns.«

»Aber, mein Sohn, warum wollen wir in diesem Fall nicht versuchen, ihn zu Hilfe zu rufen?«

»Versuchen wir es, mein Onkel, ich bin damit einverstanden.«

Beide erhoben nun mit vereinter Stimme zu wiederholten Malen ein lautes Geschrei und schwiegen dann, um zu hören, ob man auf ihren Ruf antworten würde. Aber es schien, als ob ihr Ruf durch diese schwere, unbewegliche und sozusagen baumwollenartige Atmosphäre verschluckt würde. Einige Male wurde er wie bruchstückweise und spottend von einem fernen Echo wiederholt, dann wurde alles wieder stumm.

Der Prior hatte entschieden der Autorität entsagt, welche sein Alter und seine Erfahrung ihm gewöhnlich über seinen jungen Begleiter gaben.

»Was werden wir nun machen, Leonce?«, fragte er.

»In der Tat, mein Onkel, ich weiß es nicht. Dennoch aber ist es mir, als sähe ich Spuren von Hufen auf dem Boden und vielleicht führt dieser Weg dennoch zu irgendeiner Behausung. Fahren wir daher fort, ihm zu folgen.«

»Gut«, sagte der Pater Bonaventura. »Sind wir nicht immer in der Hand Gottes?«

Diese Ausdauer der Reisenden fand auch wirklich bald ihre Belohnung. Die Straße fing an, wieder bergauf zu gehen, als ob sie an der Wand des Berges hinaufführte, und die Luft schien weniger mit feuchten Teilchen geschwängert zu sein. Obwohl die Bäume über den Köpfen der Reiter immer noch ein dichtes Gewölbe bildeten, so wurde es doch merklich heller um sie herum. Der Ton des Hornes ließ sich ebenfalls deutlicher und näher vernehmen.

Sie konnten daher glauben, dass sie aus der schwierigen und vielleicht gefährlichen Lage, in der sie sich befanden, herauskommen würden, als ein Ereignis auf einmal ihre unbestimmten Befürchtungen in gerechtfertigten Schrecken verwandelte.

Sie ritten vorsichtig entlang, als plötzlich in einiger Entfernung aus einem undurchdringlichen Dickicht ein wildes Geheul hervorkam. Die Maultiere blieben unbeweglich stehen, spitzten die Ohren und zitterten an allen Gliedern, wie schüchterne Tiere zu tun pflegen, welche ein reißendes Tier wittern.

Der Prior und sein Neffe sahen einander an.

»Die Bestie des Gévaudan!«, sagte der Mönch erbleichend. »Gott verzeihe uns unsere Sünden – wir sind verloren!«

Leonce suchte mit den Augen einen Gegenstand, aus welchem er sich eine Waffe machen könnte, denn er hatte dem furchtbaren Gegner, der sich auf diese Weise ankündigte, nichts entgegenzusetzen als seine Peitsche.

»Mut, mein Onkel«, antwortete er, »dieser Wolf, wenn er es wirklich ist, wird vielleicht nicht wagen, zwei Berittene anzufallen! Wenn ich wenigstens einen tüchtigen Knüttel hätte!«

Das Gebrüll hatte aufgehört. Man hörte jetzt in dem Gestrüpp etwas wie einen großen ungestümen und gelenken Körper, der sich einen Weg bahnte. Das Dickicht war aber so geschlossen, die Dunkelheit so groß und der Nebel noch so dicht, dass man nichts gewahrte.

Plötzlich ließ das Geheul sich abermals hören. Dieses Mal schien das Tier, welches es ausgestoßen hatte, nur noch einige Schritte weit von den Reisenden entfernt zu sein.

Diese Prüfung war für den armen Mönch zu stark. Er glaubte schon seine Glieder unter dem Zahn des Ungeheuers knacken zu hören und begann ein lautes Angstgeschrei zu erheben.

