Heftroman der

Woche

Neueste Kommentare
Archive
Folgt uns auch auf

Die Tauscher 14

die-tauscherDr. Uwe Krause
Die Tauscher Teil 14

»Was könnte das sein?«, fragte Fräulein Levinsohn.

Florian schaute aus dem Taxi auf die Stadt, die in der Abendhitze kochte. Am Himmel zogen schwere Gewitterwolken auf. Fräulein Levinsohn hatte ihren Bruder überredet, um eine Verschiebung der heutigen Sitzung zu bitten. Und wieder hatte Florian gemerkt, dass sie auch anders sein konnte. Liebevoll und besorgt und ganz ohne ihre übliche Kratzbürstigkeit und ihren Sarkasmus.

»Ich weiß es nicht«, antwortete er auf ihre Frage, »aber ich weiß, dass wir es nicht herausfinden, ohne uns das Institut anzuschauen.«

»Wie schön, wenn man für den nächsten Tag eine lohnende Aufgabe hat«, gähnte Sara Levinsohn.

Die letzte Aufregung des Tages bestand in dem schrillen Schrei, den sie ausstieß, als sie sich in das heiße Badewasser legte.

»An meine aufgeschürften Stellen habe ich gar nicht gedacht«, rief sie entschuldigend durch die Tür.

Florian stand am Fenster. Inzwischen blitzte es und die ersten Tropfen klatschten auf den Sims vor dem Fenster. Der scharfe Geruch nach feuchtem Staub stieg auf. Die Passanten beschleunigten die Schritte und klappten Regenschirme auf.

Florian hatte sich umgezogen. Er genoss das Gefühl, wieder ein frisches Hemd zu tragen.

Es war schwierig die richtige Schlafposition zu finden, weil er überall schmerzende oder druckempfindliche Stellen hatte. Aber die Erschöpfung trieb ihn in einen tiefen Schlaf. Er hatte einige wirre Träume, in denen er über eine endlose graue Ebene rannte und irgendjemand, den er nicht sehen konnte, ihn verfolgte.

Dennoch fühlte er sich am Morgen ausgeschlafen.

Fräulein Levinsohn tauchte im schimmernden Seidenpyjama und zerwühlten Haar aus dem Schlafzimmer aus und tappte gähnend ins Bad. Sie quietschte erschrocken und machte einen kleinen hilflosen Hüpfer, als Florian ihr einen guten Morgen wünschte. So wie sie dastand, wirkte sie fast wie ein kleines Mädchen. Niedlich. Und harmlos. Aber sie war kein kleines Mädchen und inzwischen begann in Hammerstain der Zweifel zu nagen, ob er überhaupt wusste, wer diese Sara Levinsohn eigentlich war.

Sie schwiegen sich beim Frühstück an, fast wie das alte Ehepaar, dass sie zumindest in der Eingangshalle des Hotels darstellten. Fräulein Levinsohn saß am Tisch und kaute an einem Hörnchen. Florian pendelte mit der Teetasse in der Hand zwischen Fenster und Tür. Von draußen fiel das grelle Licht eines Sommertages in den Raum. Der Himmel war mit einem gräulich-blauen Schleier bezogen, durch den die Sonne weißlich und verschwommen durchstach wie eine Schweißflamme.

»Wieso bekomme ich zum Frühstück eigentlich nie Schinken und Speck?«, meckerte Florian, »ich schreibe das immer auf die Bestellung und nie kommt was!«

Fräulein Levinsohn schaute ihn unter ihrem Pony her an und machte nur »Hahaha«.

