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Tony Tanner – Agent der Weißen Väter 7.5

Die Hyleg-Schädel – Teil 5

Mario und seine Genossen waren über den Zustand des Globo No Flaggschiffes begeistert. Für sie stand fest, dass die Schergen der Globalisierung dieses schwimmende Symbol des Widerstandes beseitigen wollten, aber das Schiff hatte all dem widerstanden und sich dadurch selbst geadelt. Tony musste alle Überredungskunst aufwenden, damit Mario vor den Anrufen bei den Medien ein Telefonat mit der Polizei tätigte, in dem er von einem führerlosen Boot mit Verletzten berichtete, das, vermutlich mit fast leeren Tanks, in Richtung Albanien unterwegs war.

Dann fuhren Steele. Lucille und Tony nach Loreta. Tony nutzte seine neu geschaffenen freundschaftlichen Beziehungen zum Hotelpersonal und sorgte dafür, dass sie frische Kleidung aus ihren Zimmern gebracht bekamen und sich umziehen konnten, bevor sie über das Foyer den Weg zu ihren Räumen antraten.

»Übrigens, Süßer«, sagte Lucille, als sie sich vor Tonys Tür von ihm verabschiedete. Dabei legte sie ihren Finger unter Tonys Kinn – eine Geste, die irgendwo zwischen strenger Lehrerin und sanfter Verführung einzuordnen war. »Du weißt, wo ich wohne und du weißt, was ich will. Den Rest überlasse ich dir.«

Damit legte sie mit wiegenden Hüften die wenigen Schritte zu ihrer Tür zurück und ließ einen Tony Tanner zurück, dessen Blick förmlich vor Entschlossenheit funkelte.

Als er seinen Oberkörper straffte, um sich wirklich gut zu fühlen, spürte er die schmerzhafte Lähmung in seinen rechten Arm fluten, den Preis für den Einsatz der geheimnisvollen Peitsche.

Tony Tanners Hoffnung, sein desaströses Liebesleben würde sich nun mit einem Schlag in eine beneidenswerte Erfolgsgeschichte verwandeln, hatte nicht lange Bestand.

Als er unter der Dusche hervorkam, wusste er, wie sich eine Jeans fühlen muss, nachdem sie gerade stone-washed worden war. Seine Sammlung an Prellungen, blaue Flecken und Hautabschürfungen hatte sich an diesem Tag um einige schöne Exemplare vermehrt. Tony war ziemlich sicher, dass es ihn nicht erfreuen würde, wenn irgendeine Person ihre Finger auf diese Stellen legen würde, und sollte es die Liebesgöttin Venus in personam sein. Sein rechter Arm baumelte wie leblos neben ihm, aber er war nicht fremd, er war wie die Trophäe eines siegreichen Kampfes, und die Erfahrung mit der Peitsche hatte ihn gelehrt, dass der Schmerz und die Lähmung nur vorübergehend waren.

So lautete also das Fazit seiner Überlegungen: Leg dich ins Bett, Alter und schlaf ‘ne Runde. Morgen ist auch noch ein Tag.

 

Leider schien Lucille Chaudieu mit dem morgigen Weltuntergang zu rechnen oder aber sie war derart von Begierde erfüllt, dass sie nicht bis morgen warten konnte. Letztere Möglichkeit hatte natürlich für Tony durchaus schmeichelhaft, ließ aber andererseits befürchten, dass sie auf blaue Flecken keinerlei Rücksicht zu nehmen beabsichtigte. Was wiederum zu schmerzhaften Nervenirritationen aufseiten Tonys führen könnte und seine … nennen wir es physiologischen Fähigkeiten … in gewisser Beziehung mindern könnte, was ihm wiederum äußerst peinlich wäre, weil es seiner Auffassung eines Gentlemans widersprach (wobei betont werden muss, dass sich Tony Tanner in dieser Hinsicht eine gänzlich eigene Weltanschauung gezimmert hatte, da es bekanntlich zu den Eigenheiten eines Gentleman gehört, nicht zu viel zu sagen und über dieses Thema nun schon erst recht nichts) und sein Selbstbewusstsein gefährden, ja, ihn sogar in die Gefahr der Neurotisierung bringen würde.

Die gänzlich eindeutige Einladung Lucilles, an sich die Verwirklichung eines Männertraumes, wurde für Tony plötzlich zum Albtraum. Er verfluchte die Ungerechtigkeit der Welt, die einem Mann die Ausrede eines plötzlichen Migräneanfalls versagte.

Tony ging einige Minuten unruhig in seinem Zimmer auf und ab. Von ihm nur durch eine Wand getrennt, war er sich der Anwesenheit eines erotischen Vulkans bewusst, einer Lucille Chaudieu, die er sich in diesem Moment als eine Mischung aus gereiztem Miura-Stier und ausgehungertem Mädchenpensionat vorstellte. Er glaubte förmlich die heftigen Atemzüge Lucilles zu hören, das leise Knistern einer Lawine an Begehrlichkeit, die sein zartes Fleisch zu überrollen trachtete.

Schließlich gewann sein Optimismus Oberhand. Er würde die Sache irgendwie schon drehen, angeblich waren Frauen ja gar nicht so scharf auf Sex und wollten lieber eine Runde kuscheln und den Mann mit ihren Problemen zutexten. So ungefähr stellte sich Tony jetzt einen gelungenen Abend vor.

Nachdenklich massierte Tony seinen rechten Arm.

Und im Übrigen … Tony stellte sich vor den Spiegel und beschimpfte sein Abbild aus vollem Herzen. Was war er für ein Idiot. Da wartete eine Traumfrau auf ihn und er hatte nichts anderes zu tun, als an seine zwei Dutzend blauen Flecke, oder wie viele es nun auch sein mochten, zu denken!

 

Endlich, jetzt war Tony bereit, sich den erotischen Lavaausbrüchen Lucilles zu stellen.

Nun allerdings kam ein anderes Problem. Steele, genauer Steeles Gehör, genauer die knarrenden Dielen auf den Flur und ganz genauestens Tonys peinliche Berührtheit bei dem Gedanken, Steele könnte mitbekommen, dass sich Tony in Lucilles Zimmer schlich. So was gehörte sich einfach nicht. Es war peinlich. Es hatte eine Form von vulgärer Protzerei an sich.

Die Vorstellung von Steeles Grinsen, wenn er das Knarren der Dielen hören würde, hatte für Tony den Charme eines Kastrationsmessers. Und in gewisser Hinsicht auch dessen Wirkung. Nein, der Gang über den Flur schied aus.

Blieb, um sich der Gefährtin seiner kommenden Ausschweifungen zu nähern, nur noch der Weg über den Balkon. Der war einfach und naheliegend und hatte lediglich den leichten Reiz, dass zwischen den beiden Balkonen die Möglichkeit zu einem senkrechten 25-Meter-Spurt mit anschließendem Pflasterklatschen bestand. Diese Möglichkeit war aber rein theoretisch, wie sich Tony schnell selbst bestätigte, als ihm die Vorstellung eines solchen Sturzes ein hektisches Kribbeln in die Magengrube zauberte.

Tatsächlich war es so, dass sich Tony und Lucille von ihrer beider Balkone aus die Hand geben konnten, ein wenig guten Willen und weites Vorbeugen vorausgesetzt. Der Abstand betrug nicht mehr als einen weiten Schritt und war auch für einen Normalmenschen ohne größere sportliche Ambitionen (eine Kategorie, in der sich Tony Tanner gut aufgehoben fand) leicht durchzuführen. Sicherlich, es gab diese unerfreuliche Lücke, die aber vorhanden sein musste, sonst hätten ja keine Balkone, sondern eine Galerie die Fassade des Hotels geziert. Und wenn man etwas Fantasie mit ein wenig Wehleidigkeit mischte, dann konnte man sich schon vorstellen, wie es ist, wenn man das Ziel verfehlt, die Hand am Balkongitter abgleitet und man, begleitet von seinem eigenen Schrei, in die Tiefe stürzt … Und erst dann diese Peinlichkeit, unten als Leiche liegen zu müssen, während sich die Zuschauer um die eigene abgelebte Person sammeln und dumme Bemerkungen machen, die man selbst nicht mal mehr mitbekommt …

 

Schluss, verdammt noch mal!! Tony hämmerte die energisch geballte Faust auf den Tisch, dass die Vase und die anderen Gegenstände einen erschreckten Hüpfer machten, als hätte er sie zu dieser späten Stunde aus dem Schlaf gerissen. Hatte er denn überhaupt keinen Selbstrespekt mehr? Eben noch hatte er mit Steele und Lucille ein Abendessen eingenommen. Übrigens ein ganz ausgezeichnetes, Lucille hatte gemeint, zur Feier des Tages sollte man sich Austern leisten und ein Schluck Champagner wäre auch nicht schlecht. Ansonsten sagte sie nicht viel, das heißt, sie redete nicht, aber ihre schweigende Anwesenheit, ihre Blicke machten Worte überflüssig.

