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Indianische Sagen von der Nordpazifischen Küste Amerikas Teil 1

Indianische-Sagen-von-der-Nord-Pazifischen-Kueste-AmerikasFranz Boas
Indianische Sagen von der Nordpazifischen Küste Amerikas
Sonderabdruck aus den Verhandlungen der Berliner Gesellschaft für Anthropologie, Ethnologie und Urgeschichte. 1891 bis 1895
Berlin. Verlag von A. Asher & Co. 1895

Aus dem Vorwort des Autors

Die in der nachfolgenden Sammlung enthaltenen Sagen wurden von mir auf wiederholten Reisen zur pazifischen Küste Amerikas aus dem Munde der Indianer aufgezeichnet. Ein großer Teil wurde durch Vermittlung des Chinook-Jargons erzählt, während viele Sagen der Kwakiutl- Stämme und der Tsimschian direkt aus der Ursprache ins Deutsche übertragen wurden. Die Shuswap-Sagen zeichnete ich durch Vermittlung eines alten französischen Halbblut-Indianers auf. Mitteilungen aus dem Munde von Weißen sind nur in seltenen Fällen und dann mit Angabe der Quelle benutzt.

Die Sammlung erschien zuerst 1888 in der Zeitschrift für Ethnologie und von 1891 bis 1895 in den Verhandlungen der Berliner Gesellschaft für Anthropologie, Ethnologie und Urgeschichte.

I. Sagen der Shushwap. Gesammelt in Kamloops.

1. Tlē´esa

Es war einmal eine Frau, die hatte vier Söhne. Der Älteste hieß Tlē´esa. Die jungen Männer wollten die Welt durchwandern. Da warf ihre Mutter ein Zaubermittel auf sie, um sie stark zu machen. Sie traf die drei jüngsten, den ältesten aber verfehlte sie und er wurde sogleich in einen Hund verwandelt. Sie sagte ihnen dann alles voraus, was ihnen begegnen würde.

Die jungen Männer machten sich nun auf und wanderten vom Shushwap See aus den South Thompson River hinab. Bald kamen sie zum Haus des »Wood-chuck« (Arctomys monax). Dasselbe stand gerade zwischen zwei Felsen. Wenn jemand kam, so zog das Woodchuck sich in sein Haus zurück, und wenn man ihm folgte, um es zu fangen, so schlugen die Felsen zusammen und töteten den Eindringling.

Tlē´esa sprach, als er viele Woodchucks auf den Felsen umher spielen sah: »Ich will hingehen und sie fangen.«

Seine Brüder warnten ihn und erinnerten ihn daran, dass seine Mutter ihnen erzählt habe, das Woodchuck töte jeden, der es angreife. Er ließ sich aber nicht halten und lief fort, sie zu fangen. Die Woodchucks zogen sich in ihr Haus zwischen den Felsen zurück. Da nahm Tlē´esa seine Lanze mit Steinspitze und stemmte dieselbe quer zwischen die Felsen, die nun nicht mehr zusammenschlagen konnten. Dahn fing er die Woodchucks und erschlug sie mit dem Hammer, der von seinem Handgelenke herabhing. Er warf sie dann aus der Felsspalte heraus und seine Brüder nahmen sie auf.

Tlē´esa sprach: »Künftig sollt ihr keine Menschen mehr töten. Ihr sollt Woodchucks sein und den Menschen zur Nahrung dienen.« Während er noch in der Felsspalte mit den Woodchucks kämpfte, machten seine Brüder ein großes Feuer, brieten die Tiere und hatten die besten aufgegessen, als Tlē´esa endlich wieder aus der Felsspalte zum Vorschein kam. Tlē´esa sagte nichts, sondern nahm, was übrig geblieben war.

Dann gingen sie weiter den Fluss hinab. Als sie nach Ducks kamen, sahen sie dort eine Frau auf einem Felsen sitzen und singen.

Tlē´esa sagte: »Ich will sie fangen.«

Wieder warnten ihn seine Brüder, er ließ sich aber nicht zurückhalten. Er ging den Berg hinauf und sammelte viele Tannenzapfen. Die Frau lachte ihn an und ging ebenso rasch rückwärts, wie er den Berg erklomm. Seine Brüder folgten ihm. Endlich hielt die Frau stille. Als Tlē´esa ihr nun nahe kam, krochen plötzlich eine ungeheure Menge Klapperschlangen aus ihren Löchern und gingen auf ihn los. Er aber tötete alle mit seinen Tannenzapfen. Während er noch mit den Schlangen kämpfte, liefen seine Brüder weiter und fingen die Frau für sich.

