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Tony Tanner – Agent der Weißen Väter – 8.4

Das Komplott der Eisernen – Teil 4

Vor Schreck erstarrt sah Dorkas den Chinesen auf sich zuschießen. Der junge Mann duckte sich, schien alle Kräfte zu sammeln, um Dorkas an die Gurgel zu springen, stoppte dann abrupt und legte bittend die Hände zusammen.

»Meister, gestattet ihr mir eine Frage?«, sagte er in schüchternem Tonfall.

Dorkas wusste nicht, wie ihm geschah. Auch von den anderen Angreifern war nur noch der devot gekrümmte Rücken zu sehen. Sie standen reglos vor ihm, in demütiger, bittender Haltung, als hätte sich Dorkas in eine wundertätige Buddhastatue verwandelt.

»Äähem«, machte Dorkas.

Die verlegene Tonfolge wurde als Zustimmung interpretiert. Sofort sah sich Dorkas umringt. Es waren fünf junge Männer, drei von ihnen mit chinesischen Ahnen, der vierte ein Weißer und der fünfte war zumindest mit einem farbigen Elternteil ausgestattet.

Einer der Chinesen, allem Anschein nach der Wortführer, holte einen Zettel heraus und las vor.

»Verehrter Meister, uns liegen folgende Fragen auf den Herzen. Ist es nicht so, dass im Originaltitel von Heideggers Sein und Zeit das erste Wort ein Possessivpronomen darstellt, woraus die Frage entsteht, wer es ist, dem etwas gehört, was es sein könnte und ob es etwas mit der Zeit zu tun hat oder ob es im Zusammenhang mit Erich Fromms Werk, das im Original Haben oder Sein heißt, steht, wobei sich auch hier die Frage nach dem Possessivpronomen stellt.«

Fünf erwartungsvolle Augenpaare waren auf Dorkas gerichtet, der sich umständlich mit einem karierten Taschentuch den Schweiß von der Stirn wischte. Nachdem er das Tuch sorgfältig gefaltet und verstaut hatte, murmelte er: »Allumfassend …«

Tiefe Falten gruben sich in die jugendlichen Stirnen und glätteten sich erst wieder, als Dorkas Mystisch murmelte. Ein leises Ah kam von den Lippen und die Fünf warfen sich Blicke gegenseitigen Verstehens zu.

»Das Sein also …«, fragte der Wortführer vorsichtig und zugleich hoffnungsvoll nach.

Dorkas nickte bestätigend. »Ähäm … das Sein, ja sicher, das Sein seint, wie Heidegger in seiner Sprache gesagt haben würde, sein Sein-Sein ist … ähäm … es ist Sein und … äh … Haben, das heißt, es hat sich was mit dem Sein, ich meine das Sein seint und darum hat es, denn die tiefe Durchdringung des Seins durch sich selbst bedeutet auch die Fülle des sich Selbst-Habens und dies ist eine eigene Dimension neben der Zeit, die mystische Sphäre des Zu sich und Für sich Sich-Selbst-Seins und -Habens, die der Zeit keinen Ansatz bietet.«

»Also das allumfassend Eine des Plotinos?«, kam die vorsichtige Frage aus der Zuhörerschaft.

»Gewiss, gewiss«, bekräftigte Dorkas, der sich nun auf etwas sichererem Terrain fühlte. »Das seiend einig Eine, das Sinn und Sein hat und Haben ist. Ja, das ist es …«

»Danke, Meister«, setzte der Wortführer erneut an und drehte den Zettel um. «Wie weit ist …«

»Entschuldigung«, unterbrach Dorkas ihn nun und stellte sich auf die Zehenspitzen, um nach der Treppe zu schauen. «Aber es muss sich um eine Verwechslung handeln.«

Der Chineses schaute verblüfft auf den Zettel. Dann schüttelte er den Kopf.

»Nein, Meister, die zweite Frage lautete: Wie weit ist Heideggers Feldweg die präfaktische Negation der heutigen Kommunikationsgesellschaft und würde Lao Tse mit dem Auto auf dem Feldweg fahren.«

»Nein, nein, nein, das meine ich nicht«, stieß Dorkas, immer nervöser hervor. »Sie verwechseln mich mit einem Meister. Aber ich bin es nicht.«

Es folgte fünfstimmiger Protest. »Alle großen Meister behaupten, sie wären keine großen Meister, denn wenn sie sagen, dass sie große Meister sind, sind sie keine großen Meister«, rief der Farbige mit jugendlichem Schwung.

»Wir haben eure Predigt unten an der Bucht gehört«, erklärte der chinesische Wortführer.