Tony hatte, tückisch wie er war, einen Ausweg gesucht, indem er Steele fragte, ob die sofortige Abreise unter irgendeinem Vorwand angemessen sei. Steele hatte allerdings nur den Kopf geschüttelt und erklärt, dadurch machten sie sich erst recht zu potenziell Verdächtigen, sollte den Carabinieri schon eine Spur der Seeschlacht untergekommen sein und sie zu Nachforschungen animiert haben. Nein, morgen würden sie in aller Ruhe aufbrechen, dem Ex-Bürgermeister könnte man immerhin noch ein erklärendes Telefonat gönnen und dann war man ab durch die Mitte. Tony war begeistert, im Angesicht einer schamhaft schweigenden, aber vor Erwartung glühenden und wunderschön anzuschauenden Lucille Chaudieu fand er kaum Worte, um auszudrücken, wie sehr ihn ein schneller Aufbruch in seiner Lebensfreude gemindert hätte.

So war das also gelaufen und Tony sah sich mit der Tatsache konfrontiert, dass einem Liebesabenteuer nichts im Wege stand, außer seiner eigenen Feigheit. In diesem Moment verwünschte er jede verpasste Gelegenheit, eine Frau flachzulegen – die Zahl der verpassten Gelegenheiten übertraf die Zahl der genutzten solchen um geschätzte 110 Prozent – jede heimliche Lektüre in Francines Frauenzeitschriften (Warum ein Mann eine Frau nicht befriedigen kann und wie sie ihn trotzdem dazu kriegen, es zu tun, ihre 77 schärfsten Punkte, von denen Ihr Kerl nie erfahren wird. Warum Lesben den besseren Sex haben), sowie seine gesamte Erziehung und seine blöde Rücksichtnahme auf die Mitmenschheit. Warum konnte er nicht einfach stramm und knarrend über den Flur gehen, an Lucilles Tür klopfen, sie Schnucki nennen und sie auffordern, ihm … na ja, jedenfalls der eventuellen Befriedigung seiner Partnerin soviel Wert beizumessen wie der Wettervorhersage von vorvorgestern.

 

Verdammt, verdammt, verdammt, Tony raufte sich die Haare und rannte sofort in das Badezimmer, um den Scheitel wieder in Form zu bringen. Was für eine oberblöde Situation! Das war schlimmer als Schmierentheater. Er war eine Lachnummer. Er jammerte herum wie die Karikatur eines jugendlichen Liebhabers aus einem Bühnenverbrechen von 1890.

Also gut – der Balkon. Das machte sich nicht schlecht. Es hatte so was Romantisches, das Tony durchaus zu schätzen wusste. Lucille, davon war er überzeugt, ebenso. War sie nicht vom Kopf bis zu den Füßchen ein Idealbild der Französin, eine Rose vom Stamme jenes Volkes, das sich durch überfeinerte Lebensart, dekadente Laster und Nerven zerrüttende Abnormitäten, ja sogar offen zelebrierte Perversitäten als unfähig zu … Tony starrte vor sich hin. War er vom Geist der Maggie Thatcher besessen? Hatte er etwa zu oft die Sun oder den Mirror gelesen? Wieder schritt er wie ein Tiger im Käfig hin und her. Oder wie ein verschüchtertes Böcklein in seinem Verschlag. Allein die Vorstellung: Aber natürlich hat es mir Spaß gemacht, Tony. Aber ein Orgasmus ist doch gar nicht so wichtig, Liebling. Nein, diese Sache mit der Größe des Du-weißt-schon ist doch eine bloße Männerfantasie, Schatzi. Aber sicherlich, kuscheln macht auch mir viel mehr Spaß. Nein, nein, ich möchte jetzt auch schlafen, Herzchen. Mach ruhig weiter, wie kommst du darauf, dass ich gegähnt habe? Nein, zwei Minuten reichen mir völlig. Ich kann mich im Moment nicht daran erinnern, dass es mir irgendwann mal mehr Spaß gemacht hat. Du warst klasse, gibt’s du mir bitte mal das Fernsehprogramm rüber.

»Alles klar, Tony, das Phänomen nennt man Selbstblockade. In welchem psychologischen Beratungsbuch war dieser Trick mit dem Zählen – bis 10 oder bis 100? Oder war es die Sache mit dem tiefen Durchatmen? AAuumm – und in den Bauch hinein, wird schon besser, wie lange hänge ich eigentlich hier schon rum, oh Mann, Lucille sollte ich nicht warten lassen, so was tut man doch nicht, Himmel ich bin so scharf auf diese Frau und würde jetzt am liebsten Mönch werden …«

Es hatte keinen Zweck, mit der Tony Tannerschen Überlebenstaktik des Zögerns, Zauderns und Abtauchens weiterzumachen. Tony schaltete seine Gedanken ab, das heißt, er dachte ständig: Ich denke nicht, ich denke nicht, ging auf den Balkon, stützte sich mit der einen Hand an die Hauswand, kletterte auf die Brüstung und sprang.

 

Den Sprung hätte er sich sparen können, ein weiter Schritt hätte es auch getan, wie im Laufe dieser Dokumentation der Seelenverwirrungen eines nicht mehr gänzlich jungen Mannes aus gutem Hause ja auch schon angedeutet wurde. Tony kam auch planmäßig auf Lucilles Balkon an, bekam mit der Linken die Brüstung zu fassen, knallte mit dem Schienbein an die ausgebauchte Rundung des Geländers, ließ für einen Moment den Griff locker, rutschte ab, griff wieder zu, bemerkte, dass die Geländerstangen durch den feinen Niesel glitschig geworden waren und rutschte langsam, Idiot, Idiot, Idiot vor sich hinzischelnd, nach unten, bis er die tiefste Position erreicht hatte. Über ihm war das ausschwingende Geländer wie der Bauch eines der Völlerei ergebenen Mannes, unter ihm war italienische Luft und darunter das Pflaster.

Jetzt stellte Tony etwas fest, das er schon vorher gewusst hatte, was ihn aber bisher niemals in seiner Lebensplanung betroffen hatte: Die Abstände zwischen den Geländerstangen waren so gering, dass er seinen Arm nicht hindurchschieben konnte.

Tony pendelte aus und lauschte dem lauten Pochen seines Herzens. Ein kalter Schweiß drückte sich aus seinen Poren und vermischte sich mit dem Nieselregen, der wie ein lauernder Bettler nun über ihn herfiel.

DAS konnte nur ihm passieren. Kein anderer Mensch zwischen Nordpol und Südpol war so außerirdisch dämlich, um sich in eine solche Situation zu manövrieren. Die Wut über sein Missgeschick ließ Tony jede Gefahr vergessen. Er bemühte sich, eine Hand höher an das Geländer zu bekommen. Es gelang ihm jedes Mal, aber wenn er den Griff fester ansetzte, um mit der anderen Hand nachzugreifen, glitt er unweigerlich wieder nach unten, seine rechte Hand war zu unzuverlässig und zu schwach. Vor Anstrengung und Wut quiekend zappelte Tony am Balkon und hörte sich selbst schnauben. Gut, die Situation war nicht wirklich gefährlich. Er brauchte bloß loszukrakeelen, dann würden sich innerhalb Sekunden alle Fenster öffnen, auch das von Lucille und Hilfe wäre somit garantiert.

Und eine Blamage, die ihn unter Garantie in die vermischten Meldungen der überregionalen Tageszeitungen bringen würde. Tony sah schon die Überschrift: Hängepartie eines Liebhabers, wahrscheinlich würde sich die gefürchtete Kreativität der Journaille an ihm austoben. Vielleicht bekäme er sogar eine Einladung zu einer Nachtmittags-Talkshow (was für Tony Tanner dem Abstieg in die Regionen des sozialen Elendes und der geistigen Verwirrtheit gleichkam).

Aber nicht mit ihm! Oh nein! Er hatte zwar keine Ahnung, wie er aus dieser Sache rauskommen sollte, aber er hatte in den letzten Monaten ganz andere Gefahren überstanden, jawoll!

Nach diesem schönen Beispiel von Selbstmotivation unterdrückte Tony auch den Impuls, leise nach Lucille zu rufen. Wieso hatte diese Frau ihn eigentlich nicht gehört? Das Geländer hatte laut genug gequietscht … verdächtig laut sogar. Saß diese Französin eigentlich auf den Ohren oder was? Da konnte man an ihrem Balkon abhängen wie ein Räucherschinken und sie rasierte sich die Beine oder klatschte sich Parfüm hinter die Ohren oder machte wer weiß was.

 

Verdammt noch mal. Bisher hatte Tony Tanner sich noch nie für einen Glückspilz gehalten. Warum auch, er brauchte keinen Lottogewinn, er war mit seinem Leben im Großen und Ganzen zufrieden, zumindest bevor ihm Francine den Laufpass gegeben hatte und er einem dicklichen Mann namens Dorkas über den Weg lief. Jetzt stellte er sich die Frage, ob er vielleicht zu der Kategorie der Pechvögel zu zählen war. Oder der Volltrottel, vergleichbar jenen Exemplaren, die mit einem Streichholz in den Tank leuchten, um zu kontrollieren, ob noch Benzin drin ist.

Langsam begannen seine Muskeln erste Wirkung zu zeigen. Nein, es war immer noch mehr Scham als Panik angebracht, aber trotzdem musste was passieren. Wenn er … ja, das konnte funktionieren. Tony schwang sich hin und her. Das Geländer begann wieder zu quietschen, seine flexiblen Bewegungen waren nicht geeignet, Tony glücklich zu machen. Egal, es musste jetzt sein. Noch einmal ein Schwung, noch einmal, seine Schuhspitzen berührten den Balkonboden, dann zurückschwingen, Beine einziehen und wieder ausfahren, geklappt. Und nun?