Tlē´esa sagte nichts zu seinen Brüdern. Er sprach nur zu der Frau: »Du wirst von jetzt ab niemand mehr töten. Wenn ein Mann dich haben will, wird er dich nehmen und du sollst ihm nichts anhaben können.«

Die Brüder gingen weiter den Fluss hinab. Als sie zu einem Ort, etwas oberhalb Kamloops kamen, sahen sie ein unterirdisches Haus, neben dem eine große Stange stand. Hier wohnten der graue Bär und der Coyote. Die Bären sahen sie kommen und die drei Brüder traten ein. Sie banden Tlē´esa vor der Tür fest und bedeckten ihn über und über mit Steinmessern, sogar seinen Schwanz und seine Zähne. Nach einiger Zeit lud der Bär sie zu einem Wettkampf ein. Sie sollten an der Stange, die vor dem Haus stand, hinaufklettern. Zuerst kletterte der zweite Bruder mit dem Bären zusammen hinauf. Als sie fast oben waren, fasste ihn der Bär und tötete ihn. Der Leichnam fiel von der Stange herunter. Als Tlē´esa das sah, wurde er sehr zornig. Er heulte und fletschte seine Zähne.

Da rief Coyote: »Ich fürchte, der Hund wird uns auffressen. Er wird ganz wild.«

Tlē´esa berührte den Coyote nur mit seinem Körper, da blutete jener sogleich. Die Steinmesser hatten ihn geschnitten. Nun kletterte der dritte Bruder mit dem Bären die Stange hinauf. Es erging ihm nicht besser als dem zweiten Bruder, und den vierten ereilte dasselbe Schicksal. Nun war nur der Hund Tlē´esa übrig geblieben. Er schnitt das Seil durch, mit dem er festgebunden war und kletterte mit dem Bären hinauf. Als sie fast oben waren, schnitt er den Bären mitten durch, sodass ein Teil rechts, der andere links niederfiel.

Vier Bären kletterten mit ihm um die Wette, aber er tötete alle. Dann legte er die Gliedmaassen seiner Brüder zusammen, sprang über sie hinweg, und sie wurden wieder lebendig.

Die Brüder wanderten weiter und gelangten nach Cherry Creek. Dort sahen sie ein unterirdisches Haus, in dem wohnte das Kaninchen.

Tlē´esa sagte: »Ich werde hineingehen. Ich will das Kaninchen zu Abend essen.«

Wieder warnten ihn seine Brüder, er ließ sich aber nicht zurückhalten. Er nahm einen flachen Stein, bedeckte seinen Bauch und seine Brust damit und ging hinein. Die Brüder blieben draußen stehen und lugten in das Haus. Das Kaninchen lag auf dem Rücken mit übereinandergeschlagenen Beinen. Es hatte etwas Fleisch hinter sich liegen.

Als es Tlē´esa eintreten sah, rief es: »Hollah Fremder! Woher kommst du? Wohin gehst du?«

Jener versetzte: »O, ich reise nur zu meinem Vergnügen umher.« »Gewiss bist du hungrig. Hier hinter mir liegt Fleisch. Nimm dir davon!«

Als Tlē´esa nun herankam und von dem Fleisch nehmen wollte, trat ihn das Kaninchen vor die Brust. So pflegte es alle Fremden zu töten, die sein Haus besuchten. Sein Bein schlug immer gerade durch die Brust hindurch. Dieses Mal aber zerschlug es sein Bein an dem Stein, der Tlē´esas Brust bedeckte. Es fing an zu schreien.

Tlē´esa ergriff es an dem anderen Bein, schlug es gegen die Wand und rief: »Bis jetzt hast du Menschen getötet. Nun töte ich dich und werde dich essen.«

Er warf es zum Haus hinaus. Da nahmen seine Brüder es auf, und kochten und aßen es, ehe Tlē´esa herauskam.

Die Brüder gingen weiter und kamen nach Savannah Ferry. Dort stand ein großer Elch mit gespreizten Beinen über dem Fluss und tötete alle, die über den Fluss zu gehen versuchten. Er zog die Boote an Land und verschlang sie. Als die Brüder dort ankamen, wussten sie nicht, wie sie vorankommen sollten.

