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Der goldene Fels – Kapitel 9

Der-goldene-FelsRobert Kohlrausch
Der goldene Fels
Kriminalroman, Alster-Verlag, Hamburg, 1915

Neuntes Kapitel

»Wenn ich mir ein Wort erlauben darf«, sagte Hofen, der sich auf Karl Georgs Zuruf erhoben hatte. »Meines Wissens darf die Lage des Toten in keiner Weise verändert werden, bis die Gerichtskommission ihn gesehen hat. Auch die Türen müssten wohl abgeschlossen werden.«

»Gewiss, gewiss, ich will das gleich besorgen.«

Der Schrecken hatte scheinbar günstig auf Helbigs Rheumatismus eingewirkt. Er war viel beweglicher geworden und ging hastig zu der Verbindungstür zu seinem Schlafzimmer, schloss ab und steckte den Schlüssel zu sich.

Karl Georg wandte sich zu der gegenüberliegenden Tür, die zu seinem Arbeitszimmer führte. »Diese Tür hier übernehme ich.« Er eilte hinaus, und man hörte gleich darauf den Klang des im Schloss gedrehten Schlüssels.

Hofen trat aber zum Überfluss noch einmal heran und vergewisserte sich durch einen leisen Druck auf die Klinke, dass die Tür auch wirklich verschlossen war, um dann zu Helbig zu sagen: »Wir dürfen uns jetzt wohl von diesem traurigen Anblick befreien. Dem armen Kerl können wir doch nicht mehr helfen.«

»Ja, wir wollen hinaufgehen«, antwortete der Kommerzienrat, lehnte jedoch Hofens wieder angebotene Führung ab, indem er sagte: »Lassen Sie’s gut sein, ich darf ja heute doch nicht an mich selber denken.«

Burkhardt hatte wie traumverloren dagestanden und in seltsamer Starrheit auf den Toten hinuntergeblickt. Er fuhr zusammen, als Hofen ihm nun die Hand auf die Schulter legte und sagte: »Wollen Sie nicht mitkommen, Herr Ingenieur?« Dann ging er mit ein paar unsicheren Schritten aus dem Zimmer und auf den Flur hinaus.

Martha folgte dicht hinter ihm, und während ihr Vater und Hofen die Tür des vom Todesgrausen erfüllten Raumes zum Flur hin jetzt auch sorgfältig verschlossen hatten, flüsterte sie Burkhardt eilig ein paar Worte zu.

»Du versprachst mir, sage mir, was du von Ebisbergs Tod weißt.«

Er starrte mit entsetzten Blicken in ihr bleiches Gesicht. »Ich schwöre dir, ich weiß nicht, wie er starb.«

»Ich muss dich sprechen, heute Abend.«

Sie konnte nichts weiter hinzufügen. Ihr Vater und Hofen waren zu ihnen hergekommen und schickten sich an, die Treppe hinaufzusteigen. Martha musste folgen, Burkhardt verließ das Haus. Er sah den angstvollen Blick nicht mehr, den sie hinter ihm her sandte.

Die beiden Herren gingen oben in den Salon zurück, wo sie vorher gesessen hatten. Martha flüchtete sich in das Kinderzimmer und hörte das heitere Geplauder ihres Knaben gleich einer fernen, freundlichen Musik in ihre wilden Gedanken hinein tönen. Aber die sanfte Melodie konnte den tobenden Sturm in ihrer Seele nicht beruhigen. Immer wieder hatte sie das Gefühl, als müsste sie laut aufschreien und es in alle Welt hinausrufen: »Gestern hat er ihm Rache geschworen und heute liegt Ebisberg tot! Erklärt es mir doch, löst mir das furchtbare Rätsel!«

