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Kleiner Stern – Teil 4

Die Kleine knuffte ihm zur Antwort auf den Arm.

»Keine Sorge, ich kann mich beherrschen, Lesandor.«

Kurze Zeit später begann ihre, für die Passagiere erneut unbeschreibliche, zweite Reise, die ebenfalls nur wenige Augenblicke dauerte und ungefähr an dem gewünschten Ort endete. Den restlichen Weg, der sie hauptsächlich durch die Schatten gewaltiger Lagerhallen führte, brachte die Gruppe danach ungesehen zu Fuß hinter sich.

Lediglich Arin nicht, da sie ungefähr dreißig Zentimeter über dem Boden schwebte.

»Haben wir es bald geschafft?«, erkundigte sich das Mädchen nach fast einer Stunde.

»Wir sind in ein paar Minuten dort. Nur noch ein paar Hundert Meter.«

Diese führten sie direkt zu einem schmalen Anbau, der durch ein elektronisches Schloss gesichert war. Immerhin konnte Lesandor die Tür mit seiner persönlichen Zahlenkennung öffnen und sie begaben sich hastig in das Gebäude. Es war ein vollgestopftes Werkzeuglager, durch das er sie bis zu einer gut versteckten runden Luke in der hintersten Ecke lotste.

Darunter befand sich eine breite Röhre mit einer Leiter. Nacheinander kletterten sie, bis auf die fliegende Arin natürlich, zum Anfang eines langen Ganges, der alle fünfzig Meter von sperrigen, äußerst massiv aussehenden Schleusen gesichert wurde, die Thalen gleichfalls ohne größere Probleme überwand.

Schließlich gelangten sie in einen recht geräumigen und scheinbar ständig beleuchteten Raum, der sich als ihr Ziel herausstellte. Lesandor breitete erfreut seine Arme aus.

»Willkommen in einer der ehemaligen Zentralen des Studentenprotestes. Wir waren die Sektion Innenstadt. Diese Unterkunft wurde uns damals von einer Arbeiterin vermittelt, die auf unserer Seite gestanden hat.«

»Zu welchem Zweck ist diese Örtlichkeit ursprünglich konzipiert worden?«, fragte Ralissan interessiert.

»Eigentlich war dies früher mal ein Schutzbereich, der bei Explosionen und den darauf folgenden Bränden verwendet wurde. Inzwischen wird er seit Ewigkeiten nicht mehr dafür benutzt, weil die Antriebstechnik der Schiffe sehr viel zuverlässiger geworden ist.«

»Seid ihr hier unten nie aufgespürt worden?«

»Nein, die Regierung wurde damals immerhin nicht von euch Psybegabten unterstützt. Deshalb hatten wir unsere Ruhe und ich hoffe, das bleibt weiterhin so. Äh, macht es euch bitte gemütlich.«

Er deutete zur hinteren Wand, vor der sich ein erstaunlich bequem aussehender Berg aus Kissen in allen möglichen Formen und Farben auftürmte.

»Das Zimmer war leer, als wir hier Stellung bezogen haben. Diese Dinger waren die einzige Ausstattung, mit der wir einigermaßen unauffällig hierher gelangen konnten. Uns hat es jedenfalls immer gereicht. Wenn ich es recht bedenke, haben wir uns darauf sogar immer ausgesprochen wohlgefühlt.«

Gleich nach seinen Worten begab er sich direkt zu den nächstbesten Polstern und ließ sich auf ihnen nieder. Arin musste ebenso kein zweites Mal aufgefordert werden. Ohne lange darüber nachzudenken, hüpfte sie flugs mitten hinein in den bunten Haufen. Eine Weile probierte sie herum, bevor sie endgültig die für sie behaglichste Position fand.

Das Mädchen legte sich quer über ein paar Sitzflächen und lehnte ihre Füße senkrecht an die Wand.

Das sieht nicht gerade sehr bequem aus, fand Lesandor und schmunzelte fröhlich.

»Ja, du hast recht. Man kann es auf ihnen tatsächlich eine Zeit lang aushalten«, bemerkte die Kleine, während sie entspannt ihre Augen schloss.

»Mal was anderes, Arin. Es gibt etwas, das ich unbedingt wissen will, eigentlich bereits seit unserer wunderbaren Flucht.«

»Was denn?«

»Wie hast du mich gefunden in diesem Knast? Das Ding ist immerhin riesengroß.«

Arin sah ihn zuerst einen Moment lang unergründlich an