Tlē´esa sprach: »Ich werde ein Floß bauen und hinunterfahren.« Seine Brüder wollten es nicht erlauben. Er aber kümmerte sich nicht um sie, sondern machte ein Floß. Als er fertig war, stieg er darauf und ließ es den Fluss hinabtreiben. Als er dicht an den Elch herankam, schlürfte derselbe das Floß und Tlē´esa herunter. Da weinten die Brüder, denn sie glaubten, er sei tot. Die Stangen des Floßes gingen aber geradeswegs durch den Elch hindurch. Tlē´esa machte drinnen ein Feuer an und kochte sich ein gutes Mahl. Dann ergriff er das Herz des Elchs und drückte daran. Da fing es an von einer Seite des Flusses zur anderen zu schwanken.

Als die Brüder das sahen, sprachen sie zueinander: »Was mag mit dem Elch geschehen sein?«

Als es nun wieder zu der Seite hinüber schwankte, wo die Brüder standen, schnitt Tlē´esa das Herz ab und es fiel tot nieder. Die Brüder zogen ihn ab und schnitten den Elch auf.

Als sie nun den Magen öffnen wollten, rief Tlē´esa: »Passt auf und schneidet mich nicht!«

Da öffneten sie den Magen vorsichtig und fanden nun, dass Tlē´esa sich drinnen ein Mahl bereitet hatte. Die Brüder aßen ihm alles auf.

Sie gingen nun über den Fluss. Bald erblickten sie einen Tabakbaum. Ein Ast desselben schwang im Kreise umher, sobald jemand versuchte, Tabak zu holen, und erschlug ihn. Tlē´esa nahm einen kleinen Stock und ging zu dem Baum hinauf. Als der Ast zu schwingen begann, schlug er ihn mit dem Stock durch und warf ihn in den Fluss. Dann warf er den Baum mit seinem Stock um, indem er ihn ausgrub. Da kamen die Brüder herauf und nahmen allen Tabak ab. Tlē´esa bekam nichts.

Die Brüder gingen dann den Bonaparte Creek hinauf. Dort ist ein steiler Felsen, auf dem lebte die Bergziege, die alle tötete, die sie zu fangen versuchten. Am Fuß des Felsens war ein Hund, der die Vorübergehenden biss.

Tlē´esa sprach: »Ich will die Bergziege töten und das Fett mit meinem Tabak rauchen.«

Die Brüder glaubten, er werde den Fels nicht ersteigen können. Er ließ sich aber nicht abhalten und ging, das Abenteuer zu bestehen. Als der Hund ihn beißen wollte, spießte er ihn auf seinen Stock auf und warf ihn zu Boden, indem er rief: »Du wirst niemand mehr töten! Künftig sollen die Menschen dich benutzen.«

Er kletterte den Fels hinauf. Als die Ziege seiner ansichtig wurde, wollte sie ihn hinunterwerfen. Er aber spießte sie auf seinen Stock auf und zertrümmerte mit seinem Hammer ihren Kopf. Dann warf er sie den Berg hinunter und sprach: »Du sollst niemand mehr töten. Künftig sollen die Menschen dich töten und verzehren.«

Sie kam ganz zerrissen unten an. Die Brüder hoben sie auf und nahmen alles Fett, das sie mit ihrem Tabak mischten. So blieb für Tlē´esa nichts übrig.

Die Brüder wanderten weiter und kamen zu »Johnny Wilsons Place«. Sie gingen oben am Berghang entlang und sahen einen Mann unten am Flussufer gehen. Da sprachen die Brüder zueinander: »Lasst uns ihn zum Besten haben!« Sie warfen große Felsen nach ihm. Als der Staub sich verzog, sahen sie ihn weiter gehen, als ob nichts geschehen sei. Einer nach dem andern versuchte ihn zu treffen. Sie konnten ihm aber nichts anhaben, obwohl sie zuletzt einen großen Bergsturz zu Tal gehen ließen. Da ging Tlē´esa hinab, um den Fremden zu sehen. Er sah, dass jener einen kleinen Korb auf dem Rücken trug, nicht größer als eine Faust.

Er sprach: »Wer bist du? Wir haben versucht, dich zum Besten zu haben, konnten es aber nicht.«

Jener sagte, er heiße Tkumenaā’lst, und lud Tlē´esa und die Brüder zum Essen ein. Er tat Wurzeln und Beeren in seinen Korb und legte Steine ins Feuer.

