Heftroman der Woche
 

Neueste Kommentare
Archive
Folgt uns auch auf

Colorado Sunrise – Folge 11

Der Zirkus

Ein Aufschrei ging durch die gaffende Menge, die zu beiden Seiten der Straße stand. Der Mann, der auf dem Pferderücken stehend durch die Stadt ritt, verlor beinahe das Gleichgewicht. Verhaltenes Lachen erklang von einigen, die erkannten, dass das seine Absicht war. Der Reiter warb für die Zirkusvorstellung am Nachmittag und versprach viele Attraktionen. Hinter ihm zog eine farbenprächtige Truppe durch Coldwell. Ein kleinwüchsiger Mann bewegte sich Rad schlagend vorwärts, ein etwa zehnjähriges blondgelocktes Mädchen stand auf dem Kutschenbock des vorderen Wagens und schmiss den Zuschauern Kusshändchen zu. Der dritte Wagen, in dem exotische Tiere in mehreren Käfigen eingesperrt waren, entlockte den Einwohnern begeisterte Rufe.

Stunden später herrschte auf dem Vorplatz der Schule reger Betrieb. Die Einwohner brachten Stühle und Bänke, die sie nach Anweisung der Zirkusleute in einem Halbkreis vor den Wagen aufstellten. Der kleinwüchsige Mann kassierte die Eintrittspreise. Mae war genau so aufgeregt, wie alle anderen. Sie hatte schon Opern und Theatervorstellungen besucht, doch noch nie einer Zirkusvorstellung beigewohnt. Alle redeten durcheinander und warteten gespannt auf den Beginn. Siedler und Rancher trafen ein, die von ihren Freunden aus der Stadt benachrichtigt worden waren. Ein Ereignis wie dieses wollte sich niemand entgehen lassen. Mae betrachtete den Berglöwen, der apathisch in seinem Gefängnis saß. Der Wolf im anderen Käfig zog angesichts der vielen Menschen die Lefzen hoch. Kinder standen vor den Käfigen mit farbenprächtigen Vögeln, auf dem ein Äffchen herumturnte. Die Artisten bereiteten sich auf die Vorstellung vor. Ein kostümiertes Paar, an dem Mae vorbeischlenderte, tuschelte miteinander.

»Der Kleine sieht aus wie unser Joe«, rief die junge Frau plötzlich aufgeregt und schüttelte ihren Mann am Arm.

»Betty, unser Sohn ist tot. Akzeptiere es.«

Der Mann wandte sich ab, die Frau beobachtete die Kinder. Als sie Maes Blick spürte, drehte sie sich weg.

Eine dicke Frau las aus der Hand und versprach, die Zukunft vorauszusagen. Für einige war es verlockend, aber die meisten zweifelten daran. Mae nahm neben Grace Platz und begrüßte Familie Morehead. Der kleinwüchsige Mann kündigte den Beginn der Vorstellung mit Trommelschlag an. Der Zirkusdirektor, ein älterer Mann mit Zylinder, begrüßte die Zuschauer und wünschte viel Vergnügen. Eine Attraktion jagte die andere. Ein Clown rannte mit einem Eimer Wasser herum und beabsichtigte, das erschrockene Publikum anzuschütten. Im Endeffekt übergoss er sich selbst. Die Menge applaudierte jubelnd. Der Messerwerfer band seine Partnerin an eine aufgestellte Holzwand. Bei jedem Messer, das knapp neben der jungen Frau in das Holz federte, ging ein Raunen durch die Menge. Unter den begeisterten Zurufen des Publikums demonstrierte der Messerwerfer seine Kunststücke auf dem Pferd. Der Zwerg jonglierte mehrere Bälle und spukte Feuer, ein kleiner weißschwarz gefleckter Hund tänzelte auf den Hinterbeinen und sprang durch einen Reifen, ein blondgelocktes Mädchen balancierte auf einem Seil, das zwischen zwei Stangen gespannt war. Den Abschluss machte der Direktor, der mit dem Berglöwen an der Kette herumspazierte. Das Tier sei eine wilde Bestie, dass er gezähmt hatte, erzählte er. Die Bürger waren der einhelligen Meinung, dass die Vorstellung ein tolles Erlebnis war und sie baten die Leute wieder zu kommen.

Bis auf Kathryn Morehead. »Brian hatte seine Freude daran, doch mir machte es keinen Spaß. Man schließt keine Tiere in Käfige, um sie zur Schau zu stellen.«

Mae gab ihr Recht, trotzdem war es eine willkommene Abwechslung in Coldwell. Die Leute zerstreuten sich, bestaunten die bunt bemalten Wagen und unterhielten sich mit den Zirkusleuten, die zusammenpackten. Es dämmerte bereits, als Sam Morehead zum Aufbruch drängte. Kathryn lief durch die Menge und suchte Brian. Atemlos kam sie ohne ihn zurück.

»Ich finde ihn nicht.« Suchend blickte sie sich um.

»Er wird bald hier sein, er weiß doch, dass wir nach Hause fahren«, entgegnete Sam und tätschelte seiner Schwester den Arm.

Die Zirkuswagen fuhren ab, die Einwohner begaben sich auf den Nachhauseweg.

»Wir müssen ihn suchen.«

»Ich komme mit«, bot Mae ihre Hilfe an.

Kathryn war überrascht. »Danke, sehr nett.«

Die beiden eilten nebeneinander auf das Schulgebäude zu. Plötzlich blieb Kathryn stehen und musterte Mae. Herausfordernd warf sie den Kopf in den Nacken.