Nun lagen Tonys Füße auf der ausschwingenden Brüstung seines eigenen Geländers, er hing wie eine Hängematte zwischen den beiden Balkonen und musste den Kopf einziehen, um sich keine Beulen zu holen. Jetzt konnte er aber die zweite Stufe seines Planes durchführen. Mit einem Fuß wollte er sich abstützen, um durch diesen Druck seine Griffe fester ansetzen zu können. Damit wollte er über die Außenrundung des Balkons gelangen, die Beine herüberschwingen, einen Fuß zwischen den Stangen verkeilen und dann brauchte er nur noch den Handlauf anzupacken und konnte sich auf den Balkon schwingen. Soweit die Theorie. Die Ausführung sollte später kommen, jetzt brauchte Tony erst einmal eine kurze Verschnaufpause.

Zwischen seinen schmerzenden Armen schaute Tony auf die dunkle Fassade des Hotels. Kein Fenster war erleuchtet, nicht einmal ein Lichtschimmer fiel durch einen zugezogenen Vorhang. Lediglich der Schriftzug über dem Eingang brachte ein wenig Helligkeit, die sich aber wie eine auslaufende Flüssigkeit im kleinen Umkreis verlor.

 

Ein Geräusch machte Tony aufmerksam. Vielleicht war es schon seit einiger Zeit an sein Ohr gedrungen. Jetzt aber registrierte er es und er spürte, wie sich seine nass geschwitzten Nackenhaare aufstellten. Es war ein banales Geräusch, das lediglich durch die Situation zu etwas Bedrohlichem wurde. Das Tappen von Schritten. Leises Flüstern. Als Tony in die Richtung schaute, glaubte er, noch einen Schatten zu erkennen, der am Rand des Neonscheines um die Ecke des Hotels huschte.

Dort war der Lieferanteneingang. Von dort kam man ungesehen in das Hotel, zur Treppe, die nach oben führte. Es gab für Tony keinen Zweifel, wem der Besuch der Flüstermänner galt. Er lauschte einen Moment, hörte nichts mehr, überdachte die Möglichkeit, dass dort unten einer Schmiere stand, und verwarf sie. Dann ließ er seine Beine von ihrem Haltepunkt abgleiten und begann wie ein gedopter Gorilla zu schwingen. Das Geländer begann zu quieken, vom Balkon löste sich ein Stein und kollerte nach unten auf den Boden. Tony war in Schweiß gebadet, seine Schultern brannten, aber er wackelte, als müsste er eine ganze Schulklasse auf Besichtigungstour imitieren. Endlich, endlich kam das Ratschen eines Vorhangs, der zur Seite gezogen wird und Lucilles Balkontür schwang auf. Eine Wolke von schwerem Parfüm ging ihr voraus. Als Tony den Kopf hob, verschlug es ihm fast den Atem und er verurteilte sich selbst zur Hinrichtung durch den Samenstrang, weil er nur eine Sekunde gezögert hatte, mit lautem Schritt ihr Zimmer zu stürmen.

Lucille trug ein spitzenbesetztes Nichts, das sie bis zu den Knien umhüllte. Gegen das Licht gesehen, schien sie von einer duftigen Wolke umgeben, die ihre Schönheit mehr betonte als verdeckte. Mit einem erschreckten Schrei fuhr Lucille zurück, als sie Tony am Geländer baumeln sah.

»Was machst du denn da?«

»Das erkläre ich dir bei passender Gelegenheit. Du musst sofort Steele warnen. Gerade haben sich einige Kerle in das Hotel geschlichen. Ich bin sicher, dass sie uns besuchen wollen.«

»Ich kann dich doch hier nicht hängen lassen.«

»Mach hin, Lucille, ich halte es noch die Minute aus.«

Ohne Antwort drehte sich Lucille zur Tür und hüpfte in ihr Zimmer. Ihre Bewegungen waren leicht wie die einer Feder, der Saum ihres durchsichtigen Gewandes schwang um ihre schlanken Beine.

Jetzt musste sie über den Gang und jetzt würde sie sich in ihrer ganzen Pracht präsentieren und Steele war auch ein Mann und der hatte keine Hemmungen wie Tony und würde sich an Lucille ranschmeißen und damit war die Sache gelaufen und er war der Blödmann der Geschichte und er konnte nur noch den Gönner spielen und einen Schrott wie Hauptsache du bist glücklich ablassen.

Lucilles federleichten Schritt hatte Steele nicht registriert. Erst als er das leise Kratzen an der Tür vernahm, fuhr er aus einem unruhigen Schlaf hoch. Vor der Tür stand Lucille, bis zum Kinn in einen fußlangen weißen wattierten Hausmantel gehüllt. Sie sah ungeheuer schön und sehr jung aus. Steele sah sie einen Moment an, weil sich ihm die Frage aufdrängte, wie seine Tochter wohl heute aussehen würde und wie ihr solch ein Mantel stände.

In ihrer Aufregung bemerkte Lucille den Blick nicht und konnte daher auch keine falschen Schlüsse ziehen.

»Tony hat Leute gesehen, die sich ins Hotel geschlichen haben«, wisperte sie. Ihre Stimme überschlug sich, ein allerliebster Akzent, den sie sonst perfekt unterdrückte, schlich sich in ihre Worte.

 

Mit einer schnellen männlichen Bewegung griff Steele nach ihr und zog sie an sich. Bevor Lucille auch nur einen Ton von sich geben konnte, hatte er sie auf die Armen genommen und warf sie im hohen Bogen auf sein Bett. Lucille stieß einen hohen Schrei aus und starrte entsetzt auf den Mann, der sich so plötzlich als Monster entpuppte.

Steele sprang auf sie zu, sprang zu kurz und landete auf seinen beiden Händen. Seine Beine keilten nach hinten aus und trafen den Unterleib des ersten Angreifers. Mit einem dumpfen Stöhnen wurde der Mann in die Luft geschleudert. Bevor er den Boden berührte, war Steele neben ihm, schlug ihm das Messer aus der Hand und rammte seinen Ellbogen in den Solarplexus. Der Mann zuckte, als hätte eine innere Explosion stattgefunden, dann lag er still.

Steele war schnell gewesen, aber nicht schnell genug. Der Nächste war schon über ihm, mit einer instinktiven Bewegung konnte Steele den Stich gegen seine Halsschlagader vermeiden. Die Klinge fuhr neben ihm in den Teppich, aber eine Hand packte Steeles Hals und presste ihn zusammen wie eine Zange. Bevor Steele einen Gedanken an eine Abwehr fassen konnte, war der dritte bei ihm. Steele sah den Fuß, der zurückfuhr, um Schwung zu holen. Er saugte Luft ein und sandte alle Energie, die er im Körper hatte, auf die Seite.

Der Tritt traf ihn, war stark genug, um seine Rippen zu Stückchen zu zertrümmern und hatte keine Auswirkung, weil Steele jetzt die Ernte zahlloser blauer Flecken und triefenden Hohnes von Meister Ki einfuhr.

»Energie überall ist«, hatte der kleine Japaner gesagt und dabei mit verklärtem Lächeln eine Pantomime vollführt, als würde er goldene Äpfel von einem Baum pflücken. »Nutzen du sie musst, dann unverletzlich das Wasser du wirst sein.«

Steele stieß ein Stöhnen aus und erschlaffte. Sein Kopf fiel zur Seite. Die Täuschung dauerte eine Zehntelsekunde, dann hatten die Gegner sie geschluckt, weil sie genau diese Reaktion erwartet hatten. Dann bäumte sich Steele sich, zugleich fuhr sein Kopf nach vorne und knallte gegen die Nase seines Gegners. Der Mann schrie auf, ein unterdrückter Schrei, denn schon knallte Steeles Faust an sein Kinn und sandte ihn in eine tiefe Bewusstlosigkeit. Mit einer machtvollen Bewegung warf Steele den schlaffen Körper des Mannes von sich und holte zu einem Sicheltritt aus. Der Aufprall holte den dritten Mann von den Füßen, im gleichen Moment sprang Steele wie eine Feder auf, weil er die Energie des Aufpralls genutzt hatte, und hämmerte eine rechte Gerade in den Bauch des Mannes. Das war in gewisser Weise ein Fehler, denn der Mann hatte nicht einmal mehr Zeit, sich zur Seite zu drehen, bevor ihm der gesamte Mageninhalt in einer Fontäne aus dem Mund schoss und zurück auf sein Gesicht pladderte.

Vom Bett her, wo Lucille, die Arme um die angezogenen Knie geschlungen hockte wie ein kleines Mädchen, kam ein erneuter Aufschrei. Steele war sich sicher, dass es nicht Ekel war, sondern eine Warnung. Er ging instinktiv in die Knie, im nächsten Moment rammte ihn ein Knie in die Seite und warf ihn um. Aber das gereichte dem vierten Angreifer nicht zum Vorteil, denn auch er wurde von seinem Schwung weitergerissen und fiel über Steele hinweg. Bevor er sich aufrappeln konnte, riss ihm Steele das Standbein weg und drückte seinen Daumen in das Rückgrat des Liegenden. Der Mann zuckte zusammen, wurde von seinen Nervenimpulsen zu einem Halbkreis gekrümmt und sackte dann zusammen.