Leonce dagegen suchte den Feind mit den Augen, bereit, den Angriff zurückzuschlagen, so gut er konnte. Aber sein Mut sollte ihm nichts nützen. Die durch das jetzt so nahe Geheul bis zur Raserei erschreckten Maultiere bäumten sich auf, drehten sich herum und gingen jedes nach einer anderen Richtung hin durch. Das des Priors riss seinen Reiter mit fort, der sich an der Mähne festhielt und zu schreien fortfuhr. Das Maultier Leonces , welches keinen leeren Raum vor sich fand, stürzte sich blindlings in das Dickicht hinein und sprang wie toll unter den Schlingpflanzen und dem Dorngestrüpp herum.

Der junge Mann konnte weiter nichts tun, als sich trotz der wütenden Sprünge und des heftigen Aufbäumens seines Tieres einige Augenblicke lang auf dem Rücken desselben zu halten. Trotz seiner Reitergeschicklichkeit aber sah er sich endlich dennoch aus dem Sattel gehoben. An den niedrigen Ast einer Buche anprallend wurde er aus dem Sattel geworfen und gerade in die Richtung geschleudert, wo das letzte Geheul sich hatte hören lassen.

Der Schlag war ein gewaltiger gewesen. Leonce blieb ganz betäubt ohne Bewegung mit dem Gesicht auf dem Boden liegen. Sofort schlug ein dumpfes röchelndes Grunzen an sein Ohr, ein schwerer Körper fiel auf ihn. Er fühlte furchtbare Zähne seine Schulter zerfleischen, während scharfe Klauen durch seine Kleider hindurch in sein Fleisch drangen.

Der grausame Schmerz und die drohende Gefahr brachten Leonce wieder ein wenig zum Bewusstsein. Er versuchte sich herumzudrehen und seine Arme freizubekommen, um das reißende Tier zurückzustoßen, welches ihn lebendig auffraß. Aber die Dornpflanzen fesselten ihn mit ihren Knoten, das Laubwerk blendete ihn, und die Last, welche auf ihm ruhte, lähmte seine Bewegungen.

Dennoch aber gelang es ihm, sich auf die Seite herumzudrehen. Eine seiner Hände versuchte das Ungeheuer hinwegzudrängen, welches er nicht sehen konnte. Aber es war nicht der Kopf eines wilden Tieres, auf den diese Hand stieß. Es war vielmehr struppiges, raues, verworrenes Haar, welches einem menschlichen Kopf zu gehören schien.

In diesem furchtbaren Augenblick, wo der Instinkt der Erhaltung jede Überlegung beherrschte, dachte Leonce nicht daran, die Erklärung dieses unbegreiflichen Umstandes zu suchen. Er fuhr fort, sich gegen die Bisse und Griffe seines unbekannten Gegners zu wehren, und bewegte sich krampfhaft, ohne zu wissen, was er tat.

Endlich hörte der Kampf auf, als der unglückliche junge Mann erschöpfte außer Atem, beinahe ohnmächtig vor Schmerz und Schrecken des Widerstandes allmählich unfähig wurde. Die Klauen und die Zähne hörten auf, ihn zu zerreißen. Er fühlte sich der Last enthoben, welche ihn zermalmte.

Durch diese unerwartete Veränderung wieder belebt, machte er einige energische Bewegungen und setzte sich endlich in die Höhe. Nun begann er, sich auf den Ellbogen stützend einen irrenden Blick um sich her schweifen zu lassen.

Jede Spur von seinem furchtbaren Angreifer war verschwunden. Man hörte wohl noch eine Art Rascheln in den benachbarten Gebüschen, aber man konnte nichts sehen.

Übrigens wurde Leonces Aufmerksamkeit durch ein anderes Geräusch abgelenkt, welches vom Weg herkam und sich mit Schnelligkeit näherte. Es waren jetzt vollkommen deutliche Horntöne, lautes kräftiges Gebell und mehr als all dies die Stimme des Priors, der in angsterfülltem Ton seinen Namen rief.