»Seid wir Kinder sind, suchen wir nach Weisheit. Eure Predigt hat uns mehr gegeben als alle Bücher und Lehrer. Ihr, Meister, habt den Blick, der Jahrtausende überschaut. Darum sind wir euch gefolgt und flehen euch nun an, uns an eurer Weisheit teilhaben zu lassen und eure Jünger zu sein.«

Nach diesen Worten fielen sie erneut bittend in sich zusammen und falteten die Hände.

Dorkas klappte wortlos den Mund auf und zu, was ein leises schmatzendes Geräusch ergab. Dann beugte er sich herunter, sodass sein Kopf auf derselben Höhe war wie der Kopf des Wortführers.

»Ich werde verfolgt«, flüsterte er. »Ich glaube, es ist der weiße Drache, der mir Böses will. Darum kann ich hier keine weisen Dinge kundtun.«

Der Chinese fuhr in die Höhe, gefolgt von den vier anderen. Nur Dorkas kam nicht so schnell hoch und schien sich daher vor den anderen zu verbeugen.

Als er endlich so weit war, steckten alle verschwörerisch die Köpfe zusammen.

»Der weiße Drache ist ein Da Ren, ein großer Mann«, flüsterte einer der Chinesen. »Er ist der Kopf der Rosa Lotos im sanften Vollmondschimmer-Familie. Er ist der Herrscher von Chinatown. Wenn der weiße Drache den Meister verfolgt, ist der Meister in höchster Gefahr, denn der weiße Drache hat gefährliche Krallen und schlägt schnell zu. Wir sollten den Meister schleunigst in Sicherheit bringen.«

»Ich bitte darum«, sagte Dorkas eilig.

 

Augenblicklich wurde er von den fünf jungen Männern umringt. Sie schoben ihn zur Treppe, trugen ihn mehr oder minder die steilen Stufen hinunter und zogen ihn über die Gasse.

»Der Meister muss aus Chinatown heraus und sich verstecken. Außerhalb von Chinatown hat der weiße Drache weniger Macht und muss Rücksicht auf andere Gruppen nehmen. Der Meister darf kein Aufsehen erregen und nicht mehr öffentlich predigen«, wurde Dorkas unterwegs aufgeklärt.

Dem war alles egal, wenn er nur aus diesem Gassengewirr heil herauskam.

»Eigentlich wollte ich noch mal in einen Antiquitätenladen«, erklärte er dann aber doch ein wenig kläglich.

»Mein verehrter Onkel besitzt einen solchen Laden. Es wird uns eine Ehre sein, den Meister dorthin zu führen.«

Die Gruppe, in deren Mitte Dorkas wie eine Boje in kabbeliger Dünung schwamm, bewegte sich die schmale Strasse entlang. Dann stockten alle, denn in der Nähe erklang ein schriller Pfiff.

»Schneller, Meister!«

 

Dorkas wurde nach vorne geschubst, stolperte fast und wurde von kräftigen Armen wieder auf die Füße gestellt. Als er sich über die Schulter umschaute, erkannte er drei Männer, die sich hastig durch die Passanten drängten. Alle drei waren hochgewachsen und muskulös. Sie schienen eng anliegende Hemden zu tragen. Erst als sie näher kamen, erkannte Dorkas, dass die Verfolger halbnackt waren, durch ihre vollständig tätowierte Haut aber den Eindruck erweckten, angekleidet zu sein. Und noch etwas bemerkte er – sie bewegten die linken Arme seltsam steif und ungelenk. Das lag daran, dass sie zwischen Achsel und Handfläche eine Scheide mit eingeschobenem Schwert verbargen.

»Da sind sie«, krächzte Dorkas.

»Der Blick des Meisters trennt die Schafe von den Böcken«, sagte einer seiner Begleiter nach einem Blick zurück. «Wir müssen uns beeilen.«

Die drei Verfolger bemerkten die Blicke und wussten, dass sie entdeckt worden waren. Sie ließen jede Vorsicht fahren. Die Scheiden wurden zur Seite geschleudert und dann stürmten die drei Männer mit gezückten Schwerten, laut brüllend, auf Dorkas und seine Helfer zu. Die Fußgänger sprangen panisch zur Seite.

Dorkas schloss die Augen und erwartete den tödlichen Hieb. Vorher bekam er einen Stupser in die Nieren, der ihn zur Seite drängte, wurde über eine Treppe gehoben und einen Gang entlang geschleift. Hinter ihm krachte eine Tür zu. Er stolperte, stürzte und riss zwei, drei Begleiter mit sich. Für einen Moment war der Flur von einem Knäuel strampelnder Arme und Beine erfüllt. Ächzend und stöhnend rappelten sich die Fliehenden wieder auf.

