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Das Siegel des Mandschu

Stellen Sie sich eine Gestalt vor, groß, hager und von katzenartigen Bewegungen, hochschultrig, mit einer Stirn wie Shakespeare und einer Fratze wie der Teufel, einen kahl geschorenen Schädel und länglichen, hypnotisierenden Schlitzaugen von katzengrüner Farbe. Dann statten Sie diese in Gedanken mit der grausamen Verschlagenheit eines Superhirns aus, das über alle Hilfsmittel gebietet, die die Wissenschaft in Vergangenheit und Gegenwart erfunden hat, und dazu noch  über alle Geldmittel einer einflussreichen Regierung, die allerdings jegliche Kenntnis von seiner Existenz abstreitet. Ja, malen Sie sich solch ein scheußliches Wesen aus, dann bekommen Sie eine ungefähre Vorstellung von dem, was Bernd Rothe und Jörg Kleudgen in ihrem neuen Roman Das Siegel des Mandschu zum Besten geben.

Während des literarischen Brunchs anlässlich des Marburg-Cons 2013 las Jörg Kleudgen aus dem neuesten Werk der Goblin-Press. Der Roman ist eine Hommage auf Arthur Henry Ward, den meisten unter dem Pseudonym Sax Rohmer bekannt. Jener Autor schuf zwischen 1912 und 1913 das teuflische Genie Dr. Fu Mandschu.


Das Buch

Bernd Rothe
Jörg Kleudgen
Das Siegel des Mandschu
Mystischer Roman, Paperback mit Lesebändchen
Goblin-Press, Usingen

84 Seiten, 12,00 Euro
keine ISBN

Kurzinhalt:
Als Konrad Reuther sich nach Jahren mit seinem alten Weggefährten Ferdinand Keller trifft, werden Erinnerungen an gemeinsame Abenteuer im Reich der Mitte wachgerufen. Schon bald jedoch erkennen sie, dass die Zeit eine tiefe Kluft gerissen hat, die auch der Kampf gegen ihren alten Feind, den geheimnisvollen Mandschu, nicht überbrücken kann …


Die Autoren

Bernd Rothe, 1945 geboren, hat in den vergangenen Jahren als Herausgeber der Edition Welt der Geschichten auf sich aufmerksam gemacht. Das Siegel des Mandschu ist der erste Roman, an dem der in Hameln lebende Autor beteiligt ist.

Jörg Kleudgen veröffentlichte seit den 1990er Jahren zahlreiche Texte aus dem Genre der Phantastik, unter anderem 2005 die Sammlung Cosmogenesis im Blitz-Verlag, ebenfalls dort 2010 die Anthologie Necrologio und den Roman Totenmaar (gemeinsam mit Michael Knoke). Mit seiner Rockgruppe THE HOUSE OF USHER produzierte er bislang acht Alben und trat auf bedeutenden Festivals u. a. in Deutschland, Belgien,
Italien, Frankreich, England und dem Libanon auf.


Leseprobe

 

Einleitung

Marburg, 1977

Ein Schrei in der Tiefe des Hotels ließ mich zusammenfahren. Er hatte so verzweifelt geklungen, wie nur ein Todesschrei klingen konnte, aber seltsamerweise geschah daraufhin nichts weiter. Kein Türenschlagen, keine hastigen Schritte auf dem Flur, keine Polizeisirenen.

Ich fuhr in die Höhe und stellte fest, dass ich eingeschlafen sein musste, vollkommen bekleidet, so wie ich mich am Abend hingelegt hatte. Benommen taumelte ich zum Waschbecken, um mein Gesicht mit kaltem Wasser zu erfrischen und so einen klaren Gedanken zu fassen.

Dann lauschte ich in die Stille. Eine Totenstille war es!

Ich öffnete die Zimmertür einen Spalt und trat vorsichtig in den Hotelflur hinaus.

Keller!, fuhr es mir in diesem Augenblick durch den Kopf.
Wieso fiel mir gerade sein Name ein? Wir waren doch nicht die einzigen Übernachtungsgäste im Hotel!

So leise wie möglich eilte ich zum Treppenhaus. Mit dem Aufzug wollte ich jetzt nicht fahren, er war zu laut, zu hell, zu auffällig.

Kellers Zimmer lag genau unter meinem, nur eine Etage tiefer. Nach wie vor herrschte absolute Stille. Eigenartig. Hatte ich mir den Schrei doch hui eingebildet oder geträumt?

Ich erreichte das tiefer gelegene Stockwerk und bemerkte sofort, dass Kellers Zimmertür nur angelehnt war. Das verhieß nichts Gutes. Wie ein Messer schnitt der Schein der Zimmerbeleuchtung in den dunklen Hotelflur. Niemand antwortete, als ich anklopfte.

»Ferdinand?« Ich klopfte noch einmal, diesmal etwas kräftiger. Keine Reaktion! Langsam öffnete ich die Tür, betrat das Zimmer und erstarrte.

Keller lag bäuchlings mitten im Zimmer, den Kopf zur Seite verdreht, in einer riesigen Blutlache. Jemand hatte ihm die Kehle durchgeschnitten und dabei beide Schlagadern durchtrennt. Ich konnte nur ein Auge sehen, das weit aufgerissen war, und mich vorwurfsvoll anstarrte, als wolle er sagen: Du!

Mein Magen krampfte sich zusammen, und ich überwand nur mit größter Mühe meinen Würgereiz. Ich überlegte fieberhaft. Telefonieren … ja … ich musste die Polizei benachrichtigen, am besten von der Rezeption aus.

