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Aëlita – Teil 18

Alexej-Tolstoi-AelitaAlexej Tolstoi
Aëlita
Ein utopischer Roman

Die Nebelkugel

Beim Frühstück sagte Gussew: »Mstislaw Sergejewitsch, das ist nichts Rechtes. Wir sind weiß der Teufel wie weit geflogen, und nun – bitte schön – sollen wir in einem Krähwinkel hocken. Um es uns in der Badewanne wohl sein zu lassen, deswegen brauchten wir nicht hierher zu fliegen. In die Stadt haben sie uns nicht hineingelassen, nicht wahr, und der Bärtige – erinnern Sie sich, wie verdrießlich der dreinschaute? Mstislaw Sergejewitsch, nehmen Sie sich in acht vor dem. Einstweilen geben sie uns noch zu essen und trinken, aber was dann?«

»Wozu die Eile, Alexej Iwanowitsch«, erwiderte Losj und warf dazwischen einen Blick auf die himmelblauen Blumen, die einen süßen und zugleich etwas bitteren Duft ausströmten, »wir bleiben eine Weile hier, schauen uns um, und wenn sie sehen, dass wir nicht gefährlich sind, werden sie uns in die Stadt hineinlassen.«

»Ich weiß nicht, was Sie vorhatten, Mstislaw Sergejewitsch, aber ich bin nicht hierhergekommen, um zu faulenzen.«

»Was sollen wir denn nach Ihrer Meinung unternehmen?«
»Es ist sonderbar, das von Ihnen zu hören, Mstislaw Sergejewitsch. Ist Ihnen etwa schon etwas Süßes in die Nase gestiegen?«
»Wollen Sie sich mit mir zanken?«
»Nein, zanken will ich mich nicht mit Ihnen. Aber dasitzen und an Blumen riechen – das können wir auch auf der Erde nach Herzenslust. Ich denke jedoch so: Wenn wir als die ersten Menschen hier erschienen sind, so gehört der Mars uns, er ist sowjetisch. Und das muss schriftlich festgehalten werden.«
»Ein merkwürdiger Kauz sind Sie, Alexej Iwanowitsch.«
»Na, das wollen wir noch sehen, wer von uns beiden ein sonderbarer Kauz ist.« Gussew zog den Gürtelriemen zurecht, reckte die Schultern und kniff verschmitzt die Augen zusammen. »Es ist keine leichte Sache, das begreife ich selber: Wir sind ja nur zu zweit. Aber es ist notwendig, dass sie uns ein Schriftstück aushändigen, in dem sie den Wunsch äußern, sich der Russischen Föderativen Republik anzuschließen. So ohne Weiteres werden sie uns dieses Papier natürlich nicht geben wollen, aber Sie haben ja selbst gesehen, bei denen auf dem Mars ist auch nicht alles in Ordnung. Ich habe dafür ein geübtes Auge.«
»Wollen Sie hier etwa eine Revolution entfachen?«
»Wie soll man das sagen, Mstislaw Sergejewitsch? Wir werden sehen. Womit sollen wir denn nach Petrograd zurückkehren? Etwa eine getrocknete Spinne mitbringen? Nein, wir müssen zurückkommen und erklären: Bitte schön, hier ist der Anschluss des Mars an die Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken. Die werden sich schön giften in Europa. Allein das Gold – Sie sehen ja selbst, ganze Schiffe kann man vollladen. So ist das, Mstislaw Sergejewitsch.«
Losj betrachtete ihn nachdenklich. Es war nicht festzustellen, ob Gussew scherzte oder im Ernst sprach. Seine schlauen, einfältigen Äuglein lachten, aber irgendwo versteckt saß darin ein Fünkchen von Irrsinn.
Losj wiegte den Kopf und sagte, die durchsichtig wächsernen himmelblauen Blütenblätter der großen Blumen berührend, versonnen: »Ich habe mir gar nicht so recht überlegt, wozu ich auf den Mars fliege. Ich fliege, um irgendwohin zu kommen. Es gab Zeiten, da rüsteten Eroberer Schiffe aus und fuhren davon, um neue Länder zu entdecken. Wenn sich auf dem Meer eine unbekannte Küste zeigte, fuhr das Schiff in die Flussmündung ein, der Kapitän nahm seinen breitrandigen Hut ab und gab dem Land seinen Namen. Und dann plünderte er die Küsten. Ja, Sie mögen recht haben. Es genügt nicht, an einer Küste anzulegen, man muss das Schiff auch mit Schätzen beladen. Uns steht der Blick in eine neue Welt bevor – was für Schätze! Weisheit, Weisheit! – Das ist es, Alexej Iwanowitsch, was wir auf unserem Schiff vom Mars ausführen müssen.«
»Wir werden es nicht leicht haben, uns zu einigen, Mstislaw Sergejewitsch. Sie sind ein schwieriger Mensch.«
Losj lachte. »Nein, schwierig bin ich nur für mich selbst. Wir werden uns schon einigen, lieber Freund.«
An der Tür wurde gekratzt. Leicht niederhockend vor Furcht und Ehrerbietung erschien der Hausmeister und bat durch Zeichen, ihm zu folgen. Losj erhob sich eilends, fuhr mit der Hand über sein weißes Haar. Gussew zwirbelte sich entschlossen den Schnurrbart hoch. Die Gäste begaben sich über Treppen und Korridore in einen entfernten Teil des Hauses.