Der Blick zur Tür zeigte Steele, dass keine weiteren Angreifer bereitstanden. Aber er war vorsichtig. Er schlich sich auf den Flur, verharrte regungslos und konnte den Atem hören, der aus dem Dunkel kam. Steele sank in sich zusammen und hockte sich auf die Stufen der Treppe.

Es gab keine Änderung des Atemrhythmus. Der andere war entweder kalt wie Eis oder er hatte überhaupt nicht bemerkt, dass sich Steele vor dem Hintergrund der Tür und des beleuchteten Zimmers deutlich abhob.

Steele wartet ab. Er konnte den Gegner nicht sehen, er hatte keine Informationen außer der Abfolge leiser Atemzüge und dem Verhalten des anderen. So lauerte er und wusste, dass der andere ebenso lauerte. Einmal knarrte eine Stufe, Steele spannte sich und lauschte auf den Atem. Das Geräusch kam immer noch von der derselben Stelle. Der andere hatte sich nicht bewegt. Aber er hatte versucht, Steele zu provozieren. Nun wussten beide, was sie voneinander zu halten hatten.

Leise glitt Steele die Treppe hinunter. So sehr er sich bemühte, ein leises Rascheln ließ sich nicht vermeiden. Dann knarrte unter ihm eine Stufe und er rollte sich zur Seite.

Keinen Augenblick zu spät, denn dort, wo er eben gewesen war, fuhr eine Klinge mit dumpfem Pochen in die hölzerne Stufe. Steeles Hand schoss vor, erwischte ein Handgelenk und riss daran, indem er den ganzen Schwung seiner Bewegung und Körperdrehung mitnahm. Der andere kam ins Straucheln, versuchte noch, Steele im Fallen umzureißen. Es gelang und es gelang auch nicht, denn Steele setzte dem Unvermeidlichen keinen Widerstand entgegen, warf sich im Gegenteil nach vorne und landete auf dem Gegner. Wie auf einem Schlitten rutschte er auf dem Körper des anderen, die Treppen hinunter bis zum ersten Absatz. Steele bekam den Pfefferminzgeruch eines Kaugummis in die Nase. Er konnte den Kopf des Mannes packen und drückte ihn mit sanfter Gewalt so nach unten, sodass der Hinterkopf jede Stufe krachend begrüßte. Als sie auf dem Treppenabsatz zum Halt kamen, war der Mann bewusstlos.

Mit drei weiten Sprüngen war Steele wieder oben vor seinem Zimmer. Lucille kam ihn entgegen.

»Ich muss Tony helfen«, flüsterte sie, als müsste man Angst haben, die Männer zu wecken, die Steele in das Reich der dunklen Träume geschickt hatte.

 

Steele machte sich an die Aufräumarbeiten. Er hatte mit dieser Attacke nicht gerechnet, sie zeigte ihm aber, dass in Loreta mehr zu finden war als ein unterseeisches Kühlwasserrohr.

»Hier, nimm meine Hand«, forderte Lucille Tony auf.

»Die Hand und alles andere, aber bist du sicher, dass ich dich nicht vom Balkon reiße«, quetschte Tony heraus. Er hatte jegliches Gefühl für seine Arme und Schultern verloren und krallte sich nur noch mechanisch an die Geländerstäbe.

»Ganz so fett bist du dann doch nicht. Her mit der Hand!«

Nur mit äußerster Anstrengung gelang es Tony seine verkrampften Finger zu lösen und Lucille eine starre Krallenhand entgegen zu strecken. Die griff beherzt zu und zog, aber ihre Kraft langte nicht. Sie beugte sich gefährlich weit über den Balkon, ihre Haare fielen Tonys ins Gesicht, er hörte ihr Stöhnen, aber baumelte hilfloser als zuvor.

»Darf ich mal?«

Steele stellte sich neben Lucille, packte Tony am Kragen und zog ihn hoch wie einen jungen Hund. Auf dem Balkon klappte Tony zusammen und musste sich auf den Boden setzen.

»Wie ist das denn passiert?«, wollte Steele wissen.

»Ich hab diese Kerle beobachtet und bin dabei … über das Geländer … vorgebeugt, wollte mich festhalten …«

»Aha, so war das also«, antwortete Steele nur und ging.

Lucille hockte sich neben Tony und streichelte seinen Arm.

»Geht’s dir gut?«

»Mal abgesehen von der Erkenntnis, dass ich als Orang-Utan-Imitator nichts tauge, geht es mir blendend. Aber ich stinke ein wenig nach Schweiß.«

»Dann geh unter die Dusche«, befahl Lucille mit einem ergebenen Seufzen. »Ich werde unterdessen ein wenig Kotzi-Kotzi wegwischen, sonst komme ich als Stewardess aus der Übung.«

Ein ungebrauchter Raum, der den Putzfrauen als Abstellplatz für ihre Materialwagen diente, wurde zum vorübergehenden und unfreiwilligen Aufenthaltsort für fünf Männer, die ihren Auftraggeber mehr als nur enttäuscht hatten. Steele verzichtete darauf, irgendeine Information aus ihnen herauszuprügeln. Es wäre seiner Meinung nach der Mühe nicht wert gewesen. Vor einem Jahr noch hätte er sich wie ein Bluthund auf die Spur des Auftraggebers gesetzt, hätte den Hintermann des Hintermannes gesucht. Aber jetzt gab es ein anderes Spiel und die Regeln hatten sich verändert.

»Warum müssen wir unbedingt die Wischlappen mit dem Erbrochenen als Knebel für die Kerle nehmen?«, erkundigte sich Steele mit mäßigem Interesse.

»Müssen wir nicht«, gab Lucille zurück und wusch sich zum vierten Male die Hände. »Es ist ein Ausdruck meiner ganz persönlichen Bösartigkeit.«

»Oh, haben diese Kerle etwa irgendwie den Abend gestört?«

»Haben sie«, bestätigte Lucille knapp. »Und so was nehme ich persönlich.«

Damit verschwand sie und kurz darauf klappte ihre Zimmertür.

Steele verschloss den Abstellraum. Der Gang und der Treppenbereich waren jetzt wieder beleuchtet, nachdem er die elektrische Sicherung gefunden und hereingedrückt hatte.

So konnte Steele jetzt Nicoletta sehen, die die Treppe hochstieg und ihn anlächelte. Sie trug einen schwarzen Seidenanzug, und selbst Steele kam nicht um die Feststellung herum, dass sie blendend aussah. Tatsächlich wurde er für einen Moment von dem tiefen Ausschnitt des Jacketts abgelenkt, aus dem ihre weiße Haut wie Alabaster schimmerte.

Möglicherweise hätte Steele aber auch unter anderen Umständen nicht registriert, dass Nicoletta flache Schuhe trug. Hätte es in diesem Moment eine Schnittmenge zwischen Tony Tanner und Steele gegeben, dann wäre Nicolettas Plan nicht aufgegangen. Denn Tony wäre aufgefallen, dass die flachen Schuhe ein Stilbruch waren, dessen sich eine Frau wie Nicoletta nie und nimmer und wenn doch nur aus ganz bestimmten Gründen schuldig machen würde. Und Steele hätte seine Vermutungen über die Gründe angestellt und hätte damit richtig gelegen.

»Guten Abend. Oder sollte ich eher Gute Nacht sagen? Ich hatte hier oben ein Geräusch gehört und wollte nur mal nachschauen …«, erklärte Nicoletta.

»Oh, es war nichts. Wir sind nur ein wenig hin und her gelaufen.«

»Dann ist es ja gut. Dann kann ich ja beruhigt schlafen gehen.«

Obwohl es im Gegensatz zu dem stand, was sie eben gesagt hatte, stieg Nicoletta die letzten Stufen der Treppe hoch und stand neben Steele auf dem Gang.

Ihre blauen Augen legten sich auf sein Gesicht, als würde sie ihn abtasten.

»Sie haben sich bei dem Hin und Her verletzt«, sagte sie.

»Oh tatsächlich?« Etwas hilflos fuhr sich Steele über die Wangen. Es gab ein kratzendes Geräusch, weil er wieder mal schlecht rasiert war.

»Hier.«

Damit streckte Nicoletta ihren Finger aus und wischte über Steeles Schläfe. Scheinbar hatte ihn dort der Handschutz eines Dolches gestreift.

Als müsste sie zur Rechtfertigung einen Beweis vorlegen, hielt ihm Nicoletta ihre Fingerkuppe vor die Augen. Auf der weißen Haut der Frau schimmerte rotes Blut. Dann trat Nicoletta einen Schritt zurück, ihr Mund öffnete sich, als wollte sie etwas besonders sagen, ihre Zunge fuhr langsam wie eine vorsichtige Schlange heraus und genießerisch leckte sich Nicoletta das Blut von ihrem Finger. In ihre Augen trat ein Glitzern.

»Schmeckt’s?«

Sie lächelte Steele an, entblößte dabei Zähne, an denen noch etwas Blut zu sehen war.

»Nicht übel. Wenn es Sekt wäre, würde ich sagen extratrocken. Geht vielleicht ein wenig auf Kosten des Geschmacks. Aber wenn man sich daran gewöhnt hat, kommt man einfach nicht mehr davon los.«

»Haben wir heute vielleicht unseren abartigen Tag?«

Die Frau strahlte ihn mit ihren blauen Augen an. Sie erweckte in Steele den unangenehmen Eindruck als würde sie ihn persönlich sehr gut kennen, während er selbst vergessen hatte, was die Verbindung zwischen ihnen beiden gewesen war.