»Was denn nun?«, giftete Florian, »ihr Frohsinn ist kein vollständiger Ersatz für ein vollwertiges Frühstück.«

»Ich habe Ihre Bestellung mit Mühe jedes Mal wieder ausradiert. Sie sind Armin Steingold, Bankier aus Königsberg, vergessen? Der gehört zur koscheren Kategorie. Falls wir diese Sache lebend überstehen, können Sie wieder zu Silwester Hammerstain, dem Schweinefleischfresser, werden.«

Florian schob kampflustig das Kinn vor. »Ist das jetzt ein Versuch, mich religiös zu diskriminieren, wertes Fräulein Levinsohn?«

Die angesprochene Anwesende bestrich in aller Gemütsruhe ein weiteres Hörnchen. Als die Marmelade zu ihrer Zufriedenheit untergebracht war, antwortete sie: »Das sei mir fern, werter Herr Hammerstain, allerdings ist Ihr Verzicht auf Teile eines Schweinekadavers nur der gerechte Ausgleich, dass ich meterweise Stoffstreifen um den Bauch trage und die fette Gemahlin eines Bankiers mime.«

»Und das werden Sie auch heute tun.«

»Den … den … den was auch immer werde ich tun«, rief Fräulein Levinsohn energisch und spritzte hoch. An ihrer Oberlippe und der Nasenspitze klebte ein Rest der roten Marmelade, aber sie achtete nicht darauf. Mit dem Hörnchen in der Hand fuchtelte sie in Richtung Florian. »Ich werde heute nicht die Königsberger Fettbacke geben, darauf können Sie Gift nehmen.«

»Werden Sie doch!«

»Werde ich nicht!«

»Werden Sie doch!«

»Und warum sollte ich?«

»Weil ich es Ihnen sage!«

Fräulein Levinsohn fiel auf ihren Stuhl zurück und fixierte das Hörnchen wie die Schlange das Kaninchen.

»Zucker hat bisher nicht angebissen«, kam es dann kläglich von ihr.

»Ist mir bekannt.«

»Vielleicht sollte man ihn nervös machen. Dass er glaubt, der Steingold wäre schon abgereist.«

Florian griff grinsend nach der Karaffe mit dem Orangensaft. »Einleuchtende Argumentation, die seltsamerweise perfekt zu Ihren Wünschen passt.«

Schweigend verdrückte Fräulein Levinsohn den Rest ihres Hörnchens. Dann schien ihr der Appetit vergangen zu sein.

Nach einer Weile räusperte sie sich. »Was hat der große Detektiv heute vor?«

»Mir das Institut für hyperenergetische Substanzen anschauen, das wussten Sie aber.«

Fräulein Levinsohn saugte an ihrer Unterlippe, dann holte sie tief Luft und sagte: »Wenn ich ganz lieb gucke, nehmen Sie mich dann mit?«

»Ich wette, lieb gucken können Sie gar nicht.«

Doch. Sie konnte. Und wie.

Hammerstain schaute aus dem Fenster und wartete darauf, dass sein Puls wieder auf Normalwert sank.

»Hat es gewirkt?«, kam es vom Tisch.

»Kein bisschen. Aber wenn Sie ein Fahrzeug organisieren, dann dürfen Sie mit.«

»Einverstanden, ich rufe eine Droschke.«

»Ich sagte Fahrzeug, nicht Taxi.«

»Und warum reicht Ihnen heute eine Droschke nicht?«

»Instinkt«, sagte Florian, »vielleicht auch Intuition.«

Später bereute er seine Entscheidung. Das war, als Fräulein Levinsohn mit dem organisierten Fahrzeug neben ihm am Randstein bremste.

Sie klappte das Dach hoch. Hinter ihr staute sich der Verkehr und Hupen quäkten. »Bisschen flotter, der Prinz mit der weißen Kutsche kommt heute nicht.«

Verärgert rutschte Florian neben ihr auf den schmalen, schalenförmigen Sitz. Sie klappte das Dach krachend zu, verriegelte mit der einen Hand und gab gleichzeitig Vollgas.

»Mehr als drei Räder rückt Ihr Bruder wohl nicht mehr raus«, spottete Florian.