Der Hausmeister klopfte an eine niedrige Tür. Dahinter ertönte eine hastige, gleichsam kindliche Stimme. Losj und Gussew betraten ein langes weißes Zimmer. Lichtstrahlen, in denen Stäubchen tanzten, fielen durch die Deckenfenster auf den Mosaikfußboden, in dem sich gleichmäßige Bücherreihen, Bronzestatuen, die zwischen flachen Schränken standen, kleine Tische auf zugespitzten Beinen und die matten Scheiben von Fernsehschirmen spiegelten.

Nicht weit von der Tür stand eine junge Frau mit aschfarbenem Haar, in einem schwarzen Kleid, das bis zum Hals geschlossen war und an den Armen nur die Hände freiließ. Über ihrem hochgekämmten Haar tanzten Stäubchen in einem Strahl, der auf die vergoldeten Einbände der Bücher fiel. Es war dieselbe, die der Marsianer gestern am See Aëlita genannt hatte.

Losj verneigte sich tief vor ihr. Ohne sich zu rühren, schaute Aëlita auf ihn mit den geweiteten Pupillen ihrer aschfarbenen Augen. Ihr bläulich-weißes längliches Gesicht zitterte kaum merklich. Die leicht angehobene Nase und der ein wenig zu lange Mund waren kindlich-zart. Ihre Brust atmete unter den schwarzen weichen Falten wie beim Ersteigen eines steilen Berges.

»Ellio utara geo«, sprach sie mit leichter Stimme, zart wie Musik, beinahe im Flüsterton und neigte den Kopf so tief, dass ihr Nacken sichtbar wurde.

Als Antwort knackte Losj nur mit den Fingern. Er musste sich überwinden, um dann – unverständlich warum – schwülstig zu sagen: »Die Ankömmlinge von der Erde begrüßen dich, Aëlita.«

Sagte es und errötete. Gussew aber sprach würdevoll: »Wir freuen uns, Ihre Bekanntschaft zu machen. Regimentskommandeur Gussew, Ingenieur Mstislaw Sergejewitsch Losj. Wir sind gekommen, um uns für Ihre Gastfreundschaft zu bedanken.«

Nachdem sie die menschliche Rede angehört hatte, hob Aëlita den Kopf. Ihr Gesicht wurde ruhiger, die Pupillen verengten sich. Sie streckte schweigend den Arm aus, drehte die schmale Hand mit der Innenfläche nach oben und hielt sie so eine Zeit lang. Losj und Gussew begann es zu scheinen, als wäre auf ihrer Handfläche eine blassgrüne Kugel aufgetaucht. Da drehte Aëlita rasch die Hand um und ging an den Bücherregalen entlang in die Tiefe der Bibliothek.