Während sie so mit sich selbst und ihren Gedanken kämpfte, hatte Helbig mit vielfachem Überlegen und Stöhnen ein Telegramm an Ebisbergs Vater aufgesetzt, um ihn auf die furchtbare Kunde vorzubereiten, und es dem Diener zur Besorgung übergeben. Er sank nun wieder auf den Sessel neben Hofen und begann aufs Neue zu klagen. »Ach, es ist grässlich, grässlich! Was der Vater wohl sagen wird? Für unser Unternehmen in Amerika ist es auch eine furchtbar unangenehme Sache! Der Ebisberg war ein guter Geschäftsmann, immer geradeaus auf sein Ziel. Dass mir das passieren muss auf meine alten Tage! Wenn ich denke, dort unten in meinem Zimmer liegt er nun tot am Boden. Ich glaube, niemals kann ich wieder in Ruhe dort arbeiten. Ich hätte so viel zu tun, die Quartalsabrechnung von der Bank liegt auch hier, und ich habe sie nicht einmal ansehen können. Wenn die Polizei nur käme, dass wir den Toten aus dem Haus loswürden! Es kann ja doch nur eine Formalität sein, kann sich zweifellos nur um einen Herzschlag handeln. Und mit unserer Untersuchung wegen des unheimlichen Geräusches in der Nacht sind wir auch nicht weitergekommen. Über meinem Bett kratzt es in der Wand, in meinem Zimmer fällt ein Mensch tot um, es ist wahrhaftig eine stille, gemütliche Wohnung!«

»Sie müssen sich heute schonen, Herr Kommerzienrat, sich volle Ruhe gönnen. Ich komme, wenn Sie gestatten, morgen in aller Frühe wieder. Wir können dann zusammen weiter untersuchen.«

»Ja, tun Sie das. Ich habe Vertrauen zu Ihnen. Sie haben so was Festes und Sicheres.«

»Wenn ich Ihnen irgendwie dienen kann, Sie haben über mich zu befehlen. Und wenn ich mir einen Rat erlauben darf: Meiden Sie heute, nachdem die gerichtliche Besichtigung vorüber ist, Ihr Zimmer unten. Sie würden sich nur noch mehr aufregen und sich auch die nächste Nachtruhe zerstören.«

»Sie haben ganz recht, Herr von Hofen. Ich will alles tun, was mir über den furchtbaren Schlag weghelfen kann. Ich armer Mann, der heutige Tag ist ein Nagel zu meinem Sarg. Wenn ich daran denke, er war ja freilich herzleidend.«

»War der Verstorbene nicht ein Verwandter von Ihnen, Herr Kommerzienrat?«

»Nein, das nicht. Aber befreundet, sein Vater vor allem, der ist ein alter Geschäftsfreund von mir. Ach, dass ich ihm solch eine Nachricht über seinen einzigen Sohn geben muss! Er sollte gerade wieder hinüber nach Amerika, wo wir ein gemeinsames Unternehmen gegründet haben, er sollte die Sache leiten. Ich weiß noch gar nicht, wen ich an seine Stelle setzen soll.«

»Würde sich Ihr Herr Schwiegersohn dafür nicht eignen?«

»Der? O nein. Ich kann es Ihnen ja sagen, Herr von Hofen, dieser schreckliche Tag hat Sie mir ja gewissermaßen freundschaftlich näher gebracht. Mein Schwiegersohn ist auch eine der großen Sorgen für mich armen, schwer geprüften Mann. Mein mühsam verdientes Geld unter die Leute bringen, das versteht er, weiter nichts. Arbeiten, Gott bewahre! Sich amüsieren, Auto fahren, spielen.«

»Beim Spiel habe ich ihn freilich selbst ein paarmal getroffen. Er ist aber noch jung, und solch ein kleines Jeu …«

»Ein kleines Jeu ist ein großes Elend, mein lieber Herr von Hofen. Darin versteh ich keinen Spaß. Er weiß es auch. Ich ändere mein Testament, nächste Woche in Köln. Kreditlos lasse ich ihn erklären in den Zeitungen, oh, den Monsieur will ich schon klein kriegen!«

»Da gibt es wohl allerlei Störungen für den häuslichen Frieden.«

»Sprechen Sie lieber vom häuslichen Krieg, denn hier gibt es keinen Frieden.«

»Ist Ihr Herr Schwiegersohn denn wenigstens tüchtig in seinem Fach?«

»Er hat sich früher um sein Fach überhaupt nicht gekümmert. Erst in allerletzter Zeit ist er ein wenig eifriger geworden. Ich habe wenigstens kürzlich ein paar Bücher über Elektrotechnik in seinem Zimmer liegen sehen. Das ist für ihn schon viel.«