Leonce war nicht imstande zu antworten. Er blieb in derselben Positur und zweifelte an seiner eigenen Existenz. Endlich gewahrte er verworren im Nebel zwei Personen, die eine zu Fuß, die andere zu Pferde, welche ihn zu suchen schienen.

Er hörte seinen Onkel, welcher rief: »Leonce, wo bist du? Leonce, um Gottes willen, wenn du noch lebst, so beeile dich mir zu antworten.«

Endlich gelang es dem armen Knaben seine furchtbare Abspannung zu überwinden und er rief mit matter Stimme: »Hierher, mein Onkel, hierher!«

»Ha! Endlich haben wir ihn wiedergefunden!«, rief der Mönch, indem er von seinem Maultier herabsprang. »Nun, mein Sohn, bist du verwundet?«

»Ich … ich glaube nicht, mein Onkel.«

»Gott sei gepriesen! Gott sei gepriesen!«

Als der Pater Bonaventura seinem Neffen aus dem Gestrüpp, in welchem er lag, aufhelfen wollte, sagte sein Begleiter zu Fuß in dem Dialekt der Provinz zu ihm: »Achtung! Mein hochwürdiger Vater, die Bestie kann noch nicht weit sein, denn mein Hund knurrt noch. Komm her, Castor! Bleib da, denn wir brauchen dich vielleicht noch!«

Seine Befürchtungen aber konnten nicht mehr den Prior zurückhalten, welcher sich ganz der Freude hingab, seinen Pflegesohn wiederzufinden. Er überstieg die Hindernisse ohne Rücksicht auf sein Mönchsgewand und schloss den armen Leonce, der sich willenlos seine Liebkosungen gefallen ließ, in seine Arme.

Erst als der junge Mann mithilfe seines Onkels den Weg wiedergewonnen hatte, war es möglich, sich einen genauen Begriff von dem beklagenswerten Zustand zu machen, in welchem er sich befand. Sein Hut war zertreten, seine Kleider waren zerrissen und seine Hände und sein Gesicht troffen von Blut. Man sah eine breite Wunde an seiner linken Schulter, als ob ein Fleischfetzen durch den Schlag einer Klaue oder durch einen Biss herausgerissen wäre.

Der gute Pater beeilte sich erschrocken, die Wunde mit seinem Taschentuch und dem Leonces zu verbinden. Der Neuangekömmling half bei diesem Liebeswerke, so gut er konnte.

»Ach, mein Gott, junger Herr«, sagte dieser Mann in seinem Patois, »Ihr seid noch gut weggekommen. Eine Minute später wärt Ihr zerrissen.«

Der, welcher dies sagte und den Reisenden auf so wirksame Weise zu Hilfe gekommen war, war, wie man ohne Zweifel schon erraten hat, Jean Godart, der Hirt von Mercoire. Nachdem er Langogne verlassen hatte, hatte er einen Querweg eingeschlagen, der nur zu Fuß gangbar war. Als er in den Teil des Waldes kam, wo das wilde Tier hauste, war er auf den Einfall gekommen, fortwährend auf seinem Hirtenhorn, welches er bei sich trug, zu blasen, um sich vor einem Anfall des reißenden Tieres zu schützen. Dennoch aber hatte er das Rufen des Onkels und des Neffen gehört. Erratend, dass es sich um im Nebel verirrte Personen handle, die Menschenfreundlichkeit gehabt, sie aufzusuchen. Das Geschrei, welches im Augenblick der Katastrophe erhoben worden war, hatte seine Aufmerksamkeit auf sich gezogen und er wäre beinahe durch den Prior, mit welchem sein Maultier durchging, über den Haufen gerannt worden. Dennoch aber war es ihnen gelungen, sich einander zu nähern. Nach einer kurzen Erklärung waren sie Leonce zu Hilfe geeilt, von welchem sie mit Recht voraussetzten, dass er in großer Gefahr schwebe.