»Wieso abartig und wieso Tag?«

»So haben wir denn alle unsere kleinen Eigenheiten. Ich wünsche eine gute Nacht.«

Damit wollte sich Steele in sein Zimmer zurückziehen. Nicoletta verabschiedete sich mit einem freundlichen Nicken und wandte sich zur Treppe. Dann stellte sie sich auf die Spitze des linken Fußes, nutzte ihn als Drehpunkt, wirbelte herum und traf Steele mit einem blitzartigen Tritt ihres rechten Beins vor die Brust. Es geschah so schnell, dass Steele schon durch die Luft flog, bevor er erkannt hatte, dass sie ihn attackierte.

Er vermochte nur noch, den Kopf gegen die Brust zu drücken und die Schultern anzuspannen. So bewahrte er sich davor, den Hinterkopf an der Wand zu zerschmettern und sein oberes Knochengerüst in ein Puzzle zu verwandeln.

 

Der Aufprall war brutal. Steele hatte für einen Moment die Vision einer Betonfläche, die ihm wie ein Tennisschläger in den Rücken geschlagen wurde. Die Luft wurde ihm aus der Lunge gepresst. Er hörte ein Stöhnen, und während er zu Boden sank, wunderte er sich, dass er selbst dieses seltsame Geräusch machte. Dann wurde es schwarz vor seinen Augen.

Nicoletta ging neben ihm in die Knie und betrachtete Steele mit gespannter Aufmerksamkeit, als wäre er ein krankes Kind, auf dessen Atem sie lauschen musste. Ihr Finger strich über seine Wunde, nahm den letzten Rest von verwischtem Blut auf und führte ihn zum Mund. Dann strich sie über Steeles wirres Haar. Mit schräg gelegtem Kopf sah sie auf die eigene Hand, die den bewusstlosen Mann streichelte, als wäre sie selbst über die Freiheit erstaunt, die sich diese Hand nahm.

»Nein, er will nicht weiterspielen. Schade drum. »Damit sprang sie in die Höhe. »Aber ich werde sicherlich einen besseren Partner finden, einen hübschen Jungen, für den meine Spielchen sicherlich ungeheuer spannend sind.«

Nicoletta di Gregoris sagte es und wandte sich der Tür von Tony Tanners Zimmer zu.

Hatte nicht gerade eine Tür geklappt? Tony Tanner, frisch der Dusche entstiegen und damit beschäftigt, sich zurück in einen kultivierten Menschen zu verwandeln, horchte auf.

Er war sich nicht sicher richtig gehört zu haben, zögerte, legte dann den Ring Benevoglios, den er sich gerade über den Finger streifen wollte, zurück in die Ablage und drapierte ein Handtuch um seine Hüften. Dann ging er aus dem Bad, schaute sich in seinem leeren Zimmer um, kontrollierte den Verschluss der Balkontür, drehte sich wieder um, um ins Bad zurückzukehren.

»Ich komme hoffentlich nicht ungelegen?«, fragte Nicoletta di Gregoris. Ihre Stimme war so sanft und hatte zugleich einen lauernden Unterton, dass sich Tony sicher war – könnten Katzen sprechen wie im Märchen, dann würden sie eine ebensolche Stimme haben. Nicoletta stand mitten im Zimmer, als hätte sie sich plötzlich aus der Luft herausgeschält.

Vor Überraschung wusste Tony nicht, was er machen sollte. Er strich sich in seiner Verlegenheit über das frisch gefönte Haar und antwortete dann: »Zumindest unerwartet.«

»Unerwartet, ungebeten, unerwünscht – ja, ich komme wie die böse Fee im Märchen«, sagte Nicoletta. Eine winzige Veränderung war mit ihr vorgegangen. Tony hörte es zuerst an der Stimme, dann bemerkte er das gefährliche Glitzern in ihren Augen.

»Nachdem wir das in schöner Übereinstimmung festgestellt haben, darf ich die Dame jetzt vielleicht zur Tür geleiten?«, brachte Tony heraus. Er versuchte, mehr Energie in seinen Vorschlag zu legen, als er in Wahrheit aufbringen konnte. Es war der Versuch einer akustischen Maskerade, den er selbst als gescheitert ansah.

Als Antwort bekam er nur ein Lächeln, das irgendwo zwischen geübter Lieblichkeit, ähnlich dem Knicks einer Ballettschülerin und offener Bösartigkeit einzuordnen war, mit eindeutigem Hang zu Letzterem.

Wieder spürte Tony seine Hand an der Stirn, wo sie nervös und routinemäßig eine Strähne zurückstrich. Mit einem Mal bemerkte er, dass er den Ring nicht trug und, als ihm zugleich die Erinnerung an Nicolettas seltsames Verhalten am vergangenen Abend in den Sinn kam, war er sicher, dass ihr Verhalten etwas mit diesem Erbstück Benevoglios zu tun haben musste. Er verstand den Zusammenhang nicht, aber allein schon die Empfindung, dass es irgendwelche Verbindungen gab, verborgene Fäden, in die auch er selbst eingeknotet war, hatte eine lähmende Wirkung.

»Ich fürchte, die Dame will noch nicht gehen«, flüsterte Nicoletta. Sie glitt einen Schritt auf Tony zu, fuhr zugleich mit der rechten Hand unter ihr Jackett und hatte eine Pistole in der Hand. Mit einer Leichtigkeit, als könnte sie schweben, legte sie die letzten Schritte zurück und stand vor Tony. Er spürte das kalte Metall des Pistolenlaufes über seinem Bauchnabel. Nicolettas linke Hand berührte seinen Unterarm, fuhr den Bizeps entlang und streichelte seine Schulter. Als Tony zurückweichen wollte, spürte er sofort den Druck der Pistole und erstarrte wie ein Pferd, das man an die Kandare nimmt.

Mit zur Schulter geneigtem Kopf betrachtete Nicoletta, in der Haltung einer Kunstfreundin vor einer Museumsvitrine Tonys Schulter, streichelte seine Brust und ließ spielerisch seine Brustwarze zwischen zwei Finger gleiten.

»Du kannst mich Nicci nennen«, sagte sie.

»Aber gerne Nicci. Und nachdem wir das geklärt haben, kannst du auch die Pistole von meinem Bauch entfernen?«

Nicoletta schnalzte bedauernd mit der Zunge.

»Das geht leider nicht. Wie soll ich dich denn sonst erschießen?«

»Wie wär’s, wenn ich mich erst mal anziehe? Dann können wir darüber reden. Mit einer Krawatte um den Hals habe ich immer die besten Einfälle.«

»Du gefällst mir so, wie du bist. Wirklich, ich hatte nicht gedacht, dass du so gut in Form bist. Nur diese hässlichen blauen Flecken. Reitet dich diese Französin vielleicht ein wenig zu wild? Weißt du, ältere Frauen wie ich haben eher diese mütterliche Erotik, die wahre Kenner aber sehr zu schätzen wissen.«

Ihre linke Hand massierte in sehr irritierender Weise Tonys Brustwarze, bis er mit einem Gefühl tiefer Scham feststellen musste, dass sie sich verhärtet hatte. Nicolettas Augen schlossen sich zu zwei schmalen Schlitzen und aus ihrem Mund kam ein genießerisches Schnurren.

 

Als Tonys linker Arm hochfuhr, um ihr die Pistole aus der Hand zu schlagen, verwandelte sich das Schnurren in ein erschreckendes Fauchen. Sie reagierte, als hätte sie seine Absichten vor ihm selbst erkannt. Ihre Fingernägel hinterließen vier blutige Striemen quer über Tonys Brust, dann schlug sie seinen Arm zur Seite, dass er wie ein Marionettenglied hochflog und zurück an seine Seite klatschte. Tony wollte nun den rechten Arm einsetzen, aber die Pistole presste sich in seinen Bauch, dass er sich stöhnend krümmte.

»Das war ziemlich jämmerlich, mein Schatz«, höhnte Nicoletta.

»Ich bin nicht als Boxer engagiert worden.«

»Aber als Schnüffler.«

»Ich bin Journalist.«

»Blödsinn«, fauchte Nicoletta. »Hältst du mich für blöde oder glaubt ihr arroganten Dummköpfe eigentlich, ihr hättet es nicht mal nötig, euch eine einigermaßen plausible Tarnung zu verschaffen?«

»Nun mal langsam, Nicci. Was ist denn mit dir und deiner Tarnung? Dass du diejenige warst, die Demonti die Sache mit den Mädels eingebrockt hat, war mir sofort klar. Und dass du ihn immer schön im Auge behalten sollst, auch.«

»Hoppla, hat die kleine Nicci da vielleicht nicht aufgepasst? Oder ist alles anders? Ist Demonti vielleicht ein Lockvogel für solche Schnüffler wie dich? Oder gehört er zum Spiel? Du wirst es nie erfahren. Vorher allerdings …«

Der Druck der Pistole verstärkte sich. Tony wich zurück, Nicoletta folgte ihm, bis er das Bett in den Kniekehlen spürte und auf den Rücken fiel. Der Pistolenlauf glitt von seinem Bauch über die Brust an seine Schläfe, während sich Nicoletta langsam über ihn schob.