Augenblicke später prasselten wütende Faustschläge gegen das Türholz und drei Stimmen brüllten etwas, von dem Dorkas mit einiger Wahrscheinlichkeit annahm, dass es sich nicht um Freundlichkeiten handelte.

Der Schreck trieb sie augenblicklich weiter. Dorkas fühlte sich wieder vorwärts gezerrt. Er kam sich vor wie ein Koffer in einer automatischen Verteileranlage eines Flughafens. Von hinten wurde er am Kragen gepackt und geschoben, von vorne gezerrt. Er schloss die Augen und überließ sich ganz dem fremden Willen.

Als er wieder die Augen öffnete, befand er sich in einem Hof von der Größe eines Zimmers. Jemand steckte den Kopf aus einem kleinen Fenster und schrie, vom Hof her wurde geantwortet. Einige Sätze flogen hin und her, dann verschwand der Kopf und das Fenster wurde zugeschlagen.

Von einem schmalen Durchgang her erklangen hastige Schritte.

»Mein verehrter Vetter sagt, durch das zweite Haus und dann links«, sagte einer der Chinesen, worauf die ganze Gruppe, Dorkas immer in der Mitte, sich durch eine niedrige Tür drängte, diese verrammelte und dann einen Flur entlang hastete. Hier behinderten sie sich gegenseitig und blieben beinahe stecken wie ein Korken im Flaschenhals. Aus dem Hinterhof dröhnten die wütenden Stimmen der Verfolger, denen die Beute wieder knapp entwischt war.

Unter wuchtigen Tritten flog die Tür aus den Angeln, verklemmte sich zwischen den engen Wänden und wurde mit weiteren Tritten aus dem Weg gefegt. Eine Frau begann zu kreischen, dann erklang die Stimme eines Verfolgers und sofort wandelte sich das Kreischen in schrilles Wimmern.

Dorkas wurde nach links gedrängt, wo sich nach einigen Schritten ein Durchgang auf eine abschüssige Gasse öffnete. Als er sah, dass sich seine Helfer unschlüssig umschauten, ergriff Dorkas die Initiative und wackelte auf unsicheren Beinen bergab.

»Der Meister hat entschieden«, klang es hinter ihm und sogleich fand sich Dorkas wieder umringt.

»Eine kluge Entscheidung«, wurde gelobt. «Wir gehen nun nach rechts in die Gasse der Mantelmacher. Dort betreibt mein ehrenwerter Pate ein bescheidenes Speiselokal.«

 

Die Gasse war eng und wimmelte nur so von Passanten. Mit vielen Entschuldigungen drängte sich die Gruppe zwischen ihnen hindurch, gebremst von der eigenen Rücksichtsnahme. Die Verfolger wurden durch derartige Hemmungen nicht aufgehalten. Immer näher kommend wurde Geschrei hörbar, die spitzen Schreie erschreckter Frauen, das Jammern von Kindern, die brutal aus dem Weg gerammt wurden.

Die Klänge trafen Dorkas’ Ohr wie die ersten kollernden Steine einer Lawine, die über ihn herfahren würde. Er schnappte nach Luft und drängte sich schneller vorwärts, obwohl ihm das Herz schon im Hals klopfte.

»Hier hinein, hoch verehrter weiser Mann«, wurde ihm von einer Stimme beschieden und ein Arm, der sich unter den Arm von Dorkas schob, wurde zum Drehpunkt und zwang ihn in Wendung hin zu einer schmalen Tür.

Dampf schlug ihm entgegen. Küchengerüche füllten den engen Durchgang.

»Schnell, sie sind da«, ertönte ein Schreckensschrei.

Dorkas verstand gar nichts mehr. Mit vorgestreckten Armen bewegte er sich nach vorne, ohne den Weg genau zu sehen. Vor, hinter, neben ihm waren seine Begleiter, stießen ihn, traten ihm in die Fersen, schoben und zerrten an ihm. Sie waren inzwischen ebenso von Panik erfüllt wie Dorkas selbst.

Plötzlich war der schmale Durchgang von einem Knäuel sich gegenseitig schiebender und bedrängender Menschen erfüllt. Die Verfolger waren da, direkt hinter ihnen, aber sie konnten in der Enge ihre Schwerter nicht einsetzen.
Alles drängte vorwärts, wurde wie eine kompakte Masse in eine Küche hineingespült. Von allen Seiten erhoben sich Stimmen zu einem unverständlichen Gebrüll, panische Schreie stachen aus dem Wirrwarr heraus.