»Sam ist Brian ein guter Vater. Er hat keine Schuld an seiner schlechten Aussprache. Er hat nur zu viel zu tun und kann sich nicht ausreichend um ihn kümmern. Meinetwegen verurteilen Sie mich, aber nicht ihn.«

»Miss Morehead, Sie haben ebenfalls viel Arbeit zu erledigen, und es steht mir nicht zu, über jemanden zu urteilen.« Mae spürte Kathryns prüfenden Blick in der Dämmerung. Schnell sprach sie weiter. »Brian ist begabt, er wird das Defizit aufholen.«

»Glauben Sie wirklich?«, fragte Kathryn leise. »Der verstorbene Lehrer meinte, er sei dumm.«

Mae lachte. »Dann hat er nicht verstanden, um was es geht. Man muss die Menschen kennenlernen. Erst dann kann man sie richtig beurteilen. Aber lassen Sie uns nach Brian suchen.«

Weder im Schulhaus noch in der näheren Umgebung fanden sie den Jungen.

»Er macht sonst nicht solche Streiche.« Kathryns Stimme klang missmutig, aber Mae hörte die Besorgnis.

»Wir finden ihn. Vielleicht ist er schon bei seinem Vater.« Maes Worte sollten aufmunternd klingen, doch sie machte sich ebenfalls Sorgen.

Eine Vielzahl glühender Lichter bewegte sich in der anbrechenden Nacht. Mittlerweile war die halbe Stadt auf den Beinen und suchte nach Brian. Rufe hallten durch die Nacht.

Plötzlich schluchzte Kathryn.

»Nicht weinen. Ich bin sicher, es geht ihm gut und wir finden ihn bald«, hauchte Mae und umarmte sie.

»Wenn ihm nun etwas zugestoßen ist?«

»Nein, so dürfen Sie nicht denken.« Doch auch Mae fühlte Angst und Schmerz. Brian war ihr ans Herz gewachsen und erinnerte sie an ihren Sohn, der so fern von ihr lebte und den sie vermisste.

»Wenn Sam auch noch seinen Sohn verliert, bringt ihn das um«, flüsterte Kathryn.

Mae tat im Stillen Abbitte. Wie viele andere hatte sie Kathryn Morehead für hochnäsig gehalten, doch sie war eine mitfühlende Frau, die sich um ihre Familie sorgte.

Vor dem Sheriffsoffice diskutierten die Leute. »Geht nach Hause. Bevor der Morgen graut, dehnen wir die Suche aus«, ordnete der Sheriff an.

»Nein«, widersprach Sam heftig. »Wir suchen sofort weiter.«

»Man sieht doch kaum die Hand vor Augen«, entgegnete jemand in der Dunkelheit.

»Sam, der Mann hat recht. Es ist eine mondlose Nacht. Wir treffen uns frühmorgens und schwärmen aus. Wir finden deinen Sohn.« Sheriff Tuckers Stimme war leise.

»Verdammt«, rief Sam.

»Komm wir gehen.« Kathryn hakte ihn unter, doch er sträubte sich. Sanft sprach sie auf ihn ein: »Heute richten wir nichts mehr aus. Morgen bei Tageslicht finden wir ihn.«

Schließlich nickte Sam. Die Leute zerstreuten sich. Mae blickte dem Geschwisterpaar nach und machte sich mit Grace auf den Heimweg. Nach wenigen Schritten blieb sie abrupt stehen. Es konnte nur die eine Lösung geben.

»Los, wir müssen zum Sheriff«, forderte sie Grace auf und zog sie mit sich.

Sie pochte heftig an die Tür, wartete aber nicht auf das »Herein« des Sheriffs, sondern hastete gleich in sein Büro. Ben Tucker hechtete zum Tisch, ergriff seinen Revolver und richtete ihn auf Mae.

»Sind Sie verrückt? Sie stürmen mitten in der Nacht wie ein Büffel herein. Ich hätte Sie beinah erschossen«, schleuderte er ihr gereizt entgegen. Eine Zornesfalte erschien zwischen seinen zusammengezogenen Augenbrauen.

Maes erholte sich schnell von dem Schreck. Sie hatte Wichtigeres im Sinn, als sich vor einem Mann zu ängstigen, der sinnlos mit einer Waffe herumfuchtelte.

»Fauchen Sie mich nicht an, sondern hören Sie zu.«

Sie schaffte es tatsächlich, dass er sie verblüfft anstarrte.

»Der Zirkus. Sie müssen dem Zirkus hinterher. Ich hörte, wie sich der Messerwerfer und seine Partnerin über einen Jungen unterhielten. Möglicherweise meinten sie Brian und er wurde entführt. Seit der Abreise des Zirkus ist er verschwunden.«

»Das ist auch meiner Meinung, eine mögliche Ursache für das Verschwinden des Kleinen. Morgen verfolgen wir den Zirkus und durchsuchen die Wagen.«

Als lese er ihre Enttäuschung in ihrem Gesicht, sagte er: »Es ist sehr nett, dass Sie sich die Mühe machen, mir Ihren Einfall zu erzählen.«

Er lächelte und schien seine Worte ernst zu meinen. Kein gereizter Tonfall.

»Ich danke Ihnen und nun begleite ich Sie nach Hause. Es war ein langer Tag und morgen geht die Suche weiter.«

An Schlaf war nicht zu denken. Ständig kreisten Maes Gedanken um Brian. Sie wollte helfen und wusste auch wie. Allerdings brauchte sie Hilfe. Grace würde versuchen, sie von ihrem Vorhaben abzubringen, doch jemand anderer könnte sie unterstützen. So leise wie möglich kleidete sie sich an. Sie gestattete sich kurz über die Sinnhaftigkeit ihres Vorhabens nachzudenken, dann griff sie zur Türklinke.

Copyright © 2011 by Montana