Der Nachtportier schien geschlafen zu haben. Er trat aus
einer winzigen Kammer und rieb sich die Augen. »Was ist passiert? Sie sehen ja aus, als wären Sie einem Geist begegnet.«

»Schlimmer«, stammelte ich. »Rufen Sie die Polizei. Herr Keller liegt in seinem Zimmer, ermordet!«

»Unmöglich!« Er schüttelte fassungslos den Kopf. »Die Polizei? In unserem Haus? Sind Sie sich ganz sicher, dass Sie nicht geträumt haben? Darf ich mir den Toten vorher mal anschauen?«

»Tun Sie sich einen Gefallen und lassen Sie das. Man hat ihm die Kehle durchgeschnitten … ein fürchterlicher Anblick.«

»Glauben Sie, der Mörder ist noch im Haus?«

»Ich weiß nicht …« Ich zögerte. »Es könnte sein …«

»Kommen Sie, Sie brauchen erst mal einen Cognac!« Er verschwand und kehrte kurz darauf mit einer Flasche und zwei Gläsern zurück. Die beruhigende Wirkung des Alkohols ließ allerdings auf sich warten.

Mein Magen drohte erneut zu revoltieren.

Inzwischen hatte der Portier die Polizei informiert. Es dauerte etwa eine Viertelstunde, bis wir das zuckende Blaulicht des Streifenwagens sahen. Kurze Zeit später betraten zwei Uniformierte den Eingangsbereich und steuerten zielstrebig auf mich zu.

»Sind Sie der Mann, der den Mord an Herrn Keller gemeldet hat?«, fragte mich einer der Männer.
»Ja«, antwortete ich.
»In welchem Zimmer finden wir ihn?«

Der Nachtportier nannte die Nummer, und während einer der beiden nach oben ging, meinte der andere: »Die Kollegen von der Kripo müssten auch gleich kommen, warten Sie bitte mit mir hier!«

Ich fühlte mich mit einmal Mal erschöpft und sehnte mich nach einem Bett. Plötzlich war ich mir gar nicht mehr sicher, ob ich den Todesschrei Kellers wirklich gehört oder nur geträumt hatte. Ich fragte mich, warum er darauf bestanden hatte, mich hier zu treffen? Warum hatte er die Geister der Vergangenheit heraufbeschworen?

Es war gestern gewesen. Nach all den Jahren …

*

»Konrad!«, sagte Keller und streckte mir die Rechte entgegen.
Sein Händedruck war fest wie eh und je, fast schmerzhaft.

»Mein Gott, wie lange haben wir uns nicht mehr gesehen? Wir sind beide nicht jünger geworden!«

Fünfundzwanzig Jahre hatten in der Tat ihre Spuren hinterlassen. Sein Bild jedoch war all die Jahre in meinem Gedächtnis eingebrannt wie in einer Fotoplatte, und als er mir nun entgegenkam, war es, als sei er direkt aus dieser Fotografie herausgetreten.

Für mich waren es alles in allem keine leichten Jahre gewesen. Der Alkohol, in dem ich Vergessen gesucht hatte und die harte Arbeit, die zum Lebensunterhalt notwendig gewesen war, hatten Spuren hinterlassen. Die jährlichen Malariaschübe
taten ihr Übriges.

Keller schien nichts dergleichen durchgemacht zu haben. Seit unseren gemeinsamen Tagen in China war er zwar etwas hagerer geworden, doch seine Haut zeigte dieselbe gesunde Bräune, und sein Gang ließ auf einen durchtrainierten Körper
schließen.

Plötzlich war die Erinnerung an unsere gemeinsamen Abenteuer wieder so präsent, als seien wir nie getrennte Wege gegangen. Als habe es nie jene Zeit der Selbstverachtung und Selbstverleugnung gegeben, in der ich verzweifelt versuchte,
mein altes Ich auszulöschen. Ich hatte gedacht, es sei mir gelungen, bis sich Keller gemeldet hatte.

»Was macht das Geschäft?«, fragte ich ihn. Ich hatte diese Situation vorher wohl tausendmal in Gedanken durchgespielt, und mir zurechtgelegt, was ich sagen würde, doch nun schien ich das alles vergessen zu haben.

Er antwortete nicht auf meine Frage, sondern sagte: »Komm, ich hoffe, du hast dir etwas Zeit mitgebracht? Ich habe uns einen Tisch reserviert.«

Ich folgte ihm durch das Gewirr der Altstadtgassen zum Grünen Drachen, einem altehrwürdigen Hotel, in dem wir schon zu unserer Studienzeit oft beim Portwein zusammengesessen hatten, von dem Keller auch jetzt eine Flasche bestellte. Als ich sah, wie sehr seine Hände beim Einschenken zitterten, begriff ich, dass sich hinter seiner Fassade mehr verbarg.

Als er sein Glas in großer Hast leer getrunken hatte, begann er zu erzählen: »Nachdem wir uns damals getrennt hatten, bin ich eine ganze Weile lang ziellos umhergezogen und habe auf die unterschiedlichste Weise hier und dort mein
Geld verdient. Dann kam ich nach Dalian und erhielt das Angebot eines europäischen Exportunternehmers, für ihn zu arbeiten …«


Veröffentlichung der Leseprobe mit freundlicher Genehmigung von Goblin-Press

Copyright © 2013 by Wolfgang Brandt