Dorkas blieb in der Vorwärtsbewegung, stolperte und stützte sich ab. Der Halt erwies sich als trügerisch und gab nach. Dorkas stürzte, zur selben Zeit sauste ein zischender dunkler Klumpen über ihn hinweg, der sich in der Luft zu ringelnden Schlangenleibern auflöste. Die Tiere fielen auf die Verfolger. Die Chinesen stoppten, begannen schreiend um sich zu schlagen und zu trampeln.

Dorkas krabbelte auf Händen und Knien weiter, wurde hochgerissen und an einem zischenden Herd vorbeigeschoben. Einer seiner Helfer griff nach einer Pfanne, in der undefinierbare Dinge, die wie Hühnerklauen aussahen, schwammen. Mit einer Bewegung wie ein Hammerwerfer schleuderte er das siedende Öl auf die tätowierten Chinesen. Der Lärm ihrer Schreie dröhnte in den Ohren. Aus dem Gastraum drängten einige Kellner. Sie kollidierten mit der Gruppe um Dorkas, wieder verwob sich ein Menschenknäuel und platzte dann in beide Richtungen auf.

»Es war eine geniale Idee des weisen Mannes, giftige leckere Baumschlange auf die Verfolger zu werfen. Angesichts der Umstände wird mein verehrter Pate voller Verständnis, milder Verzeihung und großer Bewunderung sein«, rief jemand Dorkas zu. Der achtete nicht auf das ihm unverständliche Lob. Denn nun erklangen aus den Gassen der Umgebung die schon bekannten und gefürchteten schrille Pfiffe.

 

Sie hatten ihre Verfolger abgeschüttelt, aber es waren nicht die einzigen gewesen, die die Messer gewetzt hatten. Jetzt kamen die Pfiffe von beiden Seiten schnell näher. Sie waren eingekreist.

 

Unruhe machte sich in den Gassen breit. Sie wurde spürbar im schwellenden Lärm hastiger Schritte, in Rufen und laut schimpfenden Stimmen. Durch die Quergassen klapperten Sandalen, irgendetwas kippte krachend um, eine Frauenstimme begann zu schelten.

Getrieben von einem gemeinsamen Impuls hielten die Verfolgten an. Sie bildeten eine verschwitzte, keuchende Gruppe mit einem dicken rotgesichtigen Mann in ihrer Mitte. Alle zuckten zusammen, als in einer Nachbargasse Schüsse knallten.

»Wir sind verloren«, flüsterte eine Stimme ergeben.

Ein anderer schüttelte den Kopf. »Nein, das ist die Rettung. Meine verehrte Base feiert Hochzeit mit dem hochwürdigen Li Diauo, den ihr geschätzter Vater nicht als Schwiegersohn akzeptiert. Sehr tragisch. Aber jetzt sind dort Drachentanz und Feuerwerk, und das ist gut für uns.«

Es gab eine zischelnde Beratung, dann klopfte man an eine Tür, gab eine kurze Erklärung und durfte eintreten. Von hier aus konnte man dann durch die Wohnung auf die Parallelgasse gelangen.

Aber ihre Häscher waren nahe. Im letzten Moment schlüpften sie in den Eingang, wagten nicht mehr, die Tür zu schließen und lauschten mit angehaltenem Atem auf die Schritte draußen.

Es waren wieder drei Männer, die gemächlich, fast lauernd, an den Häusern entlang strichen. In dem Spalt zwischen Tür und Rahmen wurden ihre Rücken sichtbar, schienen eine Ewigkeit in unveränderter Position zu bleiben. Endlich verschwanden sie, ihre Stimmen wurden leiser.

»Los jetzt, wenn wir zögern, ist unser Vorsprung dahin!«

Auf den Befehl hin setzten sich wieder alle in Bewegung, drängten durch schmale Kammern und klapperten eine Treppe herab.

Das Knallen der Feuerwerkskörper war nun ganz in der Nähe. Eine Kapelle bemühte sich, mit Gongs und Flöten gegen die Freudendetonationen anzukommen.

Sie bogen um eine Ecke und steckten fest. Hier war kein Weiterkommen. Die Gassen mündeten auf einen kleinen Platz, auf dem die Feier stattzufinden schien. Zu erkennen war über die Köpfe der dicht gedrängten Zuschauer nichts.

Vor ihnen stand diese Menschenmauer, hinter ihnen stachen die gefürchteten Pfiffe aus dem allgemeinen Lärm.

»Hier an der Ecke warten«, wurde Dorkas befohlen.