Die Gäste folgten ihr. Jetzt sah Losj, dass Aëlita ihm gerade bis an die Schulter reichte, sie war leicht und zart, wie jene Blumen mit dem etwas bitteren Duft, die sie ihm heute Morgen gesandt hatte. Der Saum ihres weiten Kleides flatterte über den spiegelglatten Mosaikboden. Sich umwendend lächelte sie, aber ihre Augen blickten nach wie vor erregt und beunruhigt.
Sie wies auf eine breite Bank, die in einem sich erweiternden halbrunden Teil des Raumes stand. Losj und Gussew setzten sich. Aëlita nahm sogleich an einem Lesetischchen gegenüber Platz, stützte die Ellbogen auf und blickte sanft und unverwandt auf ihre Gäste.

So schwiegen sie eine kleine Weile. Allmählich begann Losj eine süße Ruhe zu empfinden, er hätte immer so dasitzen mögen und dieses wunderbare und merkwürdige junge Mädchen anschauen. Gussew seufzte, halblaut sagte er: »Ein nettes junges Mädchen, ein sehr angenehmes Mädchen.«

Da begann Aëlita zu sprechen. Es war, als hätte sie ein Musikinstrument berührt, so wundersam klang ihre Stimme. Zeile für Zeile wiederholte sie irgendwelche Worte, die Lippen kaum merklich bewegend. Ihre aschgrauen Wimpern senkten und hoben sich dabei abwechselnd.

Und wieder streckte sie die Hand aus, die Innenfläche nach oben gewendet. Fast sofort erblickte Losj und Gussew in der Vertiefung ihrer Hand eine blassgrüne nebelhafte Kugel von der Größe eines kleinen Apfels. Im Bereich seiner Sphäre flutete und bewegte sich alles.

Und jetzt blickten alle, Aëlita und ihre Gäste, aufmerksam auf diesen wolkigen opalisierenden Apfel. Plötzlich hörte das Strömen in seinem Innern auf, und dunkle Flecken traten hervor. Als Losj genauer hinschaute, stieß er einen Schrei aus: auf Aëlitas Hand lag die Erdkugel.

»Talzetl«, sagte sie und wies mit dem Finger darauf. Die Kugel begann sich langsam zu drehen. Es glitten die Umrisse von Amerika und die asiatische Küste am Stillen Ozean vorbei. Gussew wurde aufgeregt: »Das da sind wir, wir sind Russen«, sagte er und tippte mit dem Nagel seines Fingers auf Sibirien.

Als ein gewundener Schatten glitten die Höhenzüge des Urals vorbei, das Fädchen des Unterlaufs der Wolga. Die Küsten des Weißen Meeres zeichneten sich ab.

»Hier«, sagte Losj und zeigte auf den Finnischen Meerbusen. Aëlita hob erstaunt die Augen zu ihm auf. Die Kugel hörte auf, sich zu drehen. Losj konzentrierte sich, in seinem Gedächtnis erstand ein Stück der geografischen Karte und unverzüglich, gleichsam als ein Abdruck seiner Vorstellung, erschien auf der Oberfläche der nebligen Kugel ein schwarzer Klecks mit von ihm ausgehenden schwarzen Fäden. Das waren die Eisenbahnlinien, und auf der grünlichen Fläche eine Aufschrift: Petrograd.

Aëlita schaute unverwandt hin und verdeckte die Kugel, die jetzt zwischen ihren Fingern hindurchschimmerte. Sie blickte auf Losj und wiegte den Kopf.