»War er mit Herrn Ebisberg befreundet?«

»Nein, das nicht. Sie haben einander nur wenig gekannt. Ebisberg war viel drüben, und überhaupt, sie hätten kaum füreinander gepasst. Ebisberg war Geschäftsmann durch und durch, und außerdem, von Toten soll man ja nichts Übles reden, aber im Wesen war er nicht übermäßig angenehm. Er war selbstbewusst, etwas von oben herunter. Mit meinem Ingenieur Burkhardt hat er …«

Ein Klopfen an der Tür unterbrach den Kommerzienrat. Er stöhnte. »Nur nicht schon wieder was Unangenehmes!«, rief aber dann mutig: »Herein!«

In die Tür trat ein Beamter der Fabrik, der Helbig einige Briefschaften übergab und ihm ein paar Meldungen erstattete. Meist waren es gleichgültige Sachen, doch eine von ihnen weckte nicht nur beim Kommerzienrat, sondern auch bei Hofen lebhaftes Interesse. Sie besagte, dass vor ungefähr einer halben Stunde Kurzschluss an der Hauptstromleitung in der Fabrik eingetreten, der Betrieb daher für kurze Zeit unterbrochen sei.

»Kurzschluss?«, riefen Helbig und Hofen gleichzeitig. Aber während jener das Wort mit einer Geste des Ärgers begleitete, zeigte dieser ein plötzliches Aufhellen der Gesichtszüge, das merkwürdig war. Der Kommerzienrat beschränkte sich auch nicht auf den einen Ausruf, sondern fügte noch ein paar Fragen hinzu: »Ist man denn dabei, wieder Ordnung zu schaffen? Ist Herr Ingenieur Burkhardt nicht gerufen worden? Warum hat man mich nicht gleich benachrichtigt?«

»Herr Burkhardt ist persönlich an der Arbeit«, entgegnete der Beamte. »Der Schaden wird gleich behoben sein, lässt er sagen. Er wollte den Herrn Kommerzienrat nicht ohne Not beunruhigen.«

»Na, dann ist es ja gut. Und wenn Sie weiter nichts zu melden haben, können Sie wieder gehen.«

Als der Beamte sich entfernt hatte, sagte Helbig: »Ja, dieser Burkhardt! Ich werd’ es ihm nicht ins Gesicht sagen, aber das ist ein Elektrotechniker ersten Ranges. Auf den bin ich stolz, den hab’ ich nämlich zu dem gemacht, was er ist. Im Volk stecken doch die besten Kräfte, das kann ich Ihnen sagen, mein lieber Herr von Hofen. Ich selbst bin ein Sohn des Volkes, ich rühme mich dessen. Und Burkhardt, ist es auch. Sein Vater war Werkmeister bei mir. Er schickte seinen einzigen Jungen in die Realschule, sollte was Ordentliches lernen. Aber der Alte legte sich hin und starb, als der Junge noch in der Prima saß. Da bin ich eingetreten, hab’ es ihm ermöglicht, in Berlin und Hannover die technischen Hochschulen zu besuchen. Er ist ein riesig tüchtiger Kerl geworden, auch drüben in Amerika …«

»War er drüben?«

»Ja, mehrere Jahre. Hat sich da famos gemacht.«

»War er dort mit Herrn Ebisberg zusammen?«

»Zeitweise, jawohl, aber nur zufällig. Sie haben sich, so viel ich weiß, nicht glänzend vertragen.«

»Ich meine, Herr Kommerzienrat wollten vorhin gerade von den beiden etwas erzählen.«

»Ganz recht. Ich weiß die Geschichte selber nicht genau. Burkhardt hat, wie behauptet wird, einmal eine Weinflasche auf dem Kopf von Ebisberg zerschlagen.«

»Ist er jähzornig?«

»Das ist er. Sehr gutmütig, aber jähzornig. Du lieber Gott, meinem armen Ebisberg tut jetzt keine Weinflasche mehr weh. Gestern frisch und lebendig, und heute, wer hätte das erwarten können.«

»Ach, Herr Kommerzienrat, erwarten darf man nur das Unerwartete.«

»Das haben wir heute gesehen, Sie haben ja so recht. Wenn ich denke, wie harmlos ich in das Zimmer ging …«

Das Eintreten des Dieners unterbrach ihn. Die Gerichtskommission war gekommen. Die Herren warteten unten, um gleich zur Untersuchung zu schreiten.