»Noch einen Moment, dann ist die Flucht kein Problem mehr.«

Dorkas hockte sich bibbernd auf einen Eckstein und verfluchte seinen Körperumfang, der es ihm unmöglich machte, sich zwischen die Schaulustigen zu drängen. Er machte sich so klein wie nur irgend möglich, legte den Kopf zwischen die Hände und zog die Schultern hoch. Er fühlte sich im Stich gelassen.

Jetzt erst wurde ihm die eigene Erschöpfung voll bewusst. Seine Füße schmerzten, sein Puls hämmerte noch immer, als wollte er sich niemals wieder beruhigen. Dorkas war sicher, dass er nie mehr im Leben die Kraft aufbringen würde, sich von seinem Sitzplatz zu erheben.

Die Zeit verrann zäh wie Sirup. Seine Begleiter blieben verschwunden und in jedem Augenblick konnten die Verfolger auftauchen und ihn entdecken. Dass sie der Menge den Anblick einer Metzelei an einem dicken Europäer ersparen wollten, war für Dorkas keine wirkliche Hoffnung.

Neben ihm ertönten hastige Schritte. Noch bevor Dorkas reagieren konnte, wurde es dunkel um ihn.

***

»Little? Doktor Little? Doktor Boo Little? Der Mann mit dem Ford Mustang?«

Die fragende Stimme kam von hinten und ließ Little herumwirbeln.

Verblüfft schaute er den Fremden an. Es war ein völlig Unbekannter, dessen Gesicht in ihm dennoch jenen Hauch von Unsicherheit erweckte, mit dem sich ein mögliches Erkennen ankündigt.

Der andere half Little auf die Sprünge.

»Ich bin Donnahue – ich war damals im Institut wissenschaftlicher Assistent und für die Tiere verantwortlich.«

»Richtig, Shannon Donnahue«, fiel es Little jetzt wieder ein. »Ist eine ganze Weile her.« Für ihn war es ein ganzes Leben her, aber das sagte er nicht.

Jetzt konnte er auch eine Verbindung zwischen dem Mann vor ihm und dem Assistenten am Institut ziehen. Sie hatten nicht viel miteinander zu tun gehabt damals, das mochte als Entschuldigung für sein mangelndes Gedächtnis hinkommen.

»Sie sehen gut aus«, sagte Donnahue. Es war einer dieser Standardsätze, die jemand äußert, weil er es für unhöflich hält, nach einer solchen Wiederbegegnung sofort wieder weiter zu eilen.

»Danke und wie geht’s bei ihnen so«, quetschte sich Little eine lahme Entgegnung ab. Er wäre am liebsten weitergegangen, spürte aber eine Unruhe bei seinem Gegenüber. Der Mann hatte irgendetwas auf dem Herzen und man musste ihm Gelegenheit geben, seine Hemmschwelle zu überwinden.

Sie ließen das Gespräch eine Weile dahin plätschern, redeten mehr um die Stimmen zu hören als um Inhalte auszutauschen.

Dann sagte Donnahue: »Es freut mich, dass Sie wieder so fit sind. Bei Ihrem Abgang vom Institut gab es eine Menge Gerüchte.«

Little grinste. »Was wurde denn so geplaudert?«

»Nun, es hieß, Sie hätten einen Schaden. Ich meine- es hieß – mental – einen Dachschaden sozusagen.«

»Die Behauptung wurde schon aufgestellt, als ich noch fest am Institut gearbeitet habe. Wieso sind Sie eigentlich nicht mehr dort? Sie waren doch immer glücklich mit Ihrem Job, wenn ich mich recht erinnere?«

Donnahue nickte bestätigend. Sein Blick war auf den Boden fixiert. Dann hob er entschlossen den Kopf und schaute Little direkt in die Augen.

»Es gab Änderungen am Institut, die mir absolut nicht gefielen. Das begann nach Ihrem Abgang. Oder Ihrem Unfall, wenn man so will.«

Little verspürte ein leises Kribbeln im Nacken. Er bemühte sich nicht, die Neugier in seiner Stimme zu unterdrücken.

»Änderungen?«, fragte er. »Personell, wirtschaftlich oder wissenschaftlich?«

»Auf jedem Gebiet. Es kamen andere Leute und andere Direktiven. Es … es wurden Vivisektionen vorgenommen. Tiere, ich meine Delfine, lagen mit offenen Gehirnen in Strömungstanks.

Bei der Erinnerung schüttelte es Donnahue. Er packte Little am Arm, nachdem er sich verschwörerisch umgeschaut hatte.

