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Elasars Spiegel

Elasars Spiegel

I

 

In der kleinen Stadt Nissona nahe den großen Seen lebten einst der Jüngling Borko und die junge Frau Mirka. Sie waren seit längerer Zeit ein Liebespaar und wollten bald heiraten. Eines Tages jedoch kam Mirka zu ihrem Liebsten und sagte, sie habe eine junge Frau namens Elasar kennengelernt. Diese sei reich und besitze eine eigene Burg in Phargien, einer Landschaft jenseits der Berge im Süden. Elasar habe den Wunsch geäußert, dass Mirka für ein Jahr zu ihrer Gesellschaft mit ihr zu ihrer Burg zöge. Sie wolle Mirka auch gut dafür bezahlen.

Borko war von dieser Idee gar nicht angetan, denn sie hatten in wenigen Monaten heiraten wollen. So bat er Mirka, sich diesen Gedanken aus dem Kopf zu schlagen und bei ihm in Nissona zu bleiben. Mirka aber erinnerte ihn an ihren gemeinsamen Traum, einmal ein eigenes kleines Häuschen zu bauen. Elasars Geld konnten sie dafür gut gebrauchen. Schließlich sagte Borko seiner Liebsten schweren Herzens zu, er wolle sich nicht mehr gegen ihr Vorhaben aussprechen und sie am nächsten Tag mit Elasar nach Phargien ziehen lassen.

 

II

 

Am nächsten Morgen stieg Mirka zu Elasar in die Kutsche, und sie fuhren los. Nach zwei-tägiger Reise kamen sie endlich an einer düsteren Burg in Phargien an, die von außen auf Mirka bedrohlich wirkte. Sie betraten die Burg, und innen wohnten außer der Hausherrin und einem alten Butler mit einem schiefen Rücken nur noch einige hässliche Gnome, die ihre Herrin untertänig begrüßten. Mirka, die schon darüber nachdachte, ob sie nicht doch wieder nach Nissona zurückkehren sollte, wurde von ihrer Gastgeberin sehr freundlich zu einem Willkommenstrunk im Esszimmer eingeladen. Danach nahm Elasar ihren Gast mit in ihr Schlafzimmer, wo Mirka einige wunderschöne Kleider, die dort auf dem Bett lagen, anprobieren sollte, weil sie laut Elasar für ihren Dienst nicht angemessen gekleidet war.

Als sie eines der Kleider angezogen hatte, waren ihre Bedenken gegen den neuen Dienst wie verflogen. Elasar sagte, das Kleid stehe ihr sehr gut. Sie solle sich doch einmal in dem großen Spiegel betrachten, der in der Mitte des Zimmers stand.

Als aber Mirka vor den Spiegel trat, um sich darin anzuschauen, strahlte dieser plötzlich ein gleißendes Licht aus, und Mirka war wie benommen. Sie trat augenblicklich vom Spiegel zurück, doch es war schon zu spät. Der Spiegel hatte ihr Gesicht gefangen genommen. Es war nur noch im Spiegel zu sehen, Mirka aber hatte kein Gesicht mehr!

Kaum war dies mit Mirka geschehen, da rief Elasar böse lachend ihren Butler herbei und wies ihn an, die gesichtslose Mirka zu den anderen gesichtslosen Frauen in den Keller zu sperren. Der Butler nahm Mirka an der Hand und führte sie fort. Bald danach kehrte er zurück und meldete Elasar, er habe getan, was sie verlangt habe.

»So!«, sagte Elasar grinsend. »Nun hat mein Spiegelchen mir ein neues Gesicht gefangen! Wie du weißt, Gonsor, tue ich dies nur für unseren Herrn Luzifer. Ich nehme das Gesicht der Frauen an, die es an meinen Spiegel verlieren, heirate deren Männer und verschaffe ihm so ihre Seelen. Dafür muss ich allerdings dort leben, wo die jeweilige Spenderin des Gesichts herkommt und an ihre Stelle treten. Aber ich habe keine Angst, erkannt zu werden, denn ich übernehme nicht nur ihr Gesicht, sondern auch ihr ganzes Gedächtnis. Hat mich aber so ein Mann erst einmal geheiratet, so ist seine Seele für immer verloren. Also dann!«

Mit diesen Worten trat Elasar vor den Spiegel, der noch immer Mirkas Gesicht zeigte. Da aber tat es einen Donnerschlag, und sie hatte plötzlich Mirkas Gesicht angenommen. Als sie vom Spiegel zurücktrat, war das Gesicht aus seiner Mitte wieder verschwunden.

Eilig ließ Elasar ihre Sachen in die Kutsche packen und trug Gonsor und den Gnomen auf, die Burg und die Gefangenen gut zu bewachen. Dann machte sie sich auf den Weg nach Nissona.