Fräulein Levinsohn gab nur ein verachtungsvolles Püh zur Antwort und riss die Schaltratsche ein weiteres Mal nach hinten. Florian saß ungefähr auf Höhe der normalen Autoreifen, eingeklemmt zwischen den beiden Vorderrädern des Fahrzeugs. Hinter ihm rollte eine breite Gummiwalze, angetrieben von einem brüllenden Motor, der direkt an seinen Hinterkopf zu stoßen schien. Fräulein Levinsohn steuerte das Dreirad mit ihrem gewohnten Vorwärtsdrang. Überhaupt schienen Geschwindigkeitsbegrenzungen in Groß-Berlin zwar theoretisch vorhanden zu sein, wurden faktisch aber stets ignoriert. Da das Dreirad zwar breit und enorm laut, aber auch niedrig war, wurde es öfter übersehen. Zumindest die Bremsen funktionierten prachtvoll, davon konnte sich Florian überzeugen. Unangenehm war nur, dass das Fahrzeug bei jeder Vollbremsung zu hoppeln begann wie ein angeschossener Hase und das Hinterrad vom Boden hob. Dann heulte der Motor auf, Fräulein Levinsohn rammte die Schaltratsche blitzschnell mehrmals nach vorne und sie konnten weiterrasen. Ihr rechter Ellbogen landete immer wieder heftig in Florians lädierten Rippen und er war sich nicht sicher, ob dies an der engen Kabine oder an der Stimmung von Fräulein Levinsohn lag.

Das Institut für hyperenergetische Substanzen war in einem alten, schmucklosen Backsteinbau untergebracht. Nichts an dem Gebäude deutete auf den ersten Blick darauf hin, dass hier irgendwelche gefährlichen Forschungen stattfinden sollten. Sie fuhren langsam über das Kopfsteinpflaster der Straße, der Motor blubberte und knurrte und die Köpfe der Passanten wandten sich unvermeidbar in ihre Richtung.

»Geht es vielleicht ein wenig unauffälliger?«, raunzte Florian.

»Ja, mit einem Taxi!«

Fräulein Levinsohn bog in die Querstraße ein und umrundete das Gelände. Das Institutsgebäude lag inmitten einer zertretenen, gelblichen Rasenfläche, die an das Fell eines kranken Straßenköters erinnerte. Einige Platanen reckten eine Sammlung von grünen und braunen Blättern in die Höhe. Die Umgebung wurde von zahlreichen jungen Männern und Frauen in weißen Kitteln belebt, die in oder aus dem Institut eilten. Es erinnerte Florian ein wenig an das Sanatorium, nur dass die weißen Kittel hier bei genauerer Betrachtung allesamt Löcher und Flecken hatten.

Fräulein Levinsohn stieß einen Pfiff aus, als sie an der hinteren Gebäudeseite in die nächste Querstraße einbogen. Hier erhoben sich stählerne Tanks, wanden sich Röhren wie Schlangen und ragten schlanke Eisentürme in die Luft. Leitungen und Kabel aller Durchmesser verbanden die Türme, eine Kühlschlange tauchte in ein großes Wasserbecken, aus dem es dampfte. Das Ganze sah aus wie die Darstellung eines Gedärmes und war eine chemische Anlage, wie sie jedem Industriebetrieb zur Ehre gereicht hätte.

»Haben Sie die vielen geflickten Stellen gesehen? Überall Schweißnähte, andere Farben und aufgenietete Platten. Hier scheint es öfter mal laut zu krachen.«

»Nein«, patzte Fräulein Levinsohn, »habe ich nicht gesehen. Ich muss ja ein Auto fahren.«

»Dreirad. Das hier ist alles, nur kein Auto.«

Fräulein Levinsohn stieß ein kaum unterdrücktes Grollen aus und lenkte dann an den Straßenrand, gegenüber der chemischen Anlage.

»Und nun?«

»Nun gehe ich in das Institut und erkundige mich wegen diesem C-Stoff«, erklärte Fräulein Levinsohn, klappte das Dach hoch, stieg aus und setzte ihren Glockenhut auf, der in dem winzigen Gepäckabteil hinter den Sitzen auf diesen Moment gewartet hatte.

»Hatte ich Sie darum gebeten?«, fragte Florian.