»Ich würde gerne mit Ihnen über diese Dinge reden. Ich möchte erfahren, was Sie zu all den Experimenten sagen. Ich war völlig geschockt und wollte nur weg, aber ich habe mich immer gefragt, wie all diese Sachen wissenschaftlich zu bewerten sind. Ich meine Dinge wie aggressionssteigende Hormongaben bei Orcas et cetera. Mir fehlt da schlicht der wissenschaftliche Hintergrund. Von den ganzen Personalia mal abgesehen. Kommen Sie …«

Nun gab sich Donnahue keine Mühe mehr, sein brennendes Interesse an Littles Meinung zu verbergen. Er packte Little am Oberarm und lotste ihn in Richtung auf den abgesperrten Bereich. In seinem Eifer bemerkte er überhaupt nicht, dass er keinen Widerstand zu überwinden hatte. Darum ähnelte die Szene ein wenig einer Festnahme.

Ein kleiner Junge verdrehte sich denn auch den Kopf und krähte: »Was hat der Mann da denn geklaut?«

 

Sie gingen zwischen zwei kleinen Becken durch und traten durch ein Tor, an dem ein Schild allen Unbefugten das Betreten zwar höflich, aber entschieden verwehrte.

»Hier können wir uns setzen«, deutete Donnahue auf einige Bänke.

Bevor sie dieses Ziel erreichten, eilte von der Seite ein Mann auf sie zu.

»Donnahue, ich habe dich schon die ganze Zeit gesucht«, rief er über die halbe Anlage. Ein wenig schuldbewust hob Donnahue die Schultern. Der andere war jetzt bei ihnen, ignorierte Little und redete wie ein Wasserfall auf Donnahue ein.

»Du musst bei der nächsten Show mitmachen, sonst bekommen wir Probleme. Wir haben Ausfälle – zwei Trainer wegen Magen-Darm.«

»Das sind Orcas, die ich nicht kenne«, antwortete Donnahue skeptisch.

Der andere gestikulierte aufgeregt, als müsste er eine Wespe verjagen. »Kein Problem. Du musst nur auf den Turm und die Fütterungsgeschichte machen. Es reicht, wenn du mit dem Fisch wedelst, den Rest machen die Tiere.«

»Wenn es so simpel ist, dann soll es einer der Aushilfen machen.«

»Geht nicht von wegen Arbeitsschutz und Versicherung. Und was meinst du, was die Gewerkschaft für einen Terz macht, wenn sie erfährt, dass wir Aushilfen auf diese Weise einsetzen, ohne entsprechend zu löhnen.«

»Dann macht’s halt einer der Trainer«, stellte sich Donnahue nach wie vor quer.

»Geht auch nicht. Bis die aus dem Wasser sind und auf den Turm hoch, das dauert zu lange. Wir müssen eine Show einschieben wegen des heutigen Andrangs, da können wir keine Verzögerungen vertragen.«

Ergeben hob Donnahue die Hände und schaute Little an.

»Ich warte so lange, bis wir unser Gespräch fortsetzen können«, versicherte der. Es war nicht nötig, das eigene Interesse allzu deutlich offenzulegen.

»Ich kann draußen warten. Wo treffen wir uns?«

»Nein, nein«, wehrte Donnahue fast erschrocken ab.

»Sie können hier warten. Kein Problem. Das Ganze sollte sowieso nicht lange dauern, ein paar Minuten. Die Tiere springen hoch und verteilen mächtig Wasser, wenn sie zurückfallen. Das macht Eindruck, so was wollen die Leute sehen. Kommen Sie.«

Während er hinter Donnahue herschritt, betrachtete Little das ausgeklügelte System von Becken und Kanälen. Automatische Schleusen öffneten oder verschlossen die Verbindungen. So war es möglich, Delfine in einem Becken zu halten oder ihnen auch beträchtliche Bewegungsmöglichkeiten zu verschaffen.

»Gibt es eine Verbindung zur Bucht?«, fragte er.

»Nicht direkt, wegen des Höhenunterschiedes. Es gibt zwei Becken im Hangbereich, die sind aber nur durch Rohre mit dem anderen System verbunden.«

»Und wozu dienen die?«

»Zur Isolierung kranker Tiere, oder wenn es Dominanzkämpfe gibt. Wir nennen sie Ausnüchterungsbecken. Die Tiere werden über Rutschen in die Becken gebracht. Das untere Ausnüchterungsbecken hat eine Verbindung zur Bucht. Warum fragen Sie?«

»Rein technisches Interesse«, antwortete Little.

»Ist ja eine gewaltige Anlage hier«, fügte er hinzu.

Aber das technische Interesse war nur vorgeschoben. Tatsächlich keimte in einem düsteren Verlies von Littles Hirn eine kuriose Idee. Eigentlich mehr der Verdacht, dass unterhalb aller begrifflichen Formulierung so eine Idee heranwachsen könnte.