Helbig schien seine Schmerzen tatsächlich vergessen zu haben. Er stand eilfertig auf, ohne sich dabei helfen zu lassen.

»Darf ich Sie hinunterbegleiten?«, fragte Hofen.

»Ich bin doch auch einer der Zeugen bei der Auffindung des Toten gewesen, man wird mich vielleicht gern vernehmen wollen.«

»Gewiss, kommen Sie mit. Ich bin ja froh, wenn ein verständiger Mensch mir zur Seite steht. Eine Gerichtskommission in meinem Haus! Ich glaube, den Tag überleb’ ich nicht.«

Sie stiegen die Treppe hinab und fanden unten im Flur die Wartenden. Der Landgerichtsrat Wolfert stellte sich dem Kommerzienrat als Leiter der Gerichtskommission höflich vor. Er war ein schon ergrauter, in seinen Bewegungen aber jugendlich gebliebener Beamter, der nun auch die Namen seiner Begleiter nannte. »Herr Doktor Charlier, Herr Assessor Liebenberg, Polizeikommissar Grabowski, Schutzmann Weber.«

Helbig, der mit bebender Stimme sich selbst und Herrn von Hofen vorstellte, war noch aufgeregter geworden, als er die fünf Gestalten feierlich vor sich aufgereiht erblickte.

»Um Gottes willen, Herr Landgerichtsrat«, rief er aus, »hier ist ja doch das Haus eines ehrlichen Mannes und guten Staatsbürgers. Warum denn solch ein Bewehr, wo sich’s doch sicher nur um einen einfachen Herzinfarkt handelt.«

Mit einem freundlichen, beruhigenden Lächeln sagte Wolfert: »Ich hoffe, wir brauchen Sie nicht lange zu stören. Aber wir müssen der Form genügen. Wollen Sie so freundlich sein und uns den Raum zeigen, wo der Verstorbene liegt.«

Helbig öffnete mit vor Aufregung zitternden Händen die Tür zu seinem Arbeitszimmer. In unveränderter Stellung lag Ebisbergs Körper dort ausgestreckt, sein starkes, bleiches Gesicht nach oben gekehrt.

Leise betraten die Herren das Gemach, in das helles Herbstlicht hereindrang. Leise wies der Leiter der Untersuchung dem Assessor seinen Platz für die Protokollführung an dem großen Diplomatenschreibtisch an.

»Darf ich zugegen bleiben«, fragte Hofen mit gedämpftem Ton, »oder soll ich hinausgehen?«

Wolferts Blicke ruhten einen Augenblick forschend auf seinem Gesicht. Während er aber mit seiner Antwort noch zögerte, trat rasch der Polizeikommissar neben ihn und flüsterte mit so leiser Stimme, dass keiner der übrigen Anwesenden es verstehen konnte, dem Untersuchungsleiter etwas ins Ohr. Er sagte gleich darauf zu Hofen: »Ich bitte Sie, zugegen zu bleiben.«

Hofen verbeugte sich leicht. Ein schwer zu deutendes, eilig wieder verschwindendes Lächeln glitt kaum bemerkbar über seine Züge.

Die Augenscheinnahme begann, die Feder des Protokollführenden flog mit leisem Geräusch, das in der tiefen, lastenden Stille deutlich vernehmbar war, über das Papier. Der Arzt war niedergekniet und untersuchte den Körper des Toten mit fachmännischer Sorgfalt. Er kam, soweit vor der Obduktion etwas Bestimmtes gesagt werden konnte, zu einem ähnlichen Ergebnis wie der zuerst herbeigerufene Hofrat: Wahrscheinlichkeit für einen Schlaganfall, aber die Möglichkeit eines Verbrechens nicht ausgeschlossen. Letzteres sogar wahrscheinlicher, weil der Verstorbene für einen Schlaganfall reichlich jung war.