Der auf so wunderbare Weise befreite arme junge Mann konnte übrigens keine Frage stellen. Seine Geistesgegenwart kehrte nur langsam zurück.

»Mein Onkel«, sagte er endlich mit veränderter Stimme, »habt Ihr ihn gesehen? Er muss doch bei Euch vorbeigekommen sein.«

»Wer denn?«, fragte der Prior erstaunt.

»Nun, dieser Mensch – der Elende, der mich verwundet hat!«

»Ein Mensch? Träumst du? Ohne Zweifel hat dieser unglückliche Knabe einen heftigen Schlag an den Kopf bekommen. Besinne dich doch, mein lieber Leonce, es ist ja kein Mensch, mit welchem du zu tun gehabt hast, sondern jenes Ungeheuer, welches man die Bestie des Gévaudan nennt!«

»Die Bestie des Gévaudan? Wisst Ihr das gewiss, mein Onkel?«, fragte Leonce, dessen Gedanken allmählich wieder erwachten. »In der Tat, ich werde nicht wagen, etwas zu behaupten, denn ich weiß kaum, wo ich bin. Dennoch aber kann ich nicht glauben, dass es ein wildes Tier sei, welches mich auf diese Weise misshandelt hat.«

»Aber himmlische Güte, was soll es denn sein?«, fragte der Hirt. »Wenn Ihr die Wunde sehen könntet, die Ihr hier auf der Schulter habt, so würdet Ihr in dieser Beziehung keinen Zweifel mehr hegen. Welch ein Biss! Es ist ein Jammer. Aber machen wir, dass wir hier fortkommen. Es würde nichts taugen, sich hier zu erkälten. Die Nacht bricht ein und die Bestie ist verteufelt hartnäckig. Wenn es ihr einfiele, uns von Neuem anzugreifen, so würden wir vielleicht nicht die Stärkeren sein. Nach Sonnenuntergang ist in diesem Wald nichts zu gewinnen.«

»Dieser wackere Mann hat recht«, sagte der Prior, der nun in Bezug auf seinen Neffen beruhigt, wieder um seiner selbst willen ängstlich zu werden begann. »Machen wir uns ohne Verzug auf den Weg. Welch ein unheimlicher, düsterer Ort! Bleiben wir nicht länger hier. Auch bedarfst Du schleuniger Hilfe, mein guter Leonce. Also Mut, und bemühen wir uns, so schnell wie möglich das Schloss zu erreichen.«

Es war nicht schwer, Leonces Maultier wieder zu finden. Nach dem Sturz seines Reiters war es ebenfalls zusammengebrochen und hatte sich so in dem Gestrüpp verfangen, dass es nicht aufstehen konnte. Mit großer Mühe gelang es Jean Godart endlich, es wieder auf die Beine zu bringen, und er beeilte sich, es seinem Herrn zuzuführen.

Schon bei den ersten Schritten aber sah man, dass der Verwundete nicht imstande war, sich auf dem Tier zu halten. Sein Kopf schwankte bald rechts, bald links und sein verwundeter Arm konnte die leichte Last der Zügel nicht tragen. Nun zögerte Jean Godart nicht länger. Ohne weitere Umstände schwang er sich auf die Kruppe des Maultieres. Während er den Neffen des Priors mit einem Arm an sich drückte, ergriff er mit der anderen Hand die Zügel und rief:

»Vorwärts! Vorwärts! Wenn wir aus dem Wald hinaus sind, werden wir sehen, wie wir die Sache weiter zu ordnen haben. Jetzt aber ist nicht der Augenblick zu langer Überlegung. Castor spitzt schon wieder die Ohren und knirscht mit den Zähnen. Vorwärts – und du, Castor, pass gut auf! In einer Viertelstunde sind wir außer Gefahr.«

Er trieb das Maultier vorwärts, und Bonaventura folgte ihm, während der Hund knurrend hinterdrein ging und häufig sich umsah.