 

Als sie eines der vielen kleineren Becken passierten, nahm die Idee Gestalt an. Einfach deshalb, weil dieses Zusammentreffen kein Zufall sein konnte. In dem Becken waren Delfine, eben jene, denen er zu Beginn seines Besuches begegnet war.

Sie lagen träge und apathisch im Wasser. Erst als sich Little näherte, zuckte es wie ein Energiestoß durch diese Gruppe und sie schossen dem Rand zu und steckten die Köpfe aus dem Wasser.

Das war der Moment, in dem Little die Tiere bemerkte und aufhörte, an einen Zufall zu glauben.

»Die sind kurios drauf heute«, murmelte Donnahue. Dabei warf er einen Blick auf Little. Dessen Fähigkeiten im Umgang mit Delfinen waren fast schon Legende gewesen, damals am Institut.

Little ignorierte den Blick, obwohl er ihn bemerkte. Etwas anderes nahm seine Aufmerksamkeit in Anspruch.

Donnahue führte ihn auf einem schmalen Weg zwischen zwei blau gekälkten Mauern bis zum Show-Becken. Gegenüber erhob sich die Zuschauertribüne. Langsam füllten sich die Reihen, während Gute-Laune-Musik aus den Lautsprechern rieselte, unterbrochen von einer routiniert-sympathischen Frauenstimme, die die anderen Attraktionen auf dem Gelände anpries und die Zuschauer auf die kommende Vorstellung einstimmte.

Auf ihrer Seite führte nur ein schmaler Steg am Becken entlang. Er war so niedrig, dass er von den kleinsten Wellen überspült wurde. Links und rechts schloss sich der hochgezogene Beckenrand an.

Gerade erklärte die Frauenstimme, dass während der Vorstellung größere Wassermengen auf die Zuschauerreihen niederregnen könnten. Zuschauer mit empfindlicher Kleidung wurden in die oberen Ränge gebeten. Die Ankündigung wurde mit einem aufgeregten Gemurmel quittiert und es kam Bewegung in die Zuschauerscharen – Frauen wanderten nach oben, Kinder quetschten sich in den ersten Reihen zusammen.

»Auf dieses Ding muss ich klettern, keine große Sache«, erklärte Donnahue und deutete zur Seite. Dort ragte das filigrane Gestänge eines Turms schräg über das Wasser. Eine Leiter führte zu einer Plattform, die gerade groß genug war, um beiden Füßen Platz zu geben.

»Raufgehen, Fisch hinhalten, runter klettern, basta!«, sagte Donnahue. Er sah einen Kollegen, der von der anderen Seite her einen Eimer zum Turm schleppte, und verabschiedete sich von Little bis zum Ende der Vorstellung.

Little zog sich ein wenig zwischen die beiden Mauern zurück. Von hier hatte er einen guten Überblick, ohne seinerseits allzu offen auf dieser Seite des Beckens zu posieren. Er beobachtete die Vorbereitungen, die Donnahue und sein Kollege trafen, schaute sich die bunte, aufgeregt zappelnde Masse der Zuschauer an und plötzlich bemerkte er es.

Die künstlich aufgedrehte Stimmung in diesem maritimen Zirkus hatte es überdeckt. Jetzt aber spürte Little eine erste Unruhe. Je länger er versuchte, ihre Ursache festzustellen, desto größer wurde sie. Er konzentrierte sich, versuchte irgendwo eine Person zu erfassen, die er mit seiner eigenen Beunruhigung in Verbindung bringen konnte. Es gelang ihm nicht. Statt dessen war es, als hörte er im Hintergrund seiner Gedanken ständig das bedrohliche Summen aus einem verborgenen Hornissennest.

 

Eine Fanfare kündigte den Beginn der Show an. Von der Seite rauschten vier Orcas in das Becken. Auf dem vordersten Tier der Formation, das eine Bein auf die Schnauze gestemmt, das andere gegen den Rücken, stand die Trainerin und hielt die Stars and Stripes in die Höhe. Beifall und bewundernde Pfiffe brandeten auf.

Solche Auftritte waren für Little ein Graus. Dennoch musste er widerwillig zugestehen, dass diese junge Frau nicht nur außerordentlich ansehnlich war, sondern die tonnenschweren Orcas auch perfekt unter Kontrolle hatte.

Für einen Moment verschwand das summende Alarmsignal aus Littles Bewusstsein. Er sah zu, wie ein Tier mit der Trainerin abtauchte, dann durch die Oberfläche brach und die Frau hoch in die Luft schleuderte. Dort machte sie eine Rolle und tauchte mit einem perfekten Kopfsprung ein. Little erinnerte sich an den Neid, den er als Jugendlicher gegenüber Menschen mit perfekter Körperbeherrschung empfand. Hier wäre wieder ein Anlass gegeben, so abstoßend zirkushaft er die Vorstellung auch fand.