»Wir müssen über diesen Punkt soweit als tunlich Klarheit schaffen«, sagte Wolfert. »Möchten Sie mir angeben, Herr Kommerzienrat, wer hier im Erdgeschoss zugegen war, als der Herr Ebisberg starb?«

»Hier im Zimmer war kein Mensch zugegen, das ist es ja eben! Es ist mein Arbeitszimmer, aber ich habe seit gestern so schändlichen Rheumatismus, ich saß oben im …«

»Es ist mir bereits gemeldet worden, dass niemand im Zimmer anwesend war, anscheinend wenigstens. Ich meine nur: Ist hier das Erdgeschoss ganz unbewohnt? Hat nicht etwa der Diener sein Zimmer neben der Haustür, wie das üblich ist?«

»Ja, der Diener, gewiss. Ich will gleich nach ihm klingeln.«

Der Gerufene erschien. Doch war er nicht imstande, Belangreiches auszusagen. Er hatte zu der fraglichen Zeit, wie der Kommerzienrat ihm bestätigte, den Auftrag erhalten, eine Flasche Lafitte aus dem Keller zu holen, und hatte dort etwas länger verweilt, weil er die bezeichnete Sorte nicht gleich hatte finden können. Als er wieder auf den Flur kam, war der Kommerzienrat bereits laut rufend aus dem Zimmer herausgestürzt, in dem er den Toten gefunden hatte. Geräusche irgendwelcher Art waren nicht in den Keller hinabgedrungen, der auf der anderen Seite des Hauses lag.

»War die Haustür verschlossen, während Sie drunten waren?«, fragte Wolfert noch.

Karl, der Diener, antwortete: »Nein, sie wird bei Tage nicht verschlossen gehalten. Ich bin ja sonst auch immer in meinem Zimmer daneben.«

Er wurde wieder hinausgeschickt, und Wolfert wandte sich abermals an Helbig. »War zu der fraglichen Zeit weiter niemand hier im Erdgeschoss?«

»Wer hier, ja, natürlich, mein Schwiegersohn, der Ingenieur de la Motte. Sein Arbeitszimmer ist unmittelbar nebenan. Und er muss um die Zeit hier gewesen sein, er kam ja herausgestürzt, als wir den Toten gefunden hatten.«

»Das Arbeitszimmer des Herrn ist nebenan? Da muss ich ihn vor allen Dingen befragen. Darf ich bitten, ihn rufen zu lassen?«

»Ja, gewiss, ich will selbst, ich weiß gar nicht, wo er geblieben ist, er hat sich nicht blicken lassen, seit …« Helbig war im Sprechen mit unsicheren Schritten zu der Verbindungstür nach de la Mottes Arbeitszimmer hinübergegangen. Als er nun die Hand auf die Klinke legte, fand er, dass die Tür verschlossen war. Er schlug sich mit der Hand auf die Stirn. »Ach, natürlich, wir sollten ja doch abschließen, und er hatte das für diese Tür übernommen, aber wenn er im Zimmer ist, Karl Georg, Karl Georg!«

Er klopfte noch ein paarmal, »Karl Georg!«, rufend, aber keine Stimme gab Antwort. »Soll ich einmal drüben nachschauen?«, fragte Hofen mit rascher Höflichkeit und eilte hinaus, als Wolfert ihn darum bat. Schutzmann Weber nahm auf einen Wink an der Nachforschung teil. Nach wenigen Augenblicken aber kamen sie bereits wieder zurück, und Hofen berichten, dass das Gemach nebenan auch von außen verschlossen sei.