 

III

 

Als Elasar in Nissona angekommen war, fiel keinem von Mirkas Bekannten und Verwandten auf, dass es sich bei ihr um eine Fremde handelte, denn sie sah aus wie Mirka, tat alles so, wie diese es getan hatte, und wusste alles so wie sie. Einzig Borko war ein wenig argwöhnisch, weil sie nicht ein Jahr in Phargien geblieben war, wie sie angekündigt hatte. Aber sie zeigte ihm viel Geld, das ihr ihre Herrin angeblich trotzdem gegeben hatte und sagte, diese habe zu ihrer kranken Mutter fahren müssen, um sie zu pflegen. Deshalb habe sie sie früher entlassen. Da war Borko zunächst beruhigt. Dann aber gab sie ihm einen Willkommenskuss, und dabei merkte er, dass sie nicht küsste, wie Mirka es getan hatte! Er ließ sich nichts anmerken, überlegte aber, warum die Fremde so aussah, wie Mirka. War sie es am Ende doch?

Da erinnerte er sich an seinen Freund Pelos, der in der Nachbarstadt Xinia lebte. Dieser hatte einmal gesagt, er habe von seinem Großvater eine Zaubertinte geerbt, die immer dann, wenn einer seiner Freunde in große Not geraten sei, den richtigen Ausweg weise.

In seiner Not schrieb er Pelos einen Brief, in welchem er seine Zweifel kundtat, ob es sich bei der Frau mit Mirkas Gesicht und ihrem Wissen tatsächlich um seine Verlobte handelte, und bat dann den Freund, für seine Antwort die ererbte Zaubertinte zu benutzen. Diesen Brief sandte er postwendend nach Xinia.

Pelos erhielt den Brief gleich am nächsten Tag. Als er ihn gelesen hatte, entsprach er dem Wunsch des Freundes und verfasste mit der Zaubertinte ein Antwortschreiben. Er schrieb, er wisse leider nicht, was es mit der Zaubertinte auf sich habe, da noch nie zuvor einer seiner Freunde in großer Not gewesen sei. Er selbst wisse auch keinen Rat, wie Borko zu helfen sei. Er werde aber am übernächsten Tag nach Nissona kommen, um ihm zur Seite zu stehen. Diesen Brief schickte er Borko sofort zu.

 

IV

 

Als Borko den Brief seines Freundes in den Händen hielt, staunte er nicht schlecht. An der Stelle der Worte, die Pelos geschrieben hatte, stand nun eine merkwürdige Reihung von Buchstaben, etwa wie folgt:

 

»fkg htgofg htcw kuv pkejv oktmc uqpfgtp gncuct fkg kp ycjtjgkv gkpg …«

 

Diese und andere Buchstabenreihen konnte Borko lesen. Insgesamt ergab der Text eine ganze Seite.

Er überlegte, ob er nicht vielleicht in dem Gewirr ein System erblicken könne, das dem Ganzen einen Sinn gab. Er zog sich eine Weile in eine Einöde am Rand Nissonas zurück, um in Ruhe nachdenken zu können. Dann hatte er die Lösung gefunden. Für jeden Buchstaben im vorliegenden Text musste er den Buchstaben einsetzen, der zwei Stellen davor in der Reihenfolge des Alphabets stand. Die Buchstaben A und B waren schließlich die Platzhalter für Y und Z. So erhielt er Worte, die folgenden Brief ergaben:

 

»Die fremde Frau ist nicht Mirka, sondern Elasar, die in Wahrheit eine böse Hexe ist. Sie besitzt einen magischen Spiegel, den ihr einst der Teufel geschenkt hat. Jede verlobte junge Frau, die hineinsieht, verliert ihr Gesicht. Schaut hernach Elasar hinein, so gibt dieser Spiegel das Gesicht der jungen Frau und all ihr Wissen an sie ab. Elasar aber zieht mit dem neuen Gesicht und ihrem neuen Wissen dorthin, wo die junge Frau zuvor gelebt hat, um ihren Platz einzunehmen und ihren Verlobten zu heiraten. Hat dieser ihr erst sein Jawort gegeben, so verfällt seine Seele für immer dem Satan.

Wenn du, Borko, deine Mirka retten und dein Seelenheil gewinnen willst, so darfst du Elasar nicht heiraten und musst zu ihrer Burg ziehen. Aber Vorsicht! Der Butler Gonsor und seine Gnomen töten jeden Fremden, den sie finden. Du musst dich also verstecken.

Zu diesem Zweck ziehe zum Markt nach Tarbala. Dort gibt es einen Weinhändler. Dieser besitzt ein einziges Fass mit dem Wein ›Rommerger Krötenhals‹. Kaufe es und leere es aus!

