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Die Tauscher 20

die-tauscherDr. Uwe Krause
Die Tauscher Teil 20

Hammerstain hatte das dringende Bedürfnis den Professor loszuwerden, zumal der ihn immer wieder anschaute, als wüsste er, dass Hammerstain heimlich Schokolade genascht hätte. Vielleicht wäre es eine gute Idee gewesen, Grünwang geradeheraus zu fragen, was er mit seinen Anspielungen bezwecken wollte. Aber mehr als an diese Idee zu denken, gelang Hammerstain nicht. Er konnte sie nicht ausführen, so, als ob ihm die Worte dafür fehlten.

»Was raten Sie mir?«, fragte Grünwang.

Hammerstain deutete mit einer leichten Kopfbewegung auf die Sandsäcke, die die Eingangstreppe flankierten.

»Zurzeit sollte man nichts an die große Glocke hängen«, sagte er, »versuchen Sie, die Unterlagen anderweitig zu lagern. Und ändern Sie die Zugangszahlen für den Tresor.«

»Beides?«, fragte Grünwang erstaunt.

»Einer von außen würde den Tresor auf jeden Fall öffnen. Egal, welche Kombination Sie für das Schloss wählen. Und falls es jemand aus dem Institut ist, würde der ebenfalls vor einem leeren Tresor stehen.«

»Nun ja, die Sache scheint mir eher kurios als gefährlich«, gestand Grünwang, »unsere Forschungen werden ja sowieso der Öffentlichkeit zugänglich gemacht.«

Der Professor wedelte ein Taxi heran, das eben durch die Engstelle schlich.

»Im Augenblick ist das Meiste sowieso nur Versuchsanordnung oder pure Theorie. Vielleicht in zehn Jahren oder in zwanzig …«, erklärte er noch, nachdem er das Fenster des Wagens heruntergekurbelt hatte.

»Offensichtlich gibt es Leute, die weniger Zeit haben«, sagte Hammerstain. Das Taxi fuhr los.

Leute, die keine Zeit haben. Oder Leute, die keine Zeit brauchen.

»Was brabbeln Sie da?«, erkundigte sich die Levinsohn.

»Nichts für die Öffentlichkeit.«

»Ach so, die Phase der Offenheit ist vorbei«, war Sara Levinsohn jetzt vergrätzt.

»Nicht ganz«, knurrte Hammerstain. »Ich sage es Ihnen ganz offen. Wir gehen jetzt zu meiner Wohnung. Und dort bleiben Sie.«

»Und Sie?«

»Wird sich ergeben.«

Auf dem Rückweg kamen sie an einem Zeitungsjungen vorbei, der das letzte Extrablatt anpries. In den vergangenen Tagen hatten die Zeitungen mehrmals täglich Extrablätter gedruckt, und in jedem Fall ging es um einen Bandenkrieg. Inzwischen musste die Zahl der Opfer im hohen zweistelligen Bereich liegen, um die Rotationsmaschinen überhaupt in Gang zu setzen.

»So viel Blut gab es noch nie zu diesem Preis«, knurrte Hammerstein, als er dem Jungen eine Münze in die Hand drückte und nach der Zeitung schnappte.

Fräulein Levinsohn ging neben Hammerstain und bemühte sich um einen Blick auf die Überschriften. Die häufigste Worte waren Massaker, Gemetzel, Schlachtfeld und Blutbad.

»Wie schrecklich«, stöhnte sie.

»Wenn Sie es so schrecklich finden, dann hören Sie auf, mir Ihre spitzen Ellbogen in die Rippen zu stoßen, um es lesen zu können.«

»Meine Ellbogen sind nicht …«, begann Fräulein Levinsohn. Dann fuhr sie fort: »Was soll´s.«

»Für meine Rippen hat es eine Bedeutung«, stichelte Hammerstain, aber seine Begleiterin war schon wieder völlig von den roten Balkenüberschriften in Anspruch genommen.

»Es ist ein fürchterlicher Gedanke, all diese Leute mit Waffen«, kommentierte sie.

»Ellbogen und spitze Werkzeuge sind auch nicht ohne.«

»Sie finden das auch noch witzig?« Es war das erste Mal an diesem Tag, dass Fräulein Levinsohn zu gewohnter Form auflief. Sie deutete vage auf die Häuser. »Hier findet ein Krieg statt. Das muss man sich mal vorstellen. Wahrscheinlich gibt es so viele Waffen, dass man eine ganze Armee damit ausrüsten könnte.«

»Wahrscheinlich.«

»Und jeder zweitklassige Ganove hat jetzt den Drang, sich zum großen Häuptling aufzuschwingen.« Sara Levinsohn deutete auf einen der Artikel. Darunter war eine der grob gerasterten schwarz-weißen Fotografien, die mittlerweile typisch für die Extrablätter der Stadt waren. Sie zeigten liegende Gestalten in unnatürlichen Verrenkungen auf einem gefleckten Untergrund.