Eine kurze Pause trat ein. Und sobald seine Aufmerksamkeit nicht mehr abgelenkt war, überfiel Little wieder das Gefühl der Bedrohung. Jetzt war es nicht mehr ein verborgenes Summen, jetzt war es eine Stille. Eine tiefe bedrohliche Stille, die nur darauf zu warten schien, dass sie sich mit Schreckensschreien füllen konnte.

In diesem Moment spürte Little, wie ihm der Schweiß aus den Poren trat. An der Seite begann Donnahue, mit dem Eimer voller Fische bewaffnet, langsam die Leiter zur Plattform hochzusteigen.

Jetzt erst bemerkte Little den Mann, der sich lässig an den Beckenrand lehnte. Er stand direkt an dessen Anfang, sodass sich Little vorbeugen musste, um ihn vor seiner Warte aus sehen zu können. Er versuchte festzustellen, ob es dieser Mann war, der ihn beunruhigte, fand aber erneut keine klare Antwort in den verschiedenen Impulsen und Signalen, die er auffing.

Der Mann schien Latino oder Südamerikaner zu sein. Wahrscheinlich gehörte er zu den Hilfskräften, die auf dem Gelände mit knapp bezahlten Reinigungsarbeiten und Ähnlichem beschäftigt waren und sich dabei noch glücklich schätzen konnten, denn viele waren illegal in den USA.

 

Der zweite Teil der Vorstellung begann. Diesmal behielt Little den Latino im Auge. Der Mann zog tatsächlich ein zweirädriges Wägelchen mit einer Mülltonne hinter sich her. Den Besen und ein langstieliges Kehrblech nahm er immer wieder in Gebrauch und bewegte sich dabei immer weiter in Richtung auf die Tribünen. Bald war Little sicher, dass der Mann alles andere im Sinn hatte, nur nicht das Säubern des Weges. Sicherlich faszinierte ihn die laufende Vorstellung und er hatte seinen Rundgang entsprechend eingerichtet. Jetzt blieb er wieder stehen und legte die Arme über den Beckenrand. Er war nicht besonders groß, daher war von ihm wenig mehr als Schultern und Kopf zu sehen. Der Mann hatte dunkle Haut, ein schmales, scharf gezeichnetes Gesicht und schwarze Augen. Als er einmal zur Seite schaute, konnte Little ein Profil mit großer Adlernase und vorspringendem Kinn erblicken. Die Frisur des Mannes fiel ihm auf – das lange Haar war über dem Hinterkopf zu einem Knoten gebunden, von dem aus es bis auf den Rücken fiel. Die Kelten oder vielleicht auch die Franken, glaubte sich Little zu erinnern, waren für diese Haartracht bekannt gewesen.

Das Wasser wurde wieder von den Orcas zerfurcht. Die schweren Tiere jagten knapp an Littles Standort vorbei, er musste zurückspringen, um nicht bis zum Gürtel durchnässt zu werden. Er bewunderte die Kraft und die Geschmeidigkeit, mit der sich diese Raubtiere vorwärtspeitschten.

Plötzlich vernahm Little einen Schrei, schrill und durchdringend, wie von einem großen Vogel und er erstarrte vor Schreck. Aber dieser grässliche Laut kam nicht von außen. Er stach hinein in Littles Bewusstsein, er war eine Warnung und zugleich höhnisches Zeichen dafür, dass Veränderungen stattfanden. Seine Nackenhaare sträubten sich, während Little in sich ein Splittern und Krachen zu hören glaubte, als würde lange geschmiedete Bande zerrissen. Jetzt erst verstand er, was vorging. Unter der Oberfläche der Normalität, hinter dem Bild Eis schleckender Kinder, gemeinsam staunender Familien, umschlungener Paare und einer perfekt einstudierten Show begann das Gerüst der Wirklichkeit zu wanken. Spalten taten sich auf im durch Gewohnheit polierten Boden des Das war immer so und wird so bleiben. Verborgene Kräfte quollen durch neugeschaffene Spalten und begannen alles zu ändern. Als Little aufblickte, begegnete er den schwarzen Augen des Mannes am Beckenrand. Es war keine zufällige Begegnung zweier Fremder. Der andere wusste, dass Little wusste …

Little öffnete den Mund, um Donnahue zu warnen. Aber aus seiner trockenen Kehle kam nichts als ein schwaches Krächzen. Und es wäre sowieso zu spät gewesen.

Fortsetzung folgt …