Steige selbst hinein, verschließe es wieder, und lass dich von deinem Freund Pelos, der morgen nach Nissona kommt, als von Elasar bestellten Wein zur Burg fahren! So werden Gonsor und die Gnome dich nicht entdecken!«

 

Borko zog sofort zum Markt nach Tarbala. Dort fand er auch den Weinhändler und das Fass des Weines, von welchem der Brief gesprochen hatte. Wie gefordert kaufte er das Fass, leerte es noch in Tarbala aus und kehrte anschließend nach Nissona zurück. Dort mietete er für die nächsten Tage einen Wagen und wartete dann auf die Ankunft seines Freundes.

Als Pelos kam, berichtete ihm Borko von der Wirkung der Zaubertinte und dem Rat, den er durch ihren Gebrauch erhalten hatte. Dann zeigte er Pelos das leere Fass und den gemieteten Wagen, und die beiden stiegen auf den Kutschbock und brachen auf in Richtung Phargien.

 

V

 

Kurz bevor sie an Elasars Burg angekommen waren, stieg Borko in das Fass, und Pelos verschloss es wieder. Als sie fast das Tor erreicht hatten, schaute Pelos noch einmal hinein und sah Borko darin auf dem Boden kauern.

»Na, ich will hoffen, dass die Burgbewohner das Fass nicht öffnen, bevor sie es in den Weinkeller tragen«, sagte er dann. »Sonst bist du verloren!«

Er verschloss das Fass erneut, fuhr zum Burgtor hin und rief, er bringe Wein, den Elasar für ihren Weinkeller bestellt habe. Die Gnome öffneten und ließen ihn ein. Drinnen luden sie das Fass vom Wagen, und Pelos fuhr anschließend wieder aus der Burg hinaus. Draußen zeigte er den Pferden die Peitsche und fuhr zu einem Ort, den man von der Burg aus nicht sehen konnte und an welchem er auf Borko warten wollte.

Unterdessen aber ließ Gonsor das Fass von zwei Gnomen öffnen, um zu sehen, ob es tatsächlich Wein enthielt, denn er war ein vorsichtiger, oft sogar misstrauischer Mann. Aber als die Gnome und er in das Fass hineinsahen, da sahen sie nicht den am Boden kauernden Borko, sondern sie sahen, dass das Fass bis zum Rand mit weißem Wein gefüllt war.

»Tragt das Fass in den Keller!«, befahl Gonsor, und die Gnome taten sofort, was er gesagt hatte.

In der Nacht, als die Burgbewohner fest schliefen, stieg Borko dann aus seinem Fass, um nach Elasars Schlafzimmer zu suchen. Endlich hatte er es gefunden. Er ging auf den Spiegel in seiner Mitte zu und schlug ihn mit einem Knüppel, den er unterwegs gefunden hatte, in tausend Stücke. Die Burgbewohner aber schliefen weiter, denn die Wände des Zimmers waren so dick, dass sie den entstandenen Lärm nicht hören konnten.

Borko aber steckte sich ein größeres Stück des Spiegels in die Tasche und schlich leise aus der Burg. Draußen suchte er Pelos auf, der noch immer mit der Kutsche auf ihn wartete, und sie machten sich auf den Rückweg nach Nissona.

 

VI

 

Als sie wieder in Nissona angekommen waren, zog Borko sich in seine Werkstatt zurück, schliff das Stück des Spiegels, das er mitgenommen hatte, rund und fügte es dann in einen hölzernen Rahmen ein.

Am nächsten Tag traf er die falsche Mirka. Sie fragte, wann er sie endlich heiraten werde. Er aber vertröstete sie noch einige Tage. Dann ging er mit ihr zum Tuchhändler, um ihr einen neuen Schal zu kaufen. Als sie sich ein schönes Stück ausgesucht hatte, gab er ihr den neuen Taschenspiegel in die Hand, mit den Worten, sie solle einmal sehen, wie gut ihr der Schal stehe.

Kaum aber hatte Elasar in den Spiegel gesehen, da verlor sie zuerst das Gesicht Mirkas an den Spiegel und danach in Windeseile alle anderen Gesichter, die sie je gestohlen hatte. Am Ende aber tat sich vor ihr die Erde auf, Rauch stieg empor, und sie kreischte laut und fuhr auf der Stelle zur Hölle. Gleichzeitig holte der Teufel in ihrer Burg auch den Butler Gonsor und die Gnome in sein Reich zurück, und alle jungen Frauen, die im Keller der Burg gefangen gewesen waren, auch Mirka selbst, erlangten ihre Freiheit und auch ihre Gesichter zurück. Die Seelen der Männer aber, die Elasar im Laufe der Zeit geheiratet hatte, musste Luzifer wieder freigeben.

Zwei Wochen später feierten alle zusammen in Nissona die Hochzeit von Borko und Mirka. Pelos war ihr Trauzeuge. Den kleinen Taschenspiegel aber und alle anderen Scherben des Zauberspiegels haben sie an einer Stelle vergraben, von welcher heute keiner mehr weiß, sodass davon kein weiteres Unheil ausgehen kann.

(hb)