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Colorado Sunrise – Folge 8

Brians Familie

Die Kinder stürmten aus dem Klassenzimmer. Im Vorbeilaufen angelte sich Jakob Slicker das Blatt Papier, auf dem Brian Morehead zeichnete. Der strafende Blick Maes entlockte Jakob ein entschuldigendes Lächeln. Ohne Aufforderung gab er Brian das Papier zurück. Der dreizehnjährige Sohn des Ladenbesitzers war ein hübscher Junge, der damit prahlte, eines Tages den Laden seines Vaters zu übernehmen. Er war ein Raufbold und es machte ihm Spaß, seine Mitschüler zu ärgern.

Brian blieb sitzen. Neugierig trat Mae an seinen Tisch.

»Brian, das ist wunderschön.«

Er strahlte sie an. »Gefallen Ihnen, Miss?«

»Gefällt es Ihnen, Miss Dunlay«, berichtigte Mae.

»Gefallt ss Ihnen, Miss Duunly.«

»Ja, das war schon sehr gut.« Mae bemühte sich nach Kräften, Brians schlechte Aussprache zu korrigieren. Sie blickte auf das Blatt Papier, auf dem ein Ranchhaus mit Stallungen inmitten einer Landschaft Gestalt annahm. »Das ist sehr schön. Ich wusste nichts von deinen künstlerischen Fähigkeiten.« Sie trat auf die andere Seite und blickte ihm über die rechte Schulter. »Ist das die Ranch deiner Eltern?«

Er antwortete nicht, sondern zeichnete Bäume.

»Brian? Hörst du mir zu?«

Sie fasste ihm an die Schulter. Er drehte sich zu ihr, lächelte und widmete sich wieder seiner Zeichnung.

»Ist das dein Elternhaus?«

Er packte seine Sachen ein und wollte hinauslaufen, doch Mae hielt ihn am Arm fest.

»Brian, beim Betreten eines Raumes grüßt du, beim Verlassen verabschiedest du dich.«

»Wiedersehen, Miss Duunly.«

»Auf Wiedersehen, Brian.« Sie folgte ihm nach draußen. »Richte deinen Eltern aus …«

Das Bild, das sich ihr bot, ließ sie verstummen. Eine Frau stand vor einem Wagen, hob Brian hinauf und winkte Mae lächelnd zu. Doch sie war zu verblüfft, um den Gruß zu erwidern. Die junge Frau trug Hosen. Wie skandalös. Dachte sie nicht an ihr Kind, das sie zum Gespött machte, wenn sie in dieser Aufmachung herumlief? Die Frau wendete den Wagen und fuhr los. Mae lief nach Hause, als wäre der Leibhaftige hinter ihr her. An der Tür traf sie auf Grace, die einen gefüllten Einkaufskorb trug.

»Grace, du glaubst nicht, was ich gerade sah. Es ist eine Schande. Der kleine Morehead legt ein unmögliches Benehmen an den Tag und seine Mutter trägt Hosen.« Mae schnappte nach Luft. »Männerhosen«, stieß sie hervor.

Einige Neugierige sahen zu ihnen herüber.

»Lass uns ins Haus gehen«, schlug Grace vor.

»Du hast Bekanntschaft mit Wild Kat gemacht.« Grace legte den Schleier ab und lächelte.

»Eigenartiger Name, aber wie dem auch sei, es schickt sich nicht für eine Frau, in Männerkleidung herumzulaufen.«

»Kathryn Morehead ist die Tante des kleinen Brian. Sie ist hübsch, nicht wahr? Ein heißblütiges Halbblut.«

»Was meinst du mit Halbblut?«

»Kat ist die Tochter des alten Moreheads und einer Indianerin.«

Mae schluckte und nahm auf einem Stuhl Platz. »Du veralberst mich, nicht wahr? Indianer sind blutrünstig und müssen eingesperrt werden.«

»Wer hat dir solchen Unsinn beigebracht? Ist es das, was sie euch im Osten lehren?« Grace war aufgebracht. »Ja klar. Ich war doch selbst in diesem Irrtum, bis ich in den Westen kam. Du bist ein bisschen bleich um die Nase«, witzelte sie.

»Was ist mit Brians Mutter?«

»Die Mutter des kleinen Morehead ist tot.«

»Der Kleine macht mir Sorgen«, murmelte Mae. »Aber erzähle, welche Neuigkeiten gibt es in der Stadt?«

»Der übliche Tratsch, nichts Nennenswertes. Ich amüsierte mich über den alten Finnlay, du kennst ihn doch, nicht wahr?« Als Mae nickte, erzählte sie weiter. »Ich glaube, er ist ein Schlitzohr, der auf seine alten Tage noch ein bisschen Spaß haben will. Er findet Gefallen daran, auf sein Alter zu pochen und Rücksicht zu verlangen. Heute war der Bürgermeister an der Reihe. Er musste Finnlay die Decke auf den Knien richten und dann tat der alte Mann so, als sei er taub.«

»Mae sprang auf. »Das muss es sein. Das ist die natürlichste Erklärung.« Sie griff sich an die Stirn. »Wieso dachte ich nicht gleich daran?«

»Geht es um den Bürgermeister oder den alten Finnlay?« Grace sah sie verdutzt an.