»Entspann dich«, befahl sie, »oder willst du mir allen Spaß an der Arbeit nehmen?«

Sie drängte ihr Knie zwischen Tonys Beine, hebelte sie mit einem schmerzhaften Druck auf seine Innenschenkel auf.

Dann griff ihre freie Hand nach Tonys Hüfttuch. Ihre Augen verklärten sich, wurden dann plötzlich glasig und ihr Kopf fiel schwer auf seine Brust.

Tony war eine Sekunde wie erstarrt, dann warf er mit zuckenden Bewegungen, als stünde er unter Strom, Nicolettas Körper zur Seite.

Vor seinem Bett stand Lucille und klatschte versonnen einen schweren Kleiderbügel in ihre Handfläche.

»Ich hatte diese schweren Holzdinger bisher immer für ziemlich unpraktisch gehalten. Aber wenn man damit jemandem in den Nacken hauen will, haben sie eindeutige Vorteile.«

Tony fuhr auf und war erst einmal damit beschäftigt, das Handtuch wieder richtig festzuknoten.

»Wo kommst du denn jetzt her?«

Lucille deutete mit dem Kleiderbügel lässig über die Schulter auf den Kleiderschrank. Dessen Türen standen offen.

»Es sollte eine kleine Überraschung werden.«

»Die ist dir gelungen«, konnte Tony bestätigen.

Lucille strich an ihm vorbei, ihre Haare kitzelten Tonys Haut. Dann lehnte sie sich an seine Schulter.

»Sag mal, Tony. Dieses unmögliche karierte Tweedjackett, das willst du doch wohl nicht ernsthaft anziehen?«

Tony wurde steif wie ein Besenstiel.

»Das«, antwortete er und bekam vor Empörung eine Baritonstimme, »das ist mein Lieblingsjackett. Das habe ich seit über zwanzig Jahren …«

»Ja, sieht man dem Teil auch an.«

»… und es ist echter irischer Stoff, handgewebt, vom Weber signiert …«

»Wie niedlich aber auch.«

»… und die Lederflicken am Ellbogen sind echtes schwedisches Elchleder …«

»Vom Elch signiert?«

»… durch die dieses Jackett zu einem Erbstück werden wird.«

Nachdem sie Tony den Arm um den Hals geschlungen hatte, hörte er ihre flüsternde Stimme an seinem Ohr.

»Du wirst Schwierigkeiten haben, überhaupt einen Erben zu bekommen, wenn du solche schauderhaften Teile anziehst.«

»Das ist nicht schauderhaft. Das ist ein gutes Kleidungsstück, das ich liebe und ehre und das sich im Übrigen meinen Körperformen perfekt angepasst hat.«

»Aber du hast es doch noch niemals angehabt«, bettele Lucille jetzt. »Komm, wirf es weg.«

»Dass ich es nicht anziehe, bedeutet nicht, dass ich es wegwerfen werde. Ich brauche es einfach.«

»Um deine tausend gigantischen Koffer zu füllen oder wie?«

»Jetzt werde bitte nicht persönlich!«

»Ich? Persönlich? Wer von uns beiden hortet denn, bitte schön, scheußliche Tweedsakkos in seinem Kleiderschrank?«

Das war jetzt schon so eine Art Ehestreit, wurde Tony Tanner klar. Die nächste Runde, in der er seine geliebte Tweedhülle verteidigen musste, fiel aus. Denn es öffnete sich die Tür und herein taumelte Steele, dessen Augen noch von einem glasigen Schleier überzogen waren.

Als er die reglose Nicoletta auf dem Bett sah, lehnte er sich an die Wand.

»Diese Frau war umwerfend«, sagte er.

»Nun ja, da kenne ich eindrucksvollere Exemplare.«

 

Steele schaute mit sichtlicher Mühe von Tony zu Lucille, die eben mit leichter Hand den Kleiderbügel zurückhängte und zurück zu Tony.

An der Tür wurde ein Klopfen hörbar. Es war ein Hotelangestellter, ein älterer, kleiner Mann, der mit seiner hilfsbereiten Unauffälligkeit immer ein wenig wie ein Lichtschalter wirkte, den man zwar nötig braucht, nutzt und schätzt, aber nie wirklich beachtet.

»Ich denke, es ist an der Zeit, dass die Herrschaften abreisen«, erklärte der Mann freundlich. »Wir werden uns darum kümmern, Frau di Gregoris wieder auf ihr Zimmer zu bringen. Auch was die anderen Herrschaften angeht, werden wir uns um deren Abreise kümmern. Ich meine, die Herrschaften in der Abstellkammer. Legen Sie sich bitte diesen Eisbeutel in den Nacken.«

Damit reichte er dem verdutzten Steele den Behälter mit den Eisstücken.

Zwei Pagen traten ein, grüßten höflich und trugen dann, mit dem Anschein des äußersten Respektes, Nicoletta hinaus.

»Gestatten Sie, dass wir Ihnen beim Packen behilflich sind?«

Als Tony aus dem Badezimmer kam, standen seine Koffer zur Abfahrt bereit. Man wartete nur auf sein zustimmendes Nicken, um sie zu verschließen und zum Wagen zu bringen. Dann wurde er durch das spärlich erleuchtete Foyer zum Wagen geführt, neben dem die anderen schon wartend standen.

»Ich wünsche Ihnen eine gute Reise und seien Sie vorsichtig. Diese Welt ist voller Gefahren, de man nicht auf den ersten Blick zu erkennen vermag«, sagte der kleine unauffällige Hotelangestellte zum Abschied.

»Offensichtlich auch voller Helfer, die man nicht erwartet«, antwortete Tony und stellte dann die Frage, die ihm seit einiger Zeit auf der Zunge lag: »Warum tun Sie das alles für uns?«

Der Mann aus dem Hotel sagte kein Wort, lächelte und zeigte Tony nur die linke Faust, von der er den kleinen Finger abspreizte. Tony schaute verständnislos auf diese Geste, die ihm überhaupt nichts sagte. Dann erst erkannte er, dass der andere einen Ring am kleinen Finger trug. Trotz der dämmrigen Beleuchtung war Tony sicher, um welche Art von Ring es sich handelte. Es war der gleiche, den auch Tony, als Erbe Benevoglios sozusagen, an der Hand trug.

 

Steele war immer noch angeschlagen und verkroch sich auf den Rücksitz des Wagens. Tony hatte noch weniger Lust als sonst, sich hinter das Steuer zu klemmen. So hatte Lucille die Chance, ihr zierliches Füßchen auf das Gaspedal zu setzen, und sie nahm die Gelegenheit gern wahr.

Als sie an dem Reaktorgelände vorbeibrauste, erklang von hinten Steeles murmelnde Stimme: »Man muss sich die Fabrik noch mal anschauen.«

»Dann muss Tony seine Beziehungen spielen lassen«, antwortete Lucille. Sie erwartete irgendeine Form von Protest oder zumindest die unvermeidliche sarkastische Bemerkung, aber neben ihr blieb es still. Mit einer Zärtlichkeit, die ihre Augen feucht schimmern ließ, schaute Lucille auf Tony Tanner, dessen Kopf auf die Brust gefallen war und dessen Atem den gleichmäßigen Rhythmus des Schlafes hatte.

Als Stewardess an hohe Reisegeschwindigkeiten gewöhnt, schaltete Lucille Chaudieu das Fernlicht ein und ließ auf ihrer rasenden Fahrt über nächtliche Landstraßen das elektronische regulierte Fahrwerk seine Fähigkeiten voll ausleben.

 

***

 

Steeles Plan, die Fabrik in Loreta zu besichtigen, entpuppte sich als wirkliche Herausforderung. Die Arbeit blieb an Tony Tanner hängen, das heißt, er musste sich an das Telefon klemmen und alle möglichen Leute anrufen, die ihm eine Besuchserlaubnis besorgen könnten. Obwohl eine solche Erlaubnis seltener zu sein schien als eine blaue Mauritius, sah Steele darin schon den ersten Erfolg.

»Warum sollte die sich gegenüber harmlosen Besuchern derart zurückhaltend zeigen«, äußerte Steele gegenüber Tony Tanner. Tony stand am Fenster der kleinen Pension, in der sie sich eingemietet hatten, und hielt sich seine Teetasse unter die Nase. Er war nicht ganz bei der Sache. Durch die verschossenen Gardinen schaute er auf die Straße, wo ein Taxi wartete. Zu seiner Überraschung hatte Lucille sich für einige Tage abgemeldet, um zu Hause einige Freunde zu besuchen. Sie hatte tatsächlich einige Freunde gesagt und sofort hatte Tony einen Kloß im Hals verspürt. Trotz aller Anstrengungen konnte er das Bild der Freunde, so wie es sich ihm aufdrängte, nicht aus dem Kopf bekommen. Es waren natürlich nur männliche Gestalten, die sich auf Lucilles Besuch freuen konnten, und alle sahen aus wie der junge Belmondo und waren Draufgänger wie der alte Belmondo. Sie verteilten Charme wie ein Sprühflugzeug sein Insektizid und Lucille fiel ihnen entsprechend wie eine angeschlagene Heuschrecke in die Arme, auf dass diese Froschfresser ihre Lüste an ihr stillen konnten …

Der Taxifahrer trug ihre Tasche zum Wagen und legte sie in den Kofferraum. Es war der Keepall von Vuitton, ein Zeichen, dass sich Lucille Chaudieu von der Jeansträgerin aus Loreta zur weltläufigen Dame gewandelt hatte. Tony war diese Wandlung suspekt, er versuchte einzuschätzen, wieweit bei einer Frau wie Lucille das klassische Kostüm auf eine grundlegende Änderung der Seelenlage im Vergleich zur 501-Jeans schließen ließ.