»Wo steckt er nun wieder, dieser Mensch?«, rief Helbig ärgerlich. »Niemals ist er da, wenn man ihn braucht!«

»Seine Vernehmung ist mir die Wichtigste von allen«, sagte Wolfert, seinen gewohnten Gleichmut auch ein wenig verlierend. »Lassen Sie bitte nachsehen, ob der Herr de la Motte sich nicht sonst irgendwo hier im Hause aufhält.«

»Vielleicht ist er auch in der Fabrik«, bemerkte der Kommerzienrat. »Er müsste jetzt von Rechts wegen drüben sein.«

Der Diener wurde beauftragt, überall im Haus und in der Fabrik nachzusehen, ob de la Motte sich dort befände. Während er fort war, fragte der Landgerichtsrat. »In welcher Beziehung stand Ihr Herr Schwiegersohn zu dem Verstorbenen? Waren sie befreundet?«

»Nein, das nicht, weder befreundet noch das Gegenteil«, antwortete Helbig. »Sie haben einander überhaupt nur ein paar Mal im Leben gesehen und gingen ihre verschiedenen Wege.«

Nun warteten sie schweigend eine Weile, bis der Diener wieder kam. Er hatte de la Motte nirgends gefunden. In der Fabrik war er an diesem Vormittag überhaupt noch nicht gewesen.

Der Kommerzienrat schalt halblaut vor sich hin, während Wolfert fragte: »So müssen wir leider vorläufig auf diese Vernehmung verzichten. Wenn der Herr nach Hause kommt, veranlassen Sie wohl, dass er sich sofort bei mir meldet. Ich bitte Sie jetzt nur noch, mir zu sagen, wer außer Ihnen zugegen war, als der Tote hier gefunden wurde.«

»Gefunden habe ich ihn ja ganz allein«, entgegnete Helbig mit einem schweren Seufzer. »Ich vergesse den Schrecken Zeit meines Lebens nicht wieder. Aber gleich darauf ist hier der Herr von Hofen mit meiner Tochter Martha hereingekommen, später auch noch mein Ingenieur, der Herr Burkhardt, aber da waren wir schon eine ganze Weile hier im Zimmer.«

»Den brauchen wir also kaum zu hören. Ihre Frau Tochter darf ich aber wohl für einen Augenblick herunterbitten lassen.«

Zu Martha wurde geschickt, und sie kam sehr schnell, blieb aber mit wachsbleichem Gesicht in der Nähe der Tür und starrte mit entsetzten Augen auf den Körper des Toten.

Mit ganz leiser Stimme beantwortete sie die Fragen des Untersuchungsführenden. Weder sie noch der nach ihr vernommene Hofen konnten das Geringste bekunden, was der Kommerzienrat nicht schon ausgesagt hatte.

So verließ nach vorläufigem Abschluss des Protokolls und Freigabe des Leichnams für die Beerdigung nach Vornahme der Obduktion die Gerichtskommission das Haus. Hofen folgte gleich hinter ihr. Erleichterten Herzens, aber mit wankenden Füßen ging Helbig, von Martha gestützt, in ihre Wohnung hinauf, nachdem er telefonisch noch angeordnet hatte, was für das Fortschaffen des Toten aus dem Haus nötig war.

Er schalt weidlich auf Karl Georg, fand aber nur halbes Gehör bei Martha, die rastlos, von einer ganz unerklärlichen Unruhe getrieben, gesenkten Kopfes im Zimmer auf und nieder ging und ihre Blicke so fest auf den Teppich am Boden gerichtet hielt, als ob sie düstere Geheimnisse von ihm ablesen könnte.

Karl Georg kam auch zur Mittagszeit nicht nach Hause. Der Zorn Helbigs auf ihn wuchs immer mehr und es war kein erfreuliches Mahl, das er grollend mit seiner Tochter und ihrem Kind zusammen einnahm. Nur das heiter unschuldige Plaudern des Knaben brachte mitunter ein wenig Licht in die trübe Stunde. Nach Tisch stellte der Kommerzienrat seinen kleinen Enkel dicht vor sich hin und betrachtete sein Gesicht mit prüfender Aufmerksamkeit, um dann aufatmend zu sagen: »Dir sieht er ähnlich, Martha, dir allein, Gott sei Dank!«