»Nein, das tue ich ganz freiwillig«, kam die Antwort einschließlich eines übertriebenen Lächelns. Damit stöckelte Fräulein Levinsohn davon. Sie bremste ihr Tempo, als sie über das Kopfsteinpflaster musste, dann sauste sie mit ihren hohen Absätzen im Schnellschritt auf das Institut zu.

Florian schaute ihren wiegenden Hüften nach und seufzte. Direkt nachzufragen war keine gute Idee. Er hätte lieber beobachtet und abgewartet. Genau das tat er jetzt auch. Zwangsläufig. Das Dreirad stand zwar im Schatten eines Baumes, aber die Maschine hinter ihm strahlte die Hitze eines Hochofens aus, die sich mit der Tageshitze mischte. Florian arbeitete sich aus dem Sitz, klopfte die Falten aus seinem Anzug und setzte den Sommerhut auf. An den Baumstamm gelehnt, betrachtete er Fräulein Levinsohns Gefährt. Schnittig sah es schon aus, wie eine auf Räder gesetzte Rakete mit einer eindrucksvollen, offen liegenden und chromblitzenden Maschine im Heck. Ein hübsches Ding, dachte Florian, leider nicht für Menschen geeignet.

Er wartete. In der Luft lag ein scharfer, süßlicher Geruch, als würde man die Nase über ein Medikamentenfläschchen halten. Die schmale Straße war leer, nur die Institutsmitarbeiter hasteten mit wehenden Kitteln vorbei. Ihre Schritte klopften einen hastigen Rhythmus, ihre Gespräche drehten sich um Formeln und Mengen von Chemikalien. Der Verkehrslärm rauschte im Hintergrund, manchmal brummte ein Luftschiff über ihm.

Ein rotes Flackerlicht zog Florians Interesse auf sich. Das Warnlicht drehte sich auf dem Dach einer mehrachsigen Zugmaschine, die hinten in die Straße einbog. Sie fuhr langsam und vorsichtig, denn sie zog vier Tankanhänger. Der Zug auf Rädern rollte bis vor das Institut. Dort hielt er an, Männer sprangen aus der Zugmaschine und begannen, die Tankwagen abzukoppeln. In der nächsten halben Stunde konnte Florian miterleben, wie die Tankwagen, einer nach dem anderen, rückwärts auf das Institutsgelände geschoben wurde. Dort nahmen die Arbeiter ihre Zigaretten aus dem Mund, öffneten Tankdeckel, schleppten Rohrleitungen und drehten an Ventilen. Ein beißender Geruch mischte sich unter den schon gewohnten Mief.

Weil die Betankung inmitten der Anlage stattfand, konnte Florian nicht erkennen, welche der Institutstanks geleert wurden oder ob vielleicht der Inhalt der Tankwagen ausgepumpt wurde. Dann sah er, wie einer Männer, der oben auf dem Tankwagen stand, hinter einem Rohr zu versinken schien. Kein Zweifel, der Tank drückte die Federn nach unten, die Tankwagen wurden also hier vollgepumpt.

C-Stoff, fuhr es Florian durch den Kopf. Er wartete darauf, dass Fräulein Levinsohn wieder auftauchte, aber die ließ sich nicht blicken. Typisch. Florian knirschte mit den Zähnen. In der Anlage wurden Ventile geschlossen, Schläuche eingerollt und an andere Stutzen angeschraubt. Dann tauchten die Arbeiter wieder auf, überquerten die Straße und zündeten sich Zigaretten an. Sie kletterten bis auf einen in die Kabine der Zugmaschine. Aus den beiden senkrechten Auspuffrohren kam eine schwarze Qualmwolke. Die Zugmaschine setzte rückwärts auf das Gelände, die Tankwagen wurden angekoppelt, dann ging es vorsichtig zurück auf die Straße. Alle Anhänger hingen schwer in der Federung. Unter den Tankdeckeln zeigten sich Zungen von roter oder grüner Flüssigkeit, die beim Einfüllen übergelaufen war.

Wütend sah Florian zu, wie der Tankzug die Straße entlang kroch, abbog und verschwand.