Timetraveller – Episode 9
Es war ein kalter Spätherbstabend; die Temperaturen waren in den letzten Tagen rapide gesunken. Nebel zog durch Londons Straßen und schluckte alle fernen Geräusche, das Pflaster glänzte feucht.
Der Kutscher, in einen langen Mantel mit hochgestelltem Kragen gehüllt, brachte die Pferde mit einem Ruck an den Zügeln zum Stehen. Es war ein schweigsamer Gesell, dessen derbes Gesicht unter dem Schatten der Hutkrempe verschwand. Ohne Wort und Regung verharrte er auf dem Bock, als sich die Tür der Kutsche öffnete.
Martin entstieg ihr mit einem eleganten Sprung und landete sicher. Er klopfte sich mit beiden Händen auf die Oberschenkel, als wolle er Staub oder Dreck entfernen. Dann offerierte er der Dame, die sich im Innern gerade von den roten Polstern erhob, galant seine Hand. Dankbar nahm sie diese Geste der Höflichkeit an und kletterte sorgfältig heraus. Als er sie wieder losließ, hob sie mit zierlichen Fingern ihr Kleid an und machte einen übertriebenen Knicks.
»Vielen Dank, Sir. Sie sind ein echter Gentleman.«
Nach diesen Worten beugte sie sich zu dem Mann hin und drückte ihm einen feuchten Kuss auf die Wange. Eine leichte Röte überzog Carters Gesicht, und er wischte sich mit der Hand die nassen Spuren weg.
»Du bist unmöglich, weißt du«, murrte er verhalten.
Madlene lachte vergnügt und knuffte ihn neckisch in die Seite.
»Ach, nun sei doch nicht so, Bruderherz.«
Martin seufzte ergeben. Seiner Schwester machte es ungeheuren Spaß, ihn immer wieder in Verlegenheit zu bringen – am liebsten vor Gesellschaft. Sie schaffte das jedoch stets auf so liebreizende Art, dass er ihr selten länger als eine halbe Minute böse sein konnte. Und das wollte er sich dann – im Nachhinein, wenn ihm Zeit blieb, länger darüber nachzudenken – nicht verzeihen.
Sie zog einen Schmollmund, als sie seinen düsteren Blick sah.
»Na, nun komm aber. Das war doch nur ein nett gemeinter Gutenacht-Kuss. Außerdem hat’s der Kutscher nicht gesehen.«
Tatsächlich hockte dieser immer noch wie aus Stein gehauen auf dem Kutschbock und schien sich für nichts in seiner Umgebung zu interessieren. Zumindest wurde er jedoch Zeuge der Diskussion des Geschwisterpaars – und obwohl Martin beim Gedanken daran unwillig vor sich hin brummte, musste er bereits wieder ein wenig grinsen.
Es war ein schöner und entspannender Abend gewesen. Sie waren zusammen ins Theater gegangen; Madlenes Mann, Sir Collinsworth, setzte sich nur ungerne solchen Vorführungen aus – zu sehr gehen sie am Ernst des Lebens vorbei, pflegte er häufig genug zu sagen. So blieb es oft genug dem Bruder überlassen, die hübsche junge Frau zu solch Gelegenheiten auszuführen. Denn Madlene liebte diese Stücke, egal, ob es nun Dramen oder Komödien waren. Wahrscheinlich lag die Anziehungskraft des Theaters auch ein wenig in ihrer beider Blute; denn Lloyd Carter, ihr Vater, war ein bekannter Kritiker gewesen.
Andrew Collinsworth indessen, der seine fast zwanzig Jahre jüngere Frau in der Obhut ihres Bruders sicher wusste, ließ sie ohne Bedenken ziehen, damit sie diesen kleinen Freuden nicht entsagen musste.
Und auch dem jungen Carter konnte dies nur recht sein. Nur zu gerne schwelgte er in der Erinnerung an die neidischen Blicke, welche ihm die anderen männlichen Theaterbesucher zuwarfen; aber auch in den Augen der Frauen las er das Interesse an seiner Person – wer sich mit solch reizender Dame blicken ließ,musste einfach eine gute Partie sein.
Bei diesem Gedanken wurde sein Grinsen nur noch breiter.
»Martin Carter! Um keinen Pfennig möchte ich wissen, woran du jetzt wieder denkst!«
»Nur an einen gelungenen Abend, Mylady!«, strahlte er sie an. Sie hob skeptisch die Augenbrauen.
»Du solltest dich jetzt auf den Heimweg machen. Für das kühle Wetter bist du wahrlich unpassend angezogen.«
Tatsächlich trug er nur eine leichte Jacke. Er zuckte mit den Schultern und hob ihre Hand, um sie sacht mit den Lippen zu berühren.
»Wie Mutter immer zu sagen pflegt«, sprach er, während er sich aufrichtete, »hör auf deine kleine Schwester, Martin!«
»Kleine Schwester, pah.«
Er grinste wieder unverschämt, stieg zurück in die Kutsche und winkte ihr noch mal zu.
»Na los, fahren Sie zu, Mann!«, rief er zu dem Kutscher hoch.
Madlene wartete, bis die Kutsche im wirbelnden Nebel verschwunden war, und drehte sich dann um. Bevor sie noch die breite Treppe erreicht hatte, war auch das Rattern der Räder verstummt.