Bald nach dem Essen erfolgte der Abtransport von Ebisbergs Leiche. Der Kommerzienrat riss das große Fenster in seinem Arbeitszimmer weit auf, als der starre Körper mit seinem entsetzten, bleichen Gesicht glücklich daraus entfernt war. Aber noch immer wollte die Aufregung nicht von Helbig weichen. Er versuchte zu schlafen, doch der Schlaf blieb ihm fern. Stets aufs Neue wiederholte sich der Schrecken dieses Tages vor seinen Augen, und Karl Georgs andauerndes Fernbleiben steigerte seinen Ärger zur Wut. Er sprang vom Diwan in Marthas kleinem Salon empor, nahm Papier und Feder und schrieb für sein verändertes Testament ein Konzept nieder, das er dem Notar in Köln vorlegen wollte. Dabei traf ihn Karl Georgs Vater, der im Laufe des Nachmittags erst gehört hatte, was in der Villa vorgefallen war, und nun aufgeregt kam, um seine Teilnahme zu bekunden. Am Professor ließ Helbig den Zorn gegen dessen Sohn aus, fand aber für seine Reden an ihm nur einen zerstreuten, wortkargen Hörer, der auch bald wieder ging.

Der Abend kam, es wurde sieben Uhr, ohne dass Karl Georg erschien. Helbig schickte nach Martha, die den größten Teil des Nachmittags im Kinderzimmer verbracht hatte, doch erfuhr er, dass auch sie das Haus vor ungefähr einer halben Stunde verlassen habe. Nun kamen ihm die Tränen in die vorquellenden Augen.

»Sie lassen mich allein, mich armen alten Mann. Kein Mensch kümmert sich um mich an diesem schrecklichen Tag. Zu gut bin ich ihnen gegenüber gewesen, sonst würden sie es wohl nicht wagen.«

Er lamentierte halblaut eine Weile vor sich hin, aber als er dann, um sich ein wenig zu zerstreuen, die Bankabrechnung hernahm, die noch ungeöffnet auf dem Tisch lag, erklang der Drücker der Tür, und Karl Georg trat herein. Das Lächeln war von seinem Gesicht verschwunden, und ohne die gewohnte Spannung schienen seine Züge merkwürdig verwandelt und gealtert.

Aber Helbig nahm sich keine Zeit, ihn anzuschauen.

Alles, was er in den langen Stunden des Tages an Ingrimm angesammelt hatte, brach in breitem Wortstrom nun aus ihm hervor. Karl Georgs Fernbleiben bei der notwendigen Untersuchung, sein Herumtreiben seit mehr als einem halben Tag, der Entwurf des neuen Testaments, der ihm für immer das Vermögen seiner Frau sperren sollte, das alles wirbelte bunt und rasch durcheinander. Dieser Testamentsentwurf bedeutete Helbigs kräftigsten Trumpf. Ihn warf er vor sich hin, mitten auf den Tisch, und schlug darauf mit ausgebreiteter Hand.

Karl Georg schaute nieder auf den mit Papieren bedeckten Tisch. Aber seine Blicke hafteten nicht auf dem Testamentsentwurf, sie schweiften nach einer anderen Stelle hin, wo die noch ungeöffnete Abrechnung der Bank vor seinem Schwiegervater lag. Der Name des großen Geldinstituts war deutlich auf dem Briefumschlag zu lesen. Starr blickten de la Mottes Augen auf die wenigen, scheinbar nichts bedeutenden Worte.

Dann aber nahm er sich zusammen, und als er nun sprach, war ein schwaches Echo des gewohnten heiteren Tones in seinen Worten. »Du hast nicht nötig, Schwiegerpapa, dich so aufzuregen. Wenn du gehört hast, warum ich heute nicht nach Hause gekommen bin, ich glaube, du wirst mir dann keinen Vorwurf mehr machen.«

»Da bin ich neugierig.«

»Übrigens«, es war, als ob Karl Georg einen mühsamen Anlauf nehmen müsste zu seinen Worten, »ich möchte doch zunächst einmal fragen, was das Ergebnis der gerichtlichen Untersuchung war. So etwas interessiert einen doch.« Sonderbar gedrückt und scheu kamen seine Worte hervor.