Als das Essen fertig war, sprach einer der Brüder: »Wenn ich einen Bissen nehme, wird nichts mehr da sein.«

Als er aber einen Löffel voll aus dem Korb genommen hatte, ward derselbe sofort wieder voll. Nachdem alle sich sattgegessen hatten, wanderten sie zusammen weiter.

Bald gelangten sie nach Hat Creek. Daselbst ist eine steile Felswand. Tlē´esa sagte: »Lasst uns hier etwas spielen!«

Tkumenaā’lst fragte, was sie spielen sollten, und Tlē´esa antwortete, sie wollten versuchen, den Kopf in den Felsen zu rennen. Zuerst versuchten es die drei Brüder. Sie machten einen schwachen Eindruck in den Felsen. Dann versuchte es Tlē´esa und sein Kopf drang bis über die Ohren in das Gestein ein. Tkumenaā’lst aber drang noch weiter, bis an seine Schultern ein.

Dann gingen sie weiter und kamen nach Fountain Trail. Dort hatte ein Adler sein Nest auf einem steilen Felsen.

Tlē´esa sprach: »Ich will seine Federn holen und meinen Mantel damit besetzen.«

Seine Brüder warnten ihn. Er aber ließ sich nicht abhalten. Er nahm seinen Stab, etwas rote und weiße Farbe und setzte sich unter den Felsen. Da sahen die Brüder, wie der Adler sich auf ihn herabstürzte. Er trug ihn in die Höhe und kreiste mit ihm. Er wollte ihn dann an dem Felsen zerschmettern. Als er nun aber an den Felsen heranflog und Tlē´esa dagegen schlagen wollte, stemmte dieser seinen Stab gegen den Felsen und entkam so unverletzt. Er spie etwas rote Farbe, die er in den Mund genommen hatte, gegen den Felsen und da glaubten der Adler und die Brüder, es sei sein Blut. Der Adler flog nochmals in weitem Kreis mit ihm herum, um ihn gegen den Felsen zu schlagen. Wieder stemmte Tlē´esa seinen Stab dagegen und spie dieses Mal weiße Farbe gegen den Felsen. Da glaubten der Adler und die Brüder es sei sein Gehirn. Er trug ihn dann in sein Nest und flog wieder von dannen.

Die jungen Adler wollten ihn fressen. Da zeigte er aber seinen Hammer und sprach: »Nun rührt mich nicht an, sonst schlage ich euch tot. Wenn eure Mutter kommt, bittet sie, sie solle sich auf den Rand des Nestes setzen. Wenn sie fragt, warum ihr mich nicht gefressen habt, sagt nicht, dass ich noch lebe!«

Die jungen Adler fürchteten sich und versprachen zu gehorchen. Bald kam die Alte heim und brachte ihnen Bären und Hirsche. Als sie Tlē´esa noch im Nest liegen sah, fragte sie ihre Jungen, warum sie ihn nicht gefressen hätten. Dann flog sie wieder fort.

Tlē´esa aß mit den Jungen von den Bären und Hirschen. Als nun die Alte wiederkam, baten die Jungen sie, sich an den Rand des Nestes zu setzen. Da schlug Tlē´esa sie mit seinem Hammer tot, und sie fiel vom Felsen herab. Tlē´esas Brüder nahmen den Adler auf, rupften ihm die Federn aus und ließen nichts für Tlē´esa übrig. Dieser saß nun im Nest und wusste nicht, wie er wieder herunterkommen sollte.

Endlich sagte er zu den jungen Adlern: »Tragt mich herunter, aber haltet mich gut fest und tut mir nicht weh, sonst schlage ich euch tot.«

Die Adler fürchteten sich und gehorchten. Er band sich an die Adler fest und sie flogen mit ihm aus dem Nest und ließen sich langsam zur Erde hinab. Ehe er sich daran machen kommen konnte, ihnen die Federn auszurupfen, waren seine Brüder herbeigekommen und hatten sie fortgenommen.

Die Brüder wanderten weiter und gelangten zum Fraser River. Da sahen sie ein junges Mädchen an der anderen Seite des Flusses tanzen. Sie setzten sich in einer Reihe am Ufer nieder und sahen ihr zu. Sie blieben dort sitzen, bis sie in Steine verwandelt wurden.