Ihre Gedanken beschäftigten sich immer noch mit ihrem Bruder, als sie das schlurfende Geräusch hörte. Den rechten Fuß bereits auf der ersten Stufe hielt sie inne und blickte sich um, aber niemand schien in der Nähe zu sein. Wahrscheinlich hatte sie sich getäuscht – der Nebel hatte die Eigenschaft, Wahrnehmungen zu verzerren. Dennoch fühlte sie sich unbehaglich. Fröstelnd zog sie ihren Mantel ein wenig enger und nahm die nächsten Stufen in Angriff, als erneut ein Geräusch erklang.
Kein Schlurfen dieses Mal, eher wie das Knarren einer alten Tür, oder vielleicht das Ächzen eines Rades in einem schlecht geschmierten mechanischen Getriebe – sie konnte es nicht einordnen.
Und obwohl die Sicherheit und Wärme des Hauses in greifbarer Nähe waren und lockten, drehte sie sich noch einmal um.
Aus dem Nebel schälten sich die Umrisse einer männlichen Gestalt, die hinter der alten Esche hervortrat, die sich in ungefährer Mitte zwischen Tor und Treppe gen Himmel streckte.
Madlene erschrak, und ihr Herz begann schneller zu schlagen. In einem ersten Fluchtreflex wollte sie die Treppe hoch hasten. Aber dann blieb sie doch stehen.
Auch wenn die Gestalt unsicheren Schrittes auf sie zu kam (die Bewegungen waren nicht rund, sondern irgendwie – abgehackt), so hatte sie dennoch etwas Vertrautes an sich. Der Mann war nicht besonders groß, aber stämmig. Er trug einen dunklen Anzug und einen Hut. Mehr konnte sie bei den Lichtverhältnissen noch nicht erkennen.
Der Gedanke, der Mann könne ihr Böses wollen, wurde in den Hintergrund gedrängt; immerhin, sie befand sich nur wenige Schritte von der Haustür entfernt, hinter den Fenstern brannte noch Licht, und gewiss würde niemand auf die Idee kommen, sie hier überfallen zu wollen, oder?
Stattdessen erwachte ihre Neugierde. Der Mann kam mit ungelenken Schritten näher, während sie ihm auf der Treppe abwartend entgegen sah. Tatsächlich, die Körperhaltung erinnerte sie an jemanden, aber an wen? Ein Freund ihres Mannes, vermutlich. Aber wo hatte sie ihn schon gesehen?
Je näher er kam, umso mehr Details erkannte sie auch. Der Anzug war nicht mehr der neueste, war an mehreren Stellen abgenutzt und zerknittert. Den rechten Fuß hatte der Mann auf eigentümliche Art und Weise nach innen gedreht – ob das seine unbeholfene Gangart beeinflusste?
Der Hut war tief in die Stirn gezogen, der Kopf nach vorne geneigt, die Schultern hochgezogen, sodass sie sein Gesicht immer noch nicht erkennen konnte. Dennoch war sie sich jetzt sicher, zu wissen, mit wem sie es zu tun hatte.
»Sir? Sir Edward Grittle?«
Der Angesprochene reagierte nicht darauf, kam aber unvermindert näher. Nun packte Madlene Collinsworth doch wieder die Angst, und sie wich einen Schritt die Treppe hoch zurück.
Hatte Andrew jemals einen Bruder Sir Grittles erwähnt? Sie konnte sich nicht erinnern, aber …
Der Kopf des Mannes ruckte hoch, und sie sah in seine glanz- und ausdruckslosen Augen. Er war nur mehr zwei Schritte von ihr entfernt, direkt vor der Treppe.
Der Schrei, den Madlene ausstoßen wollte, blieb in ihrer Kehle stecken.
Auch wenn das Gesicht ungewöhnlich bleich war, so schien doch ein Irrtum ausgeschlossen: Es war Edward Grittle.
Aber das war unmöglich! Sir Grittle war tot, vor zwei Wochen gestorben!
Und doch stand er nun hier vor ihr, hob in einer flehenden Geste die Hände und sah sie mit diesem stumpfsinnigen Blick an.
War er scheintot begraben worden? Madlene hatte von derartigen Fällen gehört. Vielleicht erklärte das auch seine etwas ramponierte Kleidung?
»Mein Gott, Sir Edward! Was …«
Sie kam nicht dazu, den Satz zu Ende zu sprechen. Ruckartig schnellten Grittles Hände vor und schlossen sich um ihren Hals. Im ersten Moment dachte sie noch, er wolle sich bei ihr abstützen und wollte ihm unter die Arme greifen. Dann jedoch spürte sie die Härte seines Griffes, der unerbittliche Druck der Daumen auf ihren Kehlkopf. Sie röchelte und rang nach Luft.
Ihre Finger schlossen sich um die Handgelenke des scheinbar Verrückten, die Nägel gruben sich in sein kaltes Fleisch und rissen es ein. Vergebens – ihr Gegner schien keinen Schmerz zu spüren. Verzweifelt versuchte Madlene, seinen Griff zu sprengen. Rote Flecken begannen vor ihren Augen zu tanzen. Ein metallener Geschmack füllte ihren Mund.
Und keine zehn Schritte entfernt wartete die Wärme des trauten Heimes an diesem Abend vergebens auf sie; im Haus bemerkte niemand ihren aussichtslosen Kampf mit dem Tod.
Kurze Zeit später schluckte der Nebel den Mörder, umschlang ihn mit einem schützenden Mantel. Zurück blieb die Gattin von Sir Andrew Collinsworth, leblos auf den untersten Stufen der Treppe liegend.
Die vollständige Story steht als PDF-Download zur Verfügung.
Bisherige Downloads: 2906