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Aëlita – Teil 6

Alexej-Tolstoi-AelitaAlexej Tolstoi
Aëlita
Ein utopischer Roman

Der Abflug

Auf dem öden Platz vor der Werkstatt des Ingenieurs Losj begannen sich Leute zu versammeln. Sie kamen vom Kai, von der Petrowskij-Insel her gelaufen, bildeten Gruppen, blickten auf die niedrig stehende Sonne, die breite Strahlen durch die Wolken sandte. Gespräche wurden angeknüpft: »Weshalb haben sich die Leute hier versammelt, ist jemand totgeschlagen worden?«

»Sie fliegen gleich auf den Mars.«

»Dass wir so was erleben müssen, das hat uns noch gefehlt!«
»Was erzählen Sie da? Wer fliegt?«
»Man hat zwei Diebe aus dem Gefängnis geholt, verlötet sie in eine Stahlkugel – und ab auf den Mars, als Versuch.«

»Hören Sie doch auf zu lügen, in der Tat«

»Ach, dieses Gesindel, die Menschen tun ihnen nicht leid!«
»Das heißt – wem, wer ist das ›ihnen‹?«

»Sie brauchen nicht jedes Wort zu bekritteln, Bürger.«

»Natürlich, das ist eine Verhöhnung.«
»Du lieber Gott, wie dumm ist doch das Volk!«

»Warum ist das Volk dumm? Wie kommen Sie zu dieser Behauptung?«

»Für diese Worte sollte man Sie selber irgendwohin expedieren.«
»Hört doch auf, Genossen, in der Tat, hier vollzieht sich ein geschichtliches Ereignis, und Sie reden weiß der Teufel was für ein Zeug zusammen.«

»Zu welchem Zweck schickt man sie denn auf den Mars?«
»Entschuldigen Sie, soeben hat hier einer gesprochen: Sie haben allein fünfundzwanzig Pud Propagandaliteratur geladen.«
»Das ist eine Expedition.«
»Was soll sie holen?«
»Gold.«
»Ganz richtig – der Goldfonds muss aufgefüllt werden!«

»Gedenken sie viel mitzubringen?«
»Unbegrenzte Mengen.«
»Bürger, sollen wir noch lange warten?«
»Sobald die Sonne untergegangen ist, steigen sie auf …«

Bis zum Eintritt der Dämmerung riss der Gesprächsstoff nicht ab. Die Menge, die ungewöhnliche Ereignisse erwartete, unterhielt sich über die verschiedensten Dinge. Man stritt, zankte sich, ging aber nicht fort. Ein trüber Sonnenuntergang ergoss sein purpurnes Licht über den halben Himmel. Und da erschien, die Menge langsam auseinanderschiebend, das große Automobil des Gouvernement-Exekutivkomitees. Im Schuppen wurde es hinter den Fenstern hell. Die Menschenmenge verstummte.
Der von allen Seiten freigelegte eiförmige Apparat stand, funkelnd mit seinen Reihen von Vernietungen, auf einem leicht geneigten Zementsockel mitten im Schuppen. Durch die runde Öffnung einer der Eingangsluken war sein hell erleuchtetes Inneres aus gelbem, rhombusartig gestepptem Leder zu sehen.
Losj und Gussew waren bereits fertig angezogen. Sie trugen Filzstiefel, kurze Schafpelze und Pilotenhelme aus Leder. Die Mitglieder des Exekutivkomitees, Akademiker, Ingenieure, Journalisten umringten den Apparat. Die Abschiedsreden waren schon gehalten und die Fotoaufnahmen gemacht. Losj dankte den Anwesenden für die Aufmerksamkeit. Sein Gesicht war bleich, die Augen wie aus Glas. Er umarmte Chochlow und Kusmin. Blickte auf die Uhr.
»Es ist Zeit!«
Die Menschen, die ihm das Geleit gaben, wurden still.
Gussew runzelte die Stirn und kletterte durch die Luke.
Im Apparat setzte er sich auf ein Lederkissen, rückte den Helm und zog sich den Pelz zurecht.
»Vergiss nicht, meine Frau zu besuchen!«, rief er Chochlow zu, und sein Gesicht verzog sich ganz und gar in Falten.
Losj zögerte noch und schaute zu Boden. Plötzlich hob er den Kopf und sagte mit einer dumpfen, erregten Stimme: »Ich glaube, dass es mir gelingen wird, glücklich auf dem Mars zu landen. Ich bin überzeugt wenige Jahre werden vergehen, und viele Hunderte Luftschiffe werden den Sternenraum durchfurchen. Ewig, ewig werden wir vom Geist des Suchens getrieben. Doch nicht ich hätte als Erster fliegen sollen. Nicht mir steht es an, als Erster in das himmlische Geheimnis einzudringen. Was werde ich dort finden? Ein Vergessen meiner selbst … Das ist es, was mich am meisten beim Abschied von euch bedrückt … Nein, Genossen, ich bin kein genialer Erbauer, kein kühner Held, kein Träumer, ich bin ein Feigling, ich fliehe …«

Losj stockte plötzlich, ein merkwürdiger Blick glitt über die Menschen, die ihn umstanden – alle hörten ihm verständnislos zu. Er rückte sich den Helm tief in die Stirn. »Im Übrigen ist das alles unnützer Ballast, den weder Sie noch ich brauchen – persönliche Überbleibsel … ich hinterlasse sie hier auf diesem einsamen Bett, im Schuppen … Auf Wiedersehen, Genossen, ich bitte Sie, möglichst von dem Apparat wegzutreten …«

Gleich danach schrie Gussew aus der Luke: »Genossen, ich werde denen da auf dem Mars einen flammenden Gruß von der Sowjetunion überbringen. Gebt ihr mir Vollmacht dazu?«
Die Menge kam in Bewegung. Es wurde applaudiert. Losj drehte sich um, stieg durch die Luke und schlug sie sogleich mit aller Kraft hinter sich zu. Die Umstehenden liefen dicht gedrängt, einander aufgeregte Worte zuwerfend, aus dem Schuppen zu der Menge auf dem Platz. Es ertönte eine laute, gedehnt rufende Stimme: »Vorsicht, weiter wegtreten, hinlegen!«
Tausende von Menschen blickten jetzt schweigend auf die erleuchteten quadratischen Fenster des Schuppens. Dort war es still. Still war es auch auf dem großen Platz.
So vergingen einige Minuten. Viele Menschen legten sich auf den Boden. Plötzlich wieherte weitab ein Pferd. Jemand schrie mit schrecklicher Stimme: »Still!«
Im Schuppen krachte es ohrenbetäubend und begann dann zu knattern. Gleich danach erschollen noch stärkere, rasch aufeinanderfolgende Schläge. Die Erde erzitterte.
Über das Dach des Schuppens erhob sich jetzt die stumpfe metallische Nase und umhüllte sich mit einer Wolke von Rauch und Staub. Das Knattern verstärkte sich. Der dunkle Apparat erschien in seinem ganzen Umfang über dem Dach und blieb in der Luft hängen, als setzte er zum Sprung an. Die Detonationen flossen zu einem einzigen Geheul zusammen, und das acht Meter lange Ei schoss schräg wie eine Rakete über der Menge in die Höhe gen Westen. Einen feurigen Streifen hinter sich lassend, verschwand es in dem trüben, purpurnen Feuerbrand der Wolken.
Erst da ertönte Geschrei aus der Menge, Mützen flogen in die Luft, die Menschen rannten auf den Schuppen zu und umringten ihn.