»Oseo, cho sua«, sagte sie, und er verstand: Konzentrieren Sie sich und erinnern Sie sich.
Da begann er, sich die Stadt Petrograd zu vergegenwärtigen: den Kai aus Granit, die eisigen blauen Wellen der Newa, die von einem kleinen Boot durchschnitten werden, die im Nebel hängenden lang gezogenen Bogen der Nikolaibrücke, die dichten Rauchwolken der Fabriken, den Dunst und die Wolken des trüben Sonnenuntergangs, eine nasse Straße, das Ladenschild eines Kleinhändlers, den alten Droschkenkutscher an der Ecke.
Aëlita blickte, das Kinn in die Hand gestützt, ruhig auf die Kugel. Darauf glitten – bald deutlich, bald verwischt – die Erinnerungen Losjs vorüber. Jetzt erschien die matte Kuppel der Isaakkathedrale, und da trat auch schon an ihrer Stelle eine granitene Treppe am Wasser hervor, das Halbrund einer Bank, ein traurig dort sitzendes Mädchen, ihr Gesicht begann zu zittern und verschwand, über ihr zwei Sphinxe mit dreifachen Jiaren auf den Köpfen. Ziffernreihen glitten vorüber, eine Werkzeichnung, da war auch die lodernde Schmiedeesse und der die Glut anfachende finstere Chochlow.
Lange blickte Aëlita auf das merkwürdige Leben, das da an ihr vorbeizog in dem nebligen Strömen der Kugel. Doch jetzt begannen die Bilder sich zu verwirren. Beharrlich drängten sich die Umrisse von ganz anderen Dingen vor Streifen von Rauch und Feuerbränden, galoppierende Pferde, laufende und niederfallende Menschen. Da schob sich, alles verdeckend, ein blutüberströmtes bärtiges Gesicht in den Vordergrund. Gussew seufzte laut. Aëlita wandte sich ihm besorgt zu und drehte sofort die Hand um. Die Kugel war verschwunden.
Einige Minuten lang blieb Aëlita, die Augen mit der Hand verdeckend, sitzen. Dann stand sie auf und nahm einen der Zylinder vom Regal, holte eine bleierne Walze hervor und legte sie in den Kasten des Lesetisches mit dem Schirmchen. Danach zog sie an einer Schnur, und die oberen Fenster der Bibliothek überzogen sich mit einem Vorhang. Sie rückte das Tischchen zur Bank und drehte den Schalter.
Die Fläche des Schirmchens erhellte sich, und von oben nach unten glitten darüber Figuren von Marsianern, Tieren, Häusern, Bäumen und Geräten.
Aëlita nannte jede Figur bei ihrem Namen. Wenn die Figuren sich bewegten und vereinigten, nannte sie das Tätigkeitswort. Manchmal wechselten die Bilder mit farbigen Zeichen, wie in dem singenden Buch, und es ertönte ein kaum zu erlauschendes Bruchstück von Musik. Aëlita erklärte die Bedeutung.
Sie sprach mit leiser Stimme. Gemächlich glitten die Abbildungen der Gegenstände dieser merkwürdigen Fibel an ihnen vorüber. In der Stille des himmelblauen Dämmerlichts blickten aschgraue Augen auf Losj, und die Stimme Aëlitas drang wie ein milder und machtvoller Zauber in sein Bewusstsein. Ihn schwindelte.
Losj fühlte, wie sein Hirn klarer wurde, wie nebelhafte Schleier sich hoben und neue Worte und Begriffe sich seinem Gedächtnis einprägten. Das dauerte ziemlich lange. Aber jetzt fuhr Aëlita mit der Hand über die Stirn und löschte das Licht auf der Scheibe. Losj und Gussew waren wie benebelt.
»Gehen Sie und legen Sie sich schlafen«, sagte Aëlita zu ihren Gästen in der Sprache, deren Laute ihnen noch nicht vertraut waren, deren Sinn aber bereits in ihrem Bewusstsein aufdämmerte.