 

Da tauchte auch Lucille auf, im klassischen Chanel-Stil, in dem sie wirkte, als ob ihre Körpertemperatur bei maximal 20 Grad liegen könnte. Sie bestieg mit damenhafter Eleganz den engen Rücksitz des Wagens und wartete, dass der Fahrer die Tür schloss. Tony hechelte nach einem Blick, den sie zurückwerfen würde, nach irgendeinem Zeichen, dass sie nicht einfach abreiste, als ob sie hier niemanden zurücklassen musste. Aber sie schaute nur nach vorne und schien das Haus überhaupt nicht zu bemerken.

Tony hielt es nicht mehr aus. Er nahm das Funktelefon, das auf dem Tisch lag, und wählte Lucilles Nummer. Der Tritt, den Steele von Nicoletta hatte einstecken müssen, hatte ihn nachsichtiger gemacht, was diese neumodische Erfindung anging. Vielleicht hielt er es jetzt einfach für vergeblich, sich gegen die Fallen und Finten unsichtbarer Gegner zur Wehr zu setzen. Als der Wagen abfuhr, konnte er noch sehen, wie sie zu ihrer Handtasche griff.

»Ja bitte?«

»Ich wollte dir nur eine gute Reise wünschen. Pass auf dich auf«, sagte Tony.

»Danke, Tony. Das mit der Reise war nicht meine Idee. Ich wäre lieber geblieben, aber der Conte hatte mir dazu geraten …«

Vor Überraschung blieb Tony eine Weile stumm.

»Der Conte hat dich nach Frankreich geschickt?«

»Nicht direkt er. Es war Dorkas, der mir das vom Conte mitteilte. Ich glaube, es ging darum, dass ich mich erholen soll und dass du dich besser auf die Sache mit der Fabrik konzentrieren kannst.«

»So«, knirschte Tony. Er merkte deutlich, dass seine Schläfenadern schwollen.

»Wie nett, dass man so besorgt um unser Wohl ist.«

»Ach Tony«, Lucille schaffte es, derart zu seufzen, dass es Tony trotz der miserablen Verbindungsqualität durch Mark und Bein ging. »Ich wäre ja lieber hier geblieben, bei dir. Aber na ja, vielleicht hätte ich Dorkas was Nettes sagen sollen, so was wie stecken Sie sich Ihre Conte-Anweisungen irgendwohin, aber ich war sicher, das hättest du nicht gut gefunden.«

Doch, hätte ich, dachte Tony. Vielleicht war ja eine kleine Rebellion angebracht, ein Aufstand der Entrechteten gegen den dekadenten Adel und seine feisten Handlanger.

»Dorkas wird schon wissen, was er sagt, der Conte natürlich auch«, gab Tony stattdessen lendenlahm zur Antwort. »Ich werde mich ins Zeug legen, in zwei Tagen habe ich diese Scheißfabrik angeschaut und dann treffen wir uns wieder.«

»Das wäre wunderschön, Tony.«

 

Falls der Conte di Saloviva die Absicht gehabt haben sollte, Tony Tanner eine psychische Dopingspritze zu verpassen, so hatte er seine Ziel erreicht. Tony warf sich ins Zeug und telefonierte, als wäre er ein Aktienhändler am Tage eines Börsencrash. Auch Steele versuchte, sich durch seine Bekanntschaften, den begehrten Zutritt zu verschaffen. Beide scheiterten. Immer wieder hieß es, dass sich die Ansprechpartner in der Fabrik sehr freundlich gezeigt hätten, aber aus einer Reihe von Gründen jede Möglichkeit einer kleinen Besichtigungstour verweigerten. Alleine die Tatsache, dass unterschiedliche Ausreden genutzt wurden, bot ein gewisses Erfolgserlebnis, denn es wurde immer deutlicher, dass in der Fabrik von Loreta Dinge abliefen, für die keine Zeugen gewünscht wurden.

»Dann gehen wir eben den direkten Weg«, sagte Steele einige Tage später und rührte in seinem Minestrone. Er und Tony saßen in einem kleinen Imbiss, dessen einziger kulinarischer Verdienst darin lag, abseits zu liegen und von ihnen bisher noch nicht besucht worden zu sein.

»Einbruch?«, fragte Tony Pizza kauend.

»Was sonst? Die haben was zu verbergen. Es wird dort irgendetwas hergestellt, das nicht gesehen werden soll. Frage: Was kann das sein? Irgendeine Chemikalie kommt nicht infrage, dafür ist die Fabrik nicht eingerichtet, soviel wissen wir wenigstens. Bleiben also nur zwei Dinge, um die so ein Geheimnis gemacht werden kann. Waffen oder elektronische Geräte. Beides hat heute eine Schnittmenge. Die Amis haben nicht die besseren Soldaten, aber die bessere Elektronik. Oder um genau zu sein, die Amis haben Elektronik, während ihre Gegner in Erdlöchern sitzen.«

»Erdlöcher sind gar nicht so schlecht«, unterbrach Tony Steeles militärtheoretischen Vortrag. »Aber«, fuhr er fort, »wenn in dieser Fabrik wirklich Waffen oder waffenfähige Elektronik, oder wie immer ich das auch nennen soll, gebaut wird, dann hat diese Fabrik auch eine entsprechende Sicherung. Ich darf nur mal kurz an unser kleines Erlebnis am Zaun des Reaktorgeländes erinnern. Also, wie wollen wir in diese Fabrik kommen, wie wollen wir genügend Zeit finden, uns entsprechend umzuschauen und wie wollen wir lebend wieder rauskommen, um der Nachwelt von unseren Entdeckungen zu berichten?«

Statt einer Antwort blies Steele nur hörbar die Luft aus der Nase und schob den Teller angewidert zur Seite.

»Ich weiß das alles. Aber ich bin sicher, dass diese Fabrik die Anstrengungen rechtfertigt. Ich habe zwar noch keinen blassen Schimmer, wie ich in das Ding reinkomme, aber ich werde es schaffen, irgendwie.«

»Nun, einen Trumpf habe ich noch im Spiel«, sagte Tony.

»Und welcher wäre das?«

»Andy MacToyn. Er hat sich in der Politik hochgearbeitet.«

»Wie hoch?«

Tony musste überlegen. »Ich glaube Unterstaatssekretärsebene – also da, wo in den Ministerien wirklich gearbeitet wird. Und wo Leute sitzen, die wissen, wovon sie sprechen.«

»Ist er verlässlich?«

»Ich denke schon. Er war früher ein guter Kumpel von mir – na ja, wir sind miteinander um die Häuser gezogen und so. In den letzten Jahren haben wir uns ziemlich aus den Augen verloren.«

»Klingt nicht überzeugend.«

»Doch, doch, ich bin sicher, dass Andy mir helfen wird, wenn er kann.«

»Und warum hat er sich noch nicht gemeldet?«, wollte der misstrauische Steele nun wissen.

»Weil er gar nicht im Büro war. Ich habe meine Bitte an seine Sekretärin weitergegeben. Die hat mir versichert, dass er sich melden würde, sobald er zurück ist und etwas in Erfahrung gebracht hat.«

 

***

 

Es dauerte noch zwei quälend lange Tage, bis Tony die erhoffte Stimme in der Hörmuschel hatte.

»Tanner hier.«

»Hey Tony, hier ist Andy MacToyn. Wie geht’s dir denn so?«

Andy klang immer noch so wie Andy seit ungefähr dem fünfzehnten Lebensjahr geklungen haben musste. Er vernuschelte nach bekannter Oxfordianer-Macke die Mittelsilben jedes Wortes und schien für den Zuhörer akustisch mit dem Schlips in den notorisch bekannten Universitätsfarben zu winken. Was als elitäre Arroganz missverstanden werden konnte, war für Andy MacToyn eher die ständige Selbstvergewisserung, dass er in einer verwirrenden Welt auf einer der letzten Inseln mit festem Untergrund erzogen worden war.

Als würde sich seine Furcht vor der wirren Welt auch auf sein Äußeres auswirken, schien sich MacToyn jeder Veränderung zu verweigern. Tony konnte, als hätten er ihn erst am Vortag gesehen, sich genau vorstellen, wie sein Gegenüber jetzt am Schreibtisch saß und in den Hörer sprach. Ein langer schlaksiger Mann mit schmalem Pferdegesicht und strohblonder Künstlermähne. Mochten sich auch hier und da Falten in das Gesicht schleichen oder das Haar dünner werden, so waren das naturnotwendige Tribute an die menschliche Alterung, die von MacToyn dadurch widerlegt wurde, dass er mit exakt derselben Bewegung das Haar aus der Stirn strich, die er sich mit fünfzehn angewöhnt hatte. Selbst das Laster des Pfeiferauchens stammte aus dieser Frühzeit und jeder Versuch, sich davon zu lösen, wäre Andy MacToyn als ein partieller Selbstmord erschienen.