»Ja, hier ist es wohl bei dem Versuch geblieben.«

Fräulein Levinsohn kapitulierte vor Hammerstains Zynismus. Sie verschränkte wieder die Arme, am liebsten wäre sie wahrscheinlich in sich selbst hineingekrochen, in die eigene Haut als Schneckenhaus.

Hammerstain betrachtete das Foto. Die Abbildungen ähnelten sich wie billige Grabsteine auf einem Armenfriedhof. Ein absolut passender Abgang für diese unterklassigen Pistolenschwinger.

Und trotzdem – dieses Foto setzte irgendetwas in Hammerstains Gedanken in Gang. Wieder einmal konnte er es nicht fassen, obwohl seine Kiefermuskeln spielten, als wollte er den schwindenden Begriff mit den Zähnen festhalten.

Er räusperte sich, nachdem er eine Seite umgeschlagen hatte.

»Hier.«

»Ach, jetzt ist mein spitzer Ellbogen wieder gefragt?«, maulte Fräulein Levinsohn. Trotzdem reckte sie den Kopf, und Hammerstain musste niesen, weil ihre Hutfeder seine Nase gekitzelt hatte.

»Banküberfall«, sagte Fräulein Levinsohn, »vier in Serie. Warum soll ich mir das anschauen?«

»Weil es wichtig ist. Die klugen Jungs holen die Knarren raus und prüfen, wer von ihnen übrig bleibt. Und die ganz klugen Jungs wissen, dass die Polizei beschäftigt ist, und nutzen ihre Chance.«

»Die Zahl derartiger Delikte ist in den letzten zwei Wochen um mehrere Hundert Prozent gestiegen«, las Fräulein Levinsohn laut vor. Fragend blickte sie zu Hammerstain. »Und was ist daran wichtig? Außer für Statistiker.«

»Das Motiv.«

Sara Levinsohn blieb stehen und blickte Hammerstain finster an. »Wenn Sie mir nicht sofort sagen, was Sache ist, fange ich an zu schreien und behaupte, Sie hätten mich belästigt.«

»Ich Sie belästigt? Das würde Ihnen sowieso keiner abnehmen. Und falls doch – dann würde ich auf zeitweiligen Irrsinn plädieren«, grinste Hammerstain und ging weiter.

Hinter ihm kreischte Fräulein Levinsohn und trippelte dann hastig hinter ihm her. Als sie wieder an seiner Seite war, sagte Hammerstain: »Motiv. Warum bringt jemand Alfred Zucker um? Um ihn zu beerben? Möglich. Aber …« Hammerstain deutete auf den Artikel im Extrablatt, »… vielleicht will der Mörder ja etwas ganz anderes. Chaos. Er will die Polizei beschäftigen. Er will die anderen bösen Jungs ablenken. Und er will sein Spiel spielen.«

»Und welches Spiel wäre das? Ganz locker Banken ausrauben?«

»Möglich.«

Fräulein Levinsohn legte die Stirn in Falten. »Vielleicht ist es eine politische Sache. Berlin versinkt im Chaos. Das gefällt dem Rest des Reiches bestens.«

»Könnte sein. Oder der Täter will etwas verbergen. Er will keine Banken ausrauben, aber er will seine Pläne durchziehen, ohne dass jemand es merkt. Genau wie die Leute, die das Radio lauter stellen, bevor sie ihre Frau vermöbeln.«

Hammerstain begleitete die Levinsohn bis zur Tür seiner Wohnung.

»Hat uns das jetzt geholfen?«, fragte Fräulein Levinsohn, als sie schon im Flur stand.

»Was mich angeht, finde ich das nämlich jetzt alles noch verwirrender«, gestand sie.

»Manchmal muss es schlechter werden, bevor es besser wird.«

»Und was soll ich jetzt machen? Mir die Nägel polieren?«

»Schauen Sie sich noch einmal das Archiv an. Fangen Sie an zu wühlen, vielleicht findet sich was.«

Hammerstain war schon halb aus der Tür, als ihm noch etwas einfiel. »Ich muss wissen, wer für das Foto mit dem Raketentest verantwortlich ist. Das Foto ist eine Fälschung. Irgendwer hat Interesse, die Öffentlichkeit zu übertölpeln. Von wegen erster Aufstieg der Rakete und so. Und irgendwer hat die Fälschung in die Zeitungen gebracht. Bringen Sie mir den Namen.«

»Warum mache ich eigentlich immer alle Arbeit?«, fragte Fräulein Levinsohn ironisch, aber sie sprach zu einer schon zugeknallten Wohnungstür.

Hammerstain schlenderte die Straße entlang. Von der Schießerei war nichts mehr zu merken, abgesehen von den Wagen der Glasereien, den helleren Stellen an den Fassaden, wo Kugeln den Stein weggeschlagen hatten und dem Tankwagen der Stadtreinigung, der mit einem Wasserschwall Gehsteig und Straße reinigte. Das Wasser, das in den Rinnstein floss, hatte eine blassrosa Färbung, die auf seltsame Weise nach Kinderspielzeug aussah. Die Passanten hasteten vorbei, ohne sich groß um die Szene zu kümmern.

Ein Messingschild neben der zerstörten Eingangstür glänzte noch immer, als wäre es ein unerschrockener Posten in tadelloser Uniform. Es trug den Namen einer Reederei. In der untersten Zeile stand: Inhaber A. S. Zucker.

Hammerstain hatte nicht aufgepasst und trat in eine Pfütze, die von der Reinigungsaktion übrig geblieben war. Das Wasser war von fadem Grau, vermischt mit Rot und hinterließ auf den Schuhen einen deutlichen Rand.

Hammerstain zerkaute einen Fluch und überlegte, ob er noch einmal zurückgehen sollte. Dann fand er sich wieder in Bewegung, seine Beine hatten ihm die Antwort gegeben und trugen ihn zum nächstgelegenen Platz. Auf dem Weg dahin ging er unter der Doppelbrücke durch, die er aus seinem Fenster sehen konnte. Auf den gusseisernen Bögen saßen Tauben, der Boden war von ihrem Kot gesprenkelt. Hammerstain zog unwillkürlich den Kopf ein, als ein Zug über ihm entlang raste und die gesamte Konstruktion mit höllischem Lärm zusammenzubrechen schien. Die schlafenden Tauben ließen die Köpfe unter den Flügeln, ein dünner Schleier von getrocknetem Taubenkot rieselte von den Balken auf die Fahrbahn.

Hammerstain legte einen Schritt zu und stand wieder im Freien, bevor der nächste Zug kam. In seinen Ohren schepperte es noch immer.

Durch das anhaltende Pfeifen drang ein Name. Jemand rief ihn. Hammerstain drehte sich um, zu schnell und auffällig, wie ihm selbst klar wurde. Aber die Stimme war hell und kindlich und gehörte zu einem Jungen, der neben seinem Schuhputzzeug auf Kunden wartete. Jetzt, wo Hammerstain ihn anschaute, verstummte er und tat auffällig unauffällig. Hammerstain wollte diese dürre kleine Rotzbacke ignorieren, aber Florian ging auf ihn zu, setzte sich vorsichtig auf den zusammengezimmerten Sitz und stellte einen Schuh auf das Podest.

»Schwere Aufgabe«, sagte der Junge. Entweder hatte Hammerstain eine Tendenz, sein Schuhwerk besonders erfolgreich zu verschmutzen, oder dieser Spruch gehörte zum Standardrepertoire der Schuhputzerjungen in dieser Stadt. Hammerstain dachte an seinen Besuch in der Nachbarschaft der Kupferhütte und zog die Schlussfolgerung, dass beides stimmte.

»Leg einfach los«, sagte er.

Der Junge begann zu wischen, zu bürsten und mit einem Tuch zu wienern. Dabei schaute er allerdings immer wieder zu Hammerstain hoch, als wollte er feststellen, ob der durch seine Lederschuhe hindurch kitzlig sei oder so etwas. Seine Augen waren ein wenig zu groß für das Gesicht und dieses Gesicht wirkte seltsam alt, weil sich unter der glatten Haut die Muskeln durchdrückten wie Steine durch eine Picknickdecke.

»Was ist«, grunzte Hammerstain ungnädig. Seine Blicke schweiften über den Platz, über Taubenschwärme, Zeitungskioske, Imbissbuden, Plakatsäulen. Das alles war ihm zu voll, zu hektisch, zu unübersichtlich. Eine Polizeistreife lief am Rand des Platzes entlang. Die beiden Beamten schlenderten nicht, sondern marschierten im Gleichschritt, das Gewehr geschultert. Sie sahen kriegerisch aus, nur ihre birnenförmigen Figuren und die riesigen Schnauzbärte zeigten, dass es Schupos waren, denen man Feuerwaffen in die Hand gedrückt hatte.

»Was herausgefunden?« Der Junge bürstete mit gesenktem Kopf und voller Konzentration, aber er hatte eben diesen Satz gesagt.

»Häh?«, machte Florian.

»Wegen Onkel Hassel.«

»Du meinst Werner Hassel?«

»Sag ich doch, Onkel Hassel.«

»Er war dein Onkel?«

Der Junge wühlte in seiner Kiste voller Tuben und Dosen mit Schuhwichse. Es war eine reine Verlegenheitsgeste.

»So ziemlich«, sagte der Junge dann, »er und meine Mutter wohnten mal zusammen, und als sie wegging, durfte ich bei ihm bleiben.«

»Und nun?«

Der Junge zuckte die Achseln. »Ich schlafe mal hier, mal da. Ich komme zurecht.« Ein Strahlen lief über sein Gesicht. »Ich kann sogar was sparen. Ich mache den Führerschein und werde Taxifahrer.«

»Warst du in der Wohnung, als die Einbrecher kamen?«

Der Junge schüttelte den Kopf, dass seine dünnen Haare flogen. »Nein, das habe ich Ihnen schon alles erzählt. Als wir unser Geschäft abgeschlossen haben.«

Hammerstain massierte sich die Narbe an der linken Schläfe. Das Gewebe schien sich in einen glühenden Draht verwandelt zu haben, der sich durch die Haut fraß.

»Erzähle es mir noch einmal!«

»Alles vergessen?«

»Wenn man eine Geschichte zum zweiten Mal erzählt, fallen einem manchmal wichtige Einzelheiten wieder ein, die man vorher zu erwähnen vergessen hatte«, lenkte Florian ab.

Der Junge bearbeitete den zweiten Schuh und redete mit gesenktem Kopf. Kein Beobachter hätte bemerkt, dass in diesem Augenblick so etwas wie ein Gespräch stattfand.

»Danke, aber unser Geschäft war, dass Sie ermitteln und ich Ihnen umsonst die Schuhe putzen«, sagte der Junge und hielt die schwere Münze auf der offenen Handfläche.

»Spare sie für den Führerschein«, sagte Florian, »ich weiß selbst, wieviel Geld das kostet.«

Warum habe ich das jetzt gesagt, fragte sich Hammerstain, als er über den Platz ging. Wenn er nicht aufpasste, kamen ihm solche Sachen über die Lippen, aber es war etwas anderes, als wäre man wütend, würde rot sehen und wie wild fluchen.

Hassel hatte Besuch bekommen. Danach hatte er den Jungen zu einem Bekannten geschickt. Inzwischen war klar, dass er den Jungen aus der Schusslinie nehmen wollte. Also wusste Hassel, dass er irgendeinen brisanten Gegenstand bei sich hatte – übernommen von diesem geheimnisvollen Besuch. Vielleicht hatte ihm der Besucher nicht die Wahrheit gesagt. Vielleicht war Hassel selbst neugierig geworden, hatte angefangen auf eigene Kosten zu schnüffeln, um etwas über das Objekt herauszufinden. Und das hatte ihm das Leben gekostet. Weil andere Leute so auf ihn aufmerksam wurden.

Hammerstain zuckte zusammen, als ihn jemand am Arm zupfte.

Es war der Junge. »Hab was vergessen«, keuchte er.

»Und?«

»Also, als dieser Mann zu Onkel Hassel kam, da hatte er was vergessen!«

»Ich höre?«

»Das war so eine komische Mütze. Sah aus wie ein Blumentopf mit Quaste.«

»Mach, dass du zu deinem Stand kommst.«

»Ein Kumpel passt auf.«

Der Junge rannte wieder zurück, eine dürre Gestalt mit lächerlich dünnen Beinchen, viel zu dicken Knien und Klamotten, denen man ansah, dass sie mit größter Mühe saubergehalten wurden.

Ein Fes also. Hammerstain begann zu zählen, wie viele Passanten mit einem Fes ihm begegneten. In den nächsten Minuten waren es drei, alle trugen den langen, eng geschnittenen Gehrock, der für die Untertanen des Sultans charakteristisch war.

Kurze Zeit später begegneten ihm Offiziere in Uniform, auch sie trugen einen Fes in Rot, Grün oder Schwarz.

Hammerstain hatte den Eindruck, als hätte man irgendwo ein Nest dieser Fes-Träger ausgehoben. Bisher waren ihm die Passanten mit dieser Kopfbedeckung niemals aufgefallen.

Seine Laune wurde dadurch nicht besser und sie blieb auf demselben Niveau, als er die Tür seiner Wohnung aufschloss. Fräulein Levinsohn schaute aus ihrem Büro.

»Auf die Dauer wird es langweilig, sich die Fingernägel zu lackieren«, klagte sie.

»Sonst noch was?«

»Ja«, erklärte Sara Levinsohn kampflustig, »wir gehen heute aus.«

»Ist mir neu.«

»Jetzt nicht mehr. Ach, kommen Sie, Herr Hammerstain, wir beide brauchen eine Abwechslung.«

»Ich brauche ein paar Antworten und dazu ein paar Fragen zu den Antworten.«

»Die werden Sie heute sowieso nicht mehr bekommen.«

»Wenn Sie sich amüsieren wollen – nur zu. Ich bin ein Spaßverhinderer«, wehrte sich Hammerstain.

Aber Fräulein Levinsohn ließ nicht locker. »Wir waren noch niemals zusammen aus.«

»Das hat was zu bedeuten.«

»Absolut. Aber wenn ich einen Kopf kürzer gemacht werde, will ich zumindest dieses Vergnügen gehabt haben.«

»Wieso Vergnügen?«, murrte Hammerstain.

»Stimmt. Wieso Vergnügen.« Die Levinsohn stemmte die Hände in die Hüften und schob den Kopf vor. »Wahrscheinlich würde mir ein vergnügter Abend mit Ihnen den Abschied von dieser Welt sogar sehr erleichtern.«

»Ist anzunehmen. Wieso gehen Sie nicht alleine oder mit einem Bekannten?«, fragte Florian.

»Weil ich mich sicherer fühle, wenn Sie bei mir sind.« Und dann fügte Fräulein Levinsohn noch schnell hinzu: »Aber das ist mir selbst peinlich.«

»Soviel zu meinem Ruf als Ladykiller«, griente Hammerstain, »aber Sie ziehen sich was anderes an und ich habe Sie gewarnt.«

Im Grunde war ihm der Vorschlag ganz recht. So konnte er sich zumindest für einige Zeit von den Gedanken befreien, die durch seinen Kopf zogen und dort nur zu randalieren schienen, aber keine feste Gestalt annehmen wollten.

Dann stellte Florian fest, dass Fräulein Levinsohn die Aufforderung, sich etwas anderes anzuziehen, sehr ernst nahm. Und dass er entsprechend Muße hatte, über diesen Jungen nachzudenken, mit dem er offensichtlich ein Geschäft wegen Walter Hassel abgeschlossen hatte. Darum schnüffelte er also in diesem Fall, wegen eines halb verhungerten Schuhputzbengels und deshalb fühlte sich Zucker plötzlich auf den Schlips getreten. So ein Zufall. Hammerstain steckte zwei Finger in den Kragen und lockerte seinen Binder. Die Vorstellung machte ihn wütend. Ein blöder Zufall hatte alle diese Ereignisse in Gang gesetzt und nun steckte er mitten im Schlamassel. Aber vielleicht – und Hammerstain war sich nicht sicher, ob diese Vorstellung besser war – gab es ja keine Zufälle. Sondern nur Verknüpfungen und Folgen, die man nur noch nicht durchschaut hatte.

»Heißes Teil«, platzte Florian heraus, als Fräulein Levinsohn nach endlos langer Vorbereitung endlich auftauchte.

»Was meinen Sie?«, fragte sie hoffnungsvoll.

»Das Kleid natürlich«, sagte Hammerstain.

»Na ja, immerhin«, murmelte die Levinsohn, merklich enttäuscht und Hammerstain grinste. Er hatte ihr die Wunschantwort nicht gegeben.

 

Inzwischen war es ein lauer Abend mit angenehmen Temperaturen.

Florian hatte keine Ahnung, wo sie hingehen wollten, aber Fräulein Levinsohn schob ihren Arm unter seinen und lotste ihn in die gewünschte Richtung. Florian spürte beim Gehen die Bewegungen ihrer Hüfte, ihren Arm und empfand etwas, für das ihm nur die lächerliche Bezeichnung süße Schwäche einfiel, die er aus einem kitschigen Frauenroman haben musste.

Sie kamen an der Querstraße mit der Polizeiwache vorbei. Das Gebäude und die Straße davor wurden von großen Scheinwerfern, die auf den angrenzenden Dächern montiert waren, in grelles Licht getaucht.

»Angeblich haben die alle Scheinwerfer von Kriegsschiffen abgebaut und hierhin geschafft«, erklärte Fräulein Levinsohn.

»Wie schön, wenn ein Scheinwerfer reicht, um Licht in eine Sache zu bringen«, sagte Hammerstain.

Nach einigen Hundert Metern hätten auch Scheinwerfer keine zusätzliche Helligkeit mehr verbreitet. Aus den Schaufenstern, von den Fassaden der Geschäfte und Kaufhäuser strahlte Licht auf die Straße. Leuchtreklamen gossen ihren roten, gelben, grünen und blauen Schein über die Passanten, bauten an den Fassaden ihre wechselnden Werbebilder auf und wieder ab und erneut auf. Ihr Blinken und Flackern wirkte wie eine perfekte Illustration zur nervösen und hektischen Atmosphäre. Von den Hochhäusern schnitten Scheinwerferstrahlen wie gleißende Schwertklingen durch die Nacht, suchten die ankommenden Luftschiffe und hüllten die silbernen Rümpfe in Glanz.

Auch auf der Erde hatte der Verkehr nicht abgenommen, die Straßenbahnen und Busse waren noch immer bis auf den letzten Platz gefüllt, der Gehsteig wimmelte von Menschen, die auch immer wieder auf die Fahrbahn auswichen.

Florian hatte zuerst Bedenken – das Gesicht von Sara Levinsohn war tagelang groß in allen Zeitungen zu sehen gewesen. Sie war die Hassperson Nummer Eins gewesen, der öffentliche Feind. Aber diese Stadt hatte offensichtlich ein sehr kurzes Gedächtnis. Oder sie hatte andere Sorgen. Obwohl sich hier niemand Sorgen zu machen schien. Im Gegenteil, denn in die sonst übliche, konzentrierte Eile mischte sich jetzt eine lockere und entspannte Stimmung. Vor den Schaufenstern standen die Bewunderer der Auslagen, vor den Kinos herrschte Gedränge, vor den Restaurants wartete man auf einen freien Tisch und ließ sich derweil schon das erste Glas servieren.

Wie konnte ich das alles vergessen?, fragte sich Florian. Das alles war so laut, so hell und zugleich so herrlich, mitreißend und lebendig, dass es sich selbst in die Erinnerung eines Kieselsteins einprägen müsste.

»Wohin gehen wir?«, fragte Florian.

Fräulein Levinsohn trug einen ihrer Glockenhüte, unter dem ihr Kopf verschwand und nur das Gesicht sichtbar blieb. Sie hatte sich sorgfältig geschminkt, mit einem knallroten Mund, der jeder Verkehrsampel Konkurrenz machte. Florian fand, dass seine Begleiterin hinreißend aussah. Aber er erkannte auch ihre Absicht. Oder zumindest eine ihrer Absichten, denn Sara Levinsohn sah so gut aus wie so ziemlich jede andere Frau in der Umgebung, sofern diese nicht noch hübscher wirkte.

Fräulein Levinsohn schien seine Gedanken zu erkennen.

»Ich sehe aus wie eine x-beliebige Tippmamsell«, stellte sie befriedigt fest.

»Normalerweise spachteln sich Frauen nicht stundenlang so auf, um x-beliebig auszusehen«, sagte Florian.

»Wie oft, glauben Sie, habe ich mir schon sehnlichst gewünscht, so eine X-beliebige zu sein. Einfach nur Sara Soundso, ersatzweise Frieda Müller. Aber bestimmt nicht Sara Levinsohn.«

»Und jetzt sind Sie Assistentin von Silwester Hammerstain und schon dadurch geehrt unter Ihrem Geschlecht«, spottete Florian, »und wohin gehen wir hin?«

»Revuepalast.«

»Sagt mir nichts«, sagte Florian.

»Sollte es aber. Denn laut Rechnungen haben Sie in den letzten Jahren dort ungefähr zehn Kubikmeter reinen Alkohol auf Ihre Leber losgelassen. Was seltsam ist, denn man sollte immerhin so nüchtern bleiben, um den Tänzerinnen auf die Beine glotzen zu können.«

»Aha, da ich derzeit ziemlich trocken bin, soll ich das Glotzen jetzt also nachholen?«

»Weniger, nebenan ist ja auch der Tanzpalast. Und da waren Sie noch nie.«

Florian hielt es für keine gute Idee sich an einem Ort zu zeigen, an dem er offensichtlich schon oft gewesen war. Ein Gefühl des Unbehagens sendete Warnsignale. Wenn er so oft dort gewesen war, dann wussten auch andere Personen, dass er sich dort blicken lassen würde. Und vielleicht war es die Sorte von Personen, denen er nicht begegnen wollte.

Florian seufzte. Wahrscheinlich war es egal. Schließlich stand sogar sein Name an der Wohnungstür. Die ganze Sache war wie eine Achterbahn – er musste versuchen, sie ohne Übelkeit zu überleben. Das Wort Achterbahn verursachte bei ihm einen verwirrenden Kitzel, aber wieder fand er keinen Grund.

Der Revuepalast war ein hell erleuchtetes Gebäude aus Beton und Glas. Die Fensterwände, durch die der Blick in das Innere fiel, wirkten so, als würde sich das Haus langsam entkleiden – was ganz gut zu einem Teil des Programms passte, das im Inneren ablief.

Florian sträubte sich, aber Fräulein Levinsohn zog ihn gnadenlos die Eingangstreppe hoch. Zahlreiche Menschen stiegen neben ihnen die pompöse Treppe empor und ebenso viele kamen ihnen entgegen, ganz offensichtlich bestens gelaunt und in den meisten Fällen leicht bis weniger leicht beschwipst.

»Ich bin mir nicht sicher«, begann Florian einen letzten Fluchtversuch.

»Aber ich für Sie mit«, konterte Fräulein Levinsohn mit der Überzeugungskraft eines autoritären Kindermädchens, »außerdem wollte ich schon immer mal hierhin gehen, aber irgendwie habe ich es nie geschafft. Und keine Angst um Ihre Moral, Herr Hammerstain, vor Mitternacht haben die Girls auf der Bühne noch ein Fitzelchen Stoff am Leib.«

»Ich nehme an, meine Aufenthalte hier waren selten vor Mitternacht beendet?«

»Muss ich das noch gesondert erwähnen? Nach den Rechnungen haben Sie das erste Glas nicht vor Eins getrunken.«

»Warum bewahren Sie solchen Kram von Rechnungen auf?«, polterte Hammerstain ärgerlich.

Fräulein Levinsohn strahlte ihn an, während sie ihren Mantel an der Garderobe abgab. Sie genoss es ganz offensichtlich und sehr ungeniert, dass Florian seine Besuche peinlich waren.

»Ich bin Ihre Assistentin«, lächelte sie ihn an, »und ich musste schließlich meistens für die Bezahlung sorgen und erklären, warum es damit so lange dauert.«

Sie stieg mit dramatisch wiegenden Hüften die Treppe zum Hauptsaal hinauf. Hammerstain schluckte. Diese Körperregion war eindeutig zu ansehnlich, um sie nur zum Sitzen zu verwenden. Was die Levinsohn da vollführte, war ein Balztanz. Warum? Er musste vorsichtig sein. Er durfte ihr nicht trauen. Fräulein Levinsohn hatte einen Plan.

Die Lampen spiegelten sich in dem Goldglanz ihres Kleides. Oben drehte sich Sara Levinsohn um, zwinkerte Hammerstain zu und wickelte eine Perlenkette um den Finger. »Können wir? Ich habe die Tischnummer.«

Florian trottete hinter ihr her. An der Seite des Saales verlief eine Bar, wahrscheinlich war sie länger als zwei Fußballfelder. Sie war dicht besetzt mit Männern und Frauen, die auf den hohen Hockern saßen und darauf warteten, dass ihnen die wuselnden Barkeeper ihren Drink servierten. Barkeeper gab es in Kompaniestärke, das beruhigte Florian. Die Wahrscheinlichkeit, hier als Stammgast erkannt zu werden, war erfreulich gering. Vielleicht war es gerade das, was ihn hierhin getrieben hatte? Sich namenlos, aber doch in Gesellschaft den Verstand wegsaufen? Aber warum? Die Narbe an seiner Schläfe pochte.

Die Ventilatoren an der hohen Decke mühten sich redlich, konnten aber die verrauchte Luft nur zu einem milchigen Dunst verquirlen, dem die Leuchten einen magischen Schimmer verliehen. Ein Orchester an der entfernten Schmalseite übertönte mit seinen flotten Klängen mühsam die Stimmen und das Lachen. Befrackte Kellner flitzten zwischen den Tischen umher, bei näherem Hinsehen waren es ebenso viele Kellnerinnen, die identische Kleidung trugen.

Fräulein Levinsohn steuerte auf einen Tisch in der Nähe der Bühne zu.

»Perfekt. Nicht zu nahe, um einen steifen Hals zu bekommen und auch nicht zu weit entfernt«, lobte sie ihre Auswahl. Sie setzte sich, stand wieder auf und nahm einen anderen Stuhl. Hier saß sie im Halbschatten. Hammerstain überlegte und setzte sich dann so, dass er direkt im Schein des Kronleuchters über ihnen war. Wenn ihn schon jemand suchen sollte, dann brauchte der sich nun nicht anzustrengen.

»Eigentlich bin ich ja ganz froh, dass Sie sich vom Alkohol fernhalten, aber hier Mineralwasser zu bestellen ist doch etwas peinlich.«

»Die Bedienung fand mich nicht peinlich«, lächelte Hammerstain boshaft und Fräulein Levinsohn verzog sich für eine Weile hinter die Getränkekarte.

Kurz danach war sie wieder besser gelaunt, was wahrscheinlich zum guten Teil auf den Champagner zurückzuführen war.

»Sie sollten den Unterschied zwischen Schnaps und Schampus beachten«, stichelte Hammerstain, »es ist der Schnaps, der gekippt werden soll, nicht der Champagner.«

Fräulein Levinsohn leerte ungerührt das zweite Glas.

»Ich muss ein wenig vorglühen«, erklärte sie, »um auf Temperatur zu kommen. Im Übrigen sind mir die Trinksitten beim Thema Champagner vertraut. Wahrscheinlich mehr als Ihnen, weil Sie nichts unter 80 % Alkohol über die Lippen lassen.«

»Könnte ich vielleicht ein Tässchen Kamillentee bekommen«, fragte Hammerstain mit schmeichelnder Stimme die Bedienung.

»Das ist etwas ungewöhnlich«, lautete die Antwort, »aber für Sie werde ich sehen, was sich machen lässt.«

Hammerstain schaute der jungen Frau nach, deren hübsche Figur auch durch den Frack nicht geleugnet wurde. Dann wandte er sich wieder an Fräulein Levinsohn: »Sie hatten etwas über mich und den Alkohol gesagt. Ich war gerade abgelenkt, können Sie das vielleicht noch einmal wiederholen, obwohl es mich nicht wirklich interessiert.«

Fräulein Levinsohn fletschte die Zähne, aber ihre Antwort wurde von einem Tusch übertönt. Ein Mann betrat die Bühne und machte einige routinierte Witze, die mit freundlichem Gelächter quittiert wurden. Dann trat ein Dialektimitator auf, der es schaffte, mit verschiedenen Stimmen ein Streitgespräch zwischen tschechischem Rekruten, gallizischem Rabbi und ostpreußischem Feldwebel vorzuführen. Der Saal brüllte vor Lachen, offensichtlich fand es das Publikum äußerst amüsant, dass ein Rekrut aus der Prager Vorstadt einen Rabbi in logische Widersprüche verwickelte, während der Feldwebel sich als typischer Hinterwäldler zeigte. Fräulein Levinsohn schüttelte sich vor Lachen, Florian hatte seine Assistentin noch nie so gelöst erlebt und bedauerte, dass er, aus welchen Gründen auch immer, die Anspielungen, Sticheleien und Seitenhiebe nicht verstehen konnte, die alle anderen begeisterte. Der Imitator, seiner kehligen Aussprache nach wohl selbst ein Kind einer Prager Vorstadt, genoss den Applaus, ließ sich ein Glas Champagner servieren und begann in leichtem Plauderton die Vorbereitung für die nächste Szene. Es ging um einen Leutnant Pepi – schon bei dessen Erwähnung brach das halbe Publikum in Gelächter aus – einen Leutnant Lehmann – bei dessen Darstellung der Imitator steif wurde, als hätte er einen Besen verschluckt – und einen Herrn Silberfreund, der offensichtlich ein dicklicher Lebemann und Kunstkenner sein sollte.

Die Darbietung war wirklich gut, Florian ließ sich von der bombastischen Stimmung mitreißen. Als er einen Blick auf seine Begleiterin warf, stellte er erstaunt fest, dass Fräulein Levinsohn starr vor sich hinschaute und sich vergebens bemühte, ihre trübe Miene zu verstecken.

Der Beifall ließ den Saal beben, dann tauchte der Conferencier wieder auf, erzählte ein amüsantes Geschichtchen und kündigte dann schlicht an: »Und nun die Girls!«

Fräulein Levinsohn war inzwischen mit der Vernichtung des dritten Glases erfolgreich gewesen. Ihre Hautfarbe hatte eine Frische, als ob sie gerade einen Strandspaziergang gemacht hätte und ihre Augen funkelten, was ihr sehr gut stand. Allerdings beachtete sie Florian nicht, sondern konzentrierte sich völlig auf die Bühne. Der Vorhang wehte zur Seite, dahinter wurde eine doppelte Treppe sichtbar, über die nun die Girls nach unten tanzten.

Florian versuchte zu zählen, verhaspelte sich aber bei 25, als die Mädchen noch immer auf die Bühne strömten. Alle waren in dieselben kurzen grellbunten Röckchen und engen bunten Mieder gekleidet. Ihre Frisuren ähnelten einander und ihre Haarfarben waren allesamt Variationen von Blond.

Auch ihre Gesichter ähnelten sich – zwei Dutzend oder mehr knallrot geschminkte, in einem ständigen Lächeln eingefrorene Münder und schwarz umrandete Augen, die aus der weißen Haut herausstarrten wie aus einer Deckung. Wunderschön, erhebend, nichtssagend und so nährstoffreich wie Zuckerwatte.