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Die Tauscher 15

die-tauscherDr. Uwe Krause
Die Tauscher Teil 15

Vielleicht waren es nur Minuten, aber für Florian schienen es Stunden zu sein, als Fräulein Levinsohn endlich zurückkam. Sie schlenderte heran, schlenkerte mit ihrem Handtäschchen und ließ sich auch von Florians Gestik nicht zur Temposteigerung bewegen.

»Ich weiß jetzt, dass heute die Abfallstoffe abgeholt werden. Auch der C-Stoff«, erklärte sie mit Stolz erhobenem Kopf. Dann stockte sie, weil Florian kurz davor stand, sie zu erwürgen.

»Und ich weiß, dass der C-Stoff schon längst abgeholt wurde«, knirschte er, »und ich würde gewusst haben, wohin er gebracht wird, wenn Sie sich nicht herumgetrieben haben würden.«

Fräulein Levinsohn schaute ihn für einen Moment an, zur Salzsäule erstarrt. Dann flogen Hut und Handtasche hinter den Sitz und sie war trotz des engen Rocks mit einem Satz hinter dem Lenkrad, das eigentlich gar kein Lenkrad war, sondern eine waagerechte Stange mit zwei kreisförmigen Griffen an den Enden. Sie warf klackend einige Kippschalter um, der Anlasser jaulte und riss den Motor in die ersten hustenden Umdrehungen. Die Maschine brüllte auf.

»Wollen Sie laufen oder wird es noch was?«, giftete die Levinsohn Florian an, der mühevoll seine Beine in der engen Kabine unterbrachte und noch nicht saß, als sie schon losraste. An der nächsten Ecke gab es eine Vollbremsung.

»Links oder rechts?«

Florian deutete mit dem Daumen die Richtung an, dann mühte er sich mit dem Dach ab, durch das der Wind fauchte. Nach kurzer Strecke kam sie wieder zu einer Einmündung.

»Und nun?«

»Ich würde es gewusst haben …« Florian schaute sich um. Links stand ein Bierwagen, über eine Rampe wurden die Fässer heruntergerollt und auf dem Gehsteig gestapelt. Die Straße rechts war enger, aber es gab keine parkenden Wagen.

»Fahren Sie rechts.«

»Wenn Sie es sagen.«

Florian überlegte, wie schnell der gesamte Tankzug unterwegs sein konnte. Die Zugmaschine hatte ausgesehen wie ein fahrendes Kraftwerk, also konnte sie auf gerader Strecke Tempo machen. Beim Einbiegen allerdings musste sie Schritttempo fahren, vielleicht musste auch einige Männer aussteigen, um dem Fahrer Zeichen zu geben.

»Das war´s dann wohl.« Fräulein Levinsohn bremste und es gelang ihr, einen deutlichen Vorwurf an Florian in ihre Stimme zu legen. Sie standen an einer Kreuzung, in die mehrere Straßen mündeten. Klingelnd ratterte eine Straßenbahn vorbei. Die beiden streckten die Hälse und schauten sich um, aber nirgendwo war eine Spur des Tankzuges zu sehen. Es war vorbei. Zähneknirschend schaute Florian der Straßenbahn nach, die hinter einer Biegung verschwand. Dann stieß er mit dem Ellbogen Fräulein Levinsohn, dass die ächzte.

»Nach links.«

»Woher wollen Sie das wissen?«

»Detektivische Intuition.«

Aber es war keine Intuition irgendwelcher Art, es war der winzige Moment, in dem sich ein rotes Licht in einem Straßenbahnfenster spiegelte.

»Na, das haben wir doch hingekriegt«, erklärte Fräulein Levinsohn befriedigt, als sie die Tankwagen im Blick hatte. Dann zog sie mit einem Seitenblick ein wenig den Kopf ein, aber Florian gab keine Antwort. Stattdessen suchte er nach einer Position für seine Füße, in der ihm nicht die Hitze der Bremstrommel die Sohlen grillte.

»Da hätte ich ja besser den Tretroller genommen«, stöhnte Sara Levinsohn, während sie hinter dem Tankzug herzuckelte. Alle anderen Fahrzeuge überholten, teilweise auf abenteuerliche Weise und dies schien an Fräulein Levinsohn automobilistischem Selbstbewusstsein zu nagen.

Dann bog der Tankzug auf die Zufahrt einer mehrspurigen Schnellstraße ein. Er suchte sich seinen Weg durch das Wirrwarr wie Spaghetti verknoteter über- und untereinander gelegener Straßen. Fräulein Levinsohn verlor den Anschluss, weil aus allen Richtungen andere Wagen, Autobusse und Lastzüge auf- oder abfuhren und weil niemand ihrem Dreirad den Respekt zollte, den ein Lastzug mit rotem Warnlicht bekam. Einige Male nahm ihnen ein Bus oder ein Anhänger vollständig die Sicht und Fräulein Levinsohn musste im letzten Augenblick noch die Fahrbahn wechseln. Endlich erreichten sie die obere Etage einer mehrstöckigen Autobahn. Weit vorne wurden schwarze Wolken hochgeblasen und der Tankzug beschleunigte.

Irgendwann in der nächsten Stunde kam ein Augenblick, in dem sich Florian wunderte. Er wunderte sich darüber, dass gerade eben vier bis zum Anschlag gefüllte Tankanhänger im Renntempo knapp einen Meter an Hausfassaden entlang chauffiert wurden. Rollende Bomben, die bei jeder Querfuge laut quietschend abhoben und leicht schlingerten.

Aber irgendwie schien das alles normal zu sein und er entspannte sich wieder.