Sie unterhielten sich eine Weile über private Dinge. Tony Tanner war in dieser Hinsicht eindeutig im Vorteil. Er saugte routinemäßig jede noch so kleinste Meldung über einen Bekannten auf und speicherte sie in seinem Gedächtnis oder notierte sie in seinem Notizbuch und einem kleinen Zettelkasten. So war er immer in der Lage zu jedem Geburtstag, jedem Jubiläum oder persönlichem Erfolg mit einem kurzen Anruf oder einem kleinen Brief zu gratulieren und sich in Erinnerung zu halten. Auf diese Weise hatte er auch durch Dritte erfahren, dass Andy vor einigen Monaten zum zweiten Mal geschieden worden war.

»Ja«, trompetete Andy durch die Leitung. »nicht jeder hat so viel Glück mit den Frauen, wie du mit deiner Francine.«

»Francine ist vor einigen Monaten ausgezogen.«

»Oh«, kam es aus London.

Tony schnippte mit dem Finger. Jetzt hatte er den guten Andy. So ein Fauxpas verpflichtete, aus seinem Fettnäpfchen konnte er sich nur rausarbeiten, indem er Tony echte Hilfe angedeihen ließ.

»Ja«, setzte Tony eins drauf und musste dabei nicht mal lügen, »es war für mich ein Schock. Ich war ziemlich am Boden zerstört. So was bleibt nicht in der Jacke stecken. Die Weiber können einen ziemlich fertig machen.«

»Ja, wem sagst du das, Tony.«

»Ja, ja.«

»Jaaa, ja.«

»Na ja, ich versuche mich mit Arbeit abzulenken. Klappt aber im Moment nicht ganz.«

Vom anderen Ende der Leitung kam erst einmal keine Antwort. Ein Streichholz wurde angerissen, dann erklang Saugen und Schnappen, dass Tony schon eine plötzliche Herzattacke befürchtete, endlich wurde hörbar Rauch in die Luft geblasen.

»Ich musste mir erst mal eine Pfeife anstecken«, erklärte MacToyn. »Ich bin noch in der Trauerphase, sagt mein Psychologe. Nein, ich bin noch lange nicht über die Sache weg. Na ja, meine neue Sekretärin ist ganz nett und irgendwie habe ich das Gefühl, dass sie nicht gänzlich abgeneigt wäre … Hähmm … Du verstehst.«

»Sie hat am Telefon eine ganz tolle Stimme. Wenn sie nur halb so toll ist, wie sie klingt …«

»Besser. Nun ja, aber Schwamm drüber …«

»Hey, Andy, alter Schwede, da heißt es aktiv werden.«

»Ich weiß, irgendwie habe ich … ich meine, ich muss sie irgendwie beeindrucken, aber das ist so einfach auch wieder nicht.«

MacToyn druckste am Telefon herum und suchte merklich nach einem anderen Thema.

»… also, diese Sache mit deinem Besuch … wirklich kurios, alter Junge.«

»Warum das?«

»Weil sich diese Italiener quer stellen, als würden sie dort an einer Atombombe bauen. Ich habe über Handelskammer, Botschafter, Wirtschaftsministerium, Vereine angefragt. Nichts. Die stellen sich stur. Von wegen Störung des Betriebsablaufes, Terminproblemen, Sicherheitsmängel … Du, die sind kreativ in dieser Hinsicht.«

»Also kann man die Sache knicken?«

Tony sah sich schon als Ninja verkleidet unter Laserstrahlen in die vermaledeite Fabrik krauchen. Das Bild gefiel ihm nicht.

»Nun ja, also ich könnte, rein theoretisch die Sache eine Ebene höher hängen.«

»Klartext, Andy. Willst du die Queen anstacheln?«

»Mein Minister würde reichen. Allerdings …« Andy MacToyn zog das allerdings derart in die Länge, dass Tony vorgewarnt war: Jetzt kam der Hammer. »Mein Minister macht so was nicht aus purem Spaß an der Sache. Verstehst du? Ich kann schlecht zu ihm gehen und sagen, mein Kumpel Tony Tanner will ‘ne Fabrik angucken, nu’ mach mal.«

»Wie gut kennst du denn deinen Minister?«

»Wir sind im selben Club. Wie übrigens auch der Vorgänger und sämtliche potenzielle Nachfolger.«

»Na gut, dein Minister braucht jemandem, der ihm einen Gefallen tut, sehe ich das prinzipiell richtig?«

In Tonys Kopf begannen sich die Gedanken zu überschlagen. MacToyn tat ein wenig geheimnisvoll, also musste es um eine persönliche Sache gehen. Dass ein Minister ihrer britischen Majestät um den Gefallen eines Geldkoffers buhlen würde, schloss Tony völlig aus. So etwas kam in seinem Weltbild nicht einmal im Ansatz vor. Aber was war es sonst? Er versuchte, sich an die englischen Zeitungen zu erinnern, die er in den letzten Tagen mangels anderer Beschäftigung konsumiert hatte. Dann lief ein Grinsen über sein Gesicht, das seinen Sarkasmus gar nicht erst zu verbergen suchte.

»Lass mich mal raten, Andy«, machte Tony einen direkten Versuch. »Dein Minister hat Ärger mit seiner Alten. Stimmt’s? Sie macht ihn gesellschaftlich unmöglich, will sich aber nicht ohne Schlammschlacht scheiden lassen, also ist er der Dumme, weil er sich so was in der Öffentlichkeit nicht leisten kann. Sie setzt ihm Hörner auf und er muss es geschehen lassen. So stellt sich das doch wohl dar?«

»Exakt, mein Lieber.«

»Und das könnte der Bereich sein, wo dein Minister für eine gewisse Hilfestellung dankbar wäre?«

Aus London kam ein vorsichtiges Zischeln. Man konnte förmlich spüren, wie Andy MacToyn zur Tür peilte, weil er Lauscher befürchtete. Was Tony nicht sah, war die Tatsache, dass MacToyn unter den Schreibtisch gekrochen war.

»Pass auf, Tony. Die Sache ist die. Es geht um Karriere und viel Geld. Reden wir mal Klartext, die Alte, von der wir reden, ist eine blöde, unverschämte, endgeile Schnepfe. Wenn man den Männern vorwirft, sie würden nur mit ihrem … äähh … Dingsda denken, dann ist klar, dass diese Tussi mit ihrer … ufff … ihrer Mu…, ihrer Pu … Mings … äh … Dingsda denkt, du verstehst?«

»Ich denke«, sagte Tony optimistisch.

»Wenn der Minister nur daran denken würde, seine Frau überwachen zu lassen, von wegen Privatdetektiv und so, dann ist er weg vom Fenster. Es gibt einige Medien, die ihn abschießen wollen. Also ist er hilflos.«

»Mmmhh, ich verstehe. Was er braucht, ist ein Skandal, der seine Frau unmöglich macht, damit jeder sagt: Der arme Mann, was hatte der für eine Geduld, dass er der Tussi nicht schon vor Jahren den Tritt gegeben hat.«

»Du hast es. Allerdings darf es nicht so aussehen, als ob der … ähhm … MI 5 seine Finger im Spiel hätte. Damit sind wir wieder bei privaten Ermittlern.«

In Tonys Gedankenwelt begann sich eine gewisse Beruhigung einzustellen. Aus dem Dunkeln trat ein Name hervor und begann langsam zu glimmen wie eine entfernte Neonreklame.

»Pass auf, nehmen wir mal an, ich kann auf irgendeine Weise deinem Minister helfen, wer sagt mir, dass er sich nicht taub stellt, wenn es um die Gegenleistung geht?«

»Bitte, Tony, wir sind doch unter Gentlemen«, kam es empört von MacToyn. Und dann wieder in verschwörerischem Ton: »Du glaubst, du könntest was drehen?«

»Ich bin sicher. Aber ich muss Gewissheit haben, dass ich dann in die Fabrik komme.«

»Ist die Sache abgemacht?«

»Sie ist abgemacht. Ich liefere den Skandal, du hast mit deinem Minister ein intimes Gespräch im Club.«

»Huh«, MacToyn pustete Luft und Rauch aus und verschluckte sich. Eine Weile kam nur lautes Husten aus dem Hörer. Im Hintergrund konnte Tony die Stimme der Sekretärin vernehmen, die sich nach dem Befinden ihres Chefs erkundigte. Wenn MacToyn kein überschüchterner Blödmann gewesen wäre, hätte er jetzt Mund-zu-Mund-Beatmung verlangt.

»Du bist echt scharf darauf, diese Fabrik zu sehen?«, kam endlich wieder MacTonys Stimme.

»Klar doch, ich will die italienische Atombombe persönlich kennenlernen. Und ich will dir helfen, deine Sekretärin zu beeindrucken. Du solltest zumindest für dich was bei der Sache mit rausschlagen.«

»Meinst du? Ich meine, wenn du es sagst, ich habe dich immer für einen Frauentyp gehalten.«

»Warum hast du mir das nicht vor zehn Jahren verkündet. Es hätte mein Leben verändert. Also, wir sprechen uns morgen in London.«

Eine Minute nach diesem erinnerungswürdigen Gespräch erklärte Tony Tanner dem erstaunten Steele, dass er nach London fliegen würde. In einigen Tagen wollten sie sich, einschließlich Lucille, in Mailand, in einem Cafe am Domplatz treffen.

Fortsetzung folgt …