»Noch gar kein bestimmtes Ergebnis hat sie gehabt. Und wer daran schuld war, das ist mein edler Herr Schwiegersohn!«

»Ich, wieso?«

»Weil du nicht hier warst, um auszusagen. Weil du höchstwahrscheinlich außer dem unglücklichen Ebisberg der einzige lebende Mensch hier im Erdgeschoss warst in dem Augenblick, als Ebisberg starb. Du musst unmittelbar nebenan gewesen sein, in deinem Zimmer, da ist es doch nur natürlich, dass man wissen möchte, was du von der Sache gehört hast. Ich wundere mich selber, dass ich heute Morgen nicht gleich danach gefragt habe, du lieber Gott, man war ja ganz verwirrt von dem Schrecken. Aber du hast mir auch nichts davon gesagt und bist fortgelaufen, ehe die Gerichtskommission kam.«

De la Motte hatte seine rechte Hand in die Linke genommen und betrachtete seine schön geformten, wohl gepflegten Fingernägel. Und als ob er ihnen Antwort geben müsste, so sprach er nun ganz leise darauf nieder. »Jawohl, ich bin fortgelaufen. Mit voller Absicht. Ich wollte Zeit gewinnen zum Überlegen. Ich war im Zweifel, ob ich sagen sollte, was ich gehört habe.«

»Du hast etwas gehört?«

»Allerdings. Ich habe Stimmen gehört, freilich nur eine davon deutlich genug, um sie zu erkennen.«

»Mein Gott, mein Gott, so war Ebisberg also wirklich nicht allein, als er starb?«

»Vielleicht, vielleicht auch nicht. Ich kann das mit Bestimmtheit nicht sagen. Aber das weiß ich gewiss, dass Ebisberg wenige Minuten, bevor er starb, einen heftigen Streit gehabt hat.«

»Und welche Stimme, war es die von Ebisberg, die du erkannt hast?«

»Nein, er sprach zu leise dazu.«

»Dann also die Stimme des anderen, der mit ihm stritt. Um Gottes willen, wer war es?«

»Du hattest ja versprochen, herunterzukommen um die fragliche Zeit. Ich glaubte daher zu Anfang, dass du der andere wärst.«

»Ich, ich? Soll ich ihn etwa totgeschlagen haben?«

»Nein, der andere war dein Ingenieur Max Burkhardt.«

»Burkhardt? Wahrhaftig? Du hast seine Stimme wirklich erkannt?«

»Seine Stimme nicht nur, auch ein paar Worte von ihm waren deutlich zu verstehen. Er war offenbar sehr aufgeregt und schrie beinahe, als er Ebisberg zurief: Sie sollen mir diesmal nicht entkommen!«

»Und weiter, weiter, du hast nichts gehört von einem Schlag, einem Fall.«

»Nein. Es war mir schon unangenehm, dass ich so viel gehört hatte. Horchen ist niemals angenehm. Ich ging an mein Fenster, das offen war. Dort übertönte das Rauschen des Wassers draußen jedes andere Geräusch.«

»Um Gottes willen, es ist ja furchtbar! Stürmt heute denn alles auf mich ein? Burkhardt, ein so tüchtiger Mensch, ich hatte so viel von ihm gehofft fürs Geschäft, seine neue Lampe, und nun, und nun …«

»Ich war verzweifelt, wie gesagt, ob ich nicht lieber verschweigen sollte, was ich gehört hatte. Dann aber habe ich es mir überlegt. Ich brauchte Zeit, um klar zu werden, ich sagte mir, dass ich wahrscheinlich unter Eid vernommen werden würde, so habe ich denn beschlossen, es dir zu sagen und es in deine Hand zu legen, was geschehen soll.«

»Das kann ja doch nicht im Zweifel stehen. In meinem ehrlichen Haus darf kein Verbrechen begangen werden, das keine Sühne findet. Ich werde gleich telefonisch den Herrn Landgerichtsrat benachrichtigen. Du solltest heute noch zu ihm kommen, aber wie die Sache liegt, weil doch nun auch Burkhardt, es wird wohl besser sein, wenn ich die Herren gleich für heute Abend noch einmal hierher bitte.«

»Ja, das wird besser sein«, wiederholte Karl Georg langsam.

Helbig eilte zur Tür, und sein Schwiegersohn trat mit ihm hinaus. Als aber der Kommerzienrat sich zur Treppe wandte, ging er nicht hinab, sondern öffnete leise die Tür zum Schlafzimmer seines Knaben.