»Nein. Brian Morehead ist schwerhörig. Darum seine schlechte Aussprache. Das kann nicht sein, dass es noch niemand bemerkte.«

»Ich traf seinen Vater vorhin in Slickers Store.«

»Was?« Maes Puls beschleunigte sich. »Das sagst du erst jetzt? Ich muss sofort zu ihm.«Sie eilte zur Tür. »Er muss sich mehr um sein Kind kümmern.«

Grace hielt Mae am Arm zurück. »Vielleicht solltest du abwarten. Du bist zu aufgebracht.«

»Ich bin nicht aufgebracht, ich bin wütend. Welcher Vater erkennt nicht, dass sein Sohn schwerhörig ist? Ich sag es dir. Ein Vater, den es nicht kümmert.«

»Bitte, beruhige dich. Es ist doch nicht dein Kind.«

»Grace, du machst mich noch wütender.«

»Vergiss meine Worte. Wir trinken ein Gläschen Sherry, das beruhigt.«

»Ich will mich nicht beruhigen. Ich gehe zu Morehead und sage ihm, was ich von ihm halte.«

»Was ist in dich gefahren? Als du das letzte Mal deinen Standpunkt vertreten hast, bist du im Gefängnis gelandet.«

Mae lachte. »Keine Sorge. Ich bin sanft wie ein Lämmchen.«

»Wer es glaubt«, murmelte Grace.

Mae ging die Straße entlang. Sie kannte sich selbst nicht wieder. Seit ihrer Ankunft im Westen war sie impulsiver.«

»Miss Dunlay. Sind die Schüler artig?«

Silas‘ Finnlays Stimme riss sie aus ihren Gedanken. Slickers Schwiegervater saß im Schaukelstuhl unter dem Vordach des Stores und paffte seine Pfeife. Durch sein starkes Rheuma saß er oft hier und hielt mit den Kunden ein Schwätzchen. Wahrscheinlich wartete er auf ein Ereignis, das ihn aus seinem Alltagstrott riss. Er war weißhaarig und zahnlos. Er wusste sicher so manches Geheimnis der Einwohner. Fremde kamen selten nach Coldwell. Die Bürger, Siedler, Farmer und Rancher, die ihre Einkäufe im einzigen Laden tätigten, kannte Finnlay genau so, wie die Cowboys der umliegenden Ranches.

»Mr. Finnlay, schön Sie zu sehen. Ja, die Kinder sind artig.«

Er grinste. Sie spürte seine Sympathie. Ob er sich wirklich so manches Späßchen mit den Leuten erlaubte?

Aus dem Store lief Brian, der artig grüßte, hinter ihm folgte seine Tante. Kathrin Morehead und Mae nickten sich zu. Mae war sprachlos und konnte nicht umhin, ihr nachzublicken. Zum ersten Mal begegnete sie einer Indianerin. Das Besondere an ihr waren die hohen Wangenknochen und der etwas dunklere Teint. Das schwarze Haar war zu einem Zopf geflochten und reichte weit über die Schultern. Neidlos erkannte Mae die Schönheit der jungen Frau an. Sie wandte den Blick wieder nach vorne und prallte gegen einen Mann, der aus dem Store trat.

»Verzeihen Sie, Ma‘m.« Der Mann blickte sie entschuldigend an. »Ich hoffe, Sie haben sich nicht verletzt. Ich war unachtsam. Es tut mir leid.«

»Nein, nein«, wehrte Mae ab. »Es war meine Schuld.« Schnell trat sie einen Schritt zurück.

Strubbliges Haar kam unter dem Hut zum Vorschein, den er abnahm. Sie registrierte einen Dreitagesbart in einem sonnenverbrannten Gesicht. Sie war noch keinem so gutaussehenden Cowboy begegnet. Sogar sein ausgewaschenes, braunkariertes Hemd mit Schweißrändern und die abgewetzte, staubbedeckte Hose sahen gut an ihm aus.

»Samuel Morehead«, stellte er sich vor.

»Oh. Brians Vater.« Sie lächelte über sein verdutztes Gesicht. »Mae Dunlay, die Lehrerin.«

»Miss Dunlay, sehr erfreut.«

Er setzte seinen Hut wieder auf, ging die Stufe hinunter und drehte sich nochmal um. »Sie kommen doch auch zum Rodeo am Sonntag?«

»Rodeo? Oh ja, das Rodeo. Natürlich.«

Finnlays Grinsen machte ihr bewusst, dass sie dem Wagen der Moreheads noch nachstarrte, als dieser bereits die Stadt verließ. Du liebe Güte, sie hatten nicht über Brian gesprochen. Wie dumm. Sie rang sich ein Lächeln ab, nickte Finlay zu und trat auf die Straße. Ohne es zu sehen, wusste sie, dass er ihr grinsend nachstarrte.

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