Florian bemerkte, dass hinter seinem Sitz eine Zeitung lag. Er holte sie hervor. Es war das Datum der zurückliegenden Woche, ein Tag, an den er sich nicht zurückerinnern konnte, als ob er dort gar nicht gelebt hätte oder als ob man ihm einen Teil seines Gedächtnisses entfernt hätte. Diese verdammte Droge, dachte er und schlug die Zeitung auf. In den Lokalnachrichten wurde ausführlich von der Ermordung eines Börsenspekulanten, dem man Verbindungen zur Unterwelt nachsagte, berichtet. Florian studierte den Bericht.

»Seltsam«, sagte er.

»Was?«

»Also, da ist dieser Kerl, im obersten Stockwerk eines Hochhauses, im Stockwerk darunter sind seine Gorillas und haben Treppen und Aufzüge im Blick. Zwischen diesen beiden Stockwerken gab es nur eine Wendeltreppe und einen Privatlift. Und dann wird dem Immobilienhai der Kopf durchlöchert und niemand weiß, wie der Mörder hereinkam und wie er spurlos verschwinden konnte.«

»Luftschiff vielleicht«, murmelte die Levinsohn.

»Könnte hinkommen. Das Dach ist für Landungen eingerichtet. Aber zur Tatzeit gab es ein Gewitter mit Wolkenbruch und Sturmböen, kein Wetter für Luftschiffe.«

»Dann weiß ich es auch nicht«, sagte die Levinsohn tonlos. Sie verriss das Steuer und hatte Mühe, das springende und schlingernde Dreirad wieder unter Kontrolle zu bringen.

»Was soll das? Ist das jetzt ein neuer Fall, von dem ich mal wieder nichts weiß?«, fragte sie dann mit ihrer normalen Stimme.

Florian hatte die Augen zugekniffen und mit dem Leben abgeschlossen. Jetzt faltete er sorgsam die Zeitung zusammen und schob sie zurück hinter den Sitz. »Manchmal fliegen mir die Fälle so zu.«

Beim Wort fliegen schien die Levinsohn zusammenzuzucken, aber es konnte auch der harte Schlag einer Querrille im Beton sein.

Der Lastzug bog ab, schlängelte sich durch ein schäbiges Stadtviertel und verschwand in der Einfahrt eines Fabrikgeländes. Hinter der mit Stacheldraht bewehrten Mauer waren nur ein hohes Backsteingebäude und mehrere noch höhere Schornsteine zu erkennen. Aus den Schloten quoll fetter schwarzer Rauch, der sich als Schleier über die Dächer der umliegenden Wohnhäuser legte.

Neben der Einfahrt stand in großen Buchstaben Gebrüder Hoschmann, industrielle Verbrennungsanlage. Ein widerwärtiger süßlicher Geruch lag in der heißen Luft und legte sich als Film auf die Schleimhäute und die Zunge.

Florian schaute sich um. Ihr Dreirad spiegelte sich im Schaufenster eines Lebensmittelladens und einige Kinder standen beisammen und diskutierten mit Hingabe über das Gefährt. Wohnhäuser mit fünf oder sechs Geschossen säumten die Straße, in der unteren Etage waren meist kleine Läden oder Werkstätten.

»Ein wahres Idyll«, kommentierte er.

Fräulein Levinsohn setzte sich in ihrem Sitz zurecht, der für ihre schmalen Schultern gemacht zu sein schien. »Die Leute sind zufrieden, wenn sie nicht von irgendwelchen Spinnern aufgehetzt werden«, sagte sie. Nach einer Stunde fragte sie: »Und was machen wir jetzt?«

»Warten.«

»Das tun wir schon seit drei Stunden.« Sie kramte nach ihrer Tasche und warf einen Blick auf die Uhr. »Ich habe heute noch einen Termin.«

»Wichtig?«

»Geht Sie nichts an!«

Florian straffte sich. Ein Lastwagen rumpelte die Straße entlang und bog auf das Industriegelände ab. Nach kurzer Zeit fuhr er wieder heraus und beschleunigte mit hämmernder Maschine. Am Haken hatte er einen Tankwagen.

»Hinterher.«

Fräulein Levinsohn startete den Motor. Das Geräusch setzte die Zuschauer, inzwischen so viel wie zwei Schulklassen, in äußerste Verzückung. Das Dreirad sauste los und holte den Lastwagen ein.

»Warum fahre ich eigentlich hinter diesem stinkenden Anhänger her?«, beschwerte sich Fräulein Levinsohn. In der Tat ging von dem Tankwagen ein scharfer chemischer Geruch aus, der wie ein Bohrer in die Nasenhöhlen ging.

»Weil das der C-Stoff ist.«

Vor Überraschung verriss sie das Lenkrad.

»Das könnte ein leerer Tankwagen sein, der irgendwohin gebracht wird.«

»Der ist voll, das sehe ich an den Federn«, sagte Florian.

»Aber es könnte irgendein Tankwagen von irgendeiner anderen Firma sein«, beharrte sie.

»Er hat dieselben Überlaufspuren unter den Tankdeckeln, die ich am Institut bemerkt habe.«

Fräulein Levinsohn hatte noch einen weiteren Einwand parat, verstummte aber, weil ihnen nun ein Lastwagen entgegenkam. Es war derselbe Wagentyp in derselben Farbe wie derjenige, den sie verfolgten.

»Vielleicht wird noch ein weiterer Tankwagen mit C-Stoff geholt«, überlegte Fräulein Levinsohn laut und formulierte damit Florians Gedanken.

»Haben Sie herausgefunden, wie viele Liter von dem Zeug jeweils abgepumpt werden?«, fragte Florian und gab sich dann selbst die resignierende Antwort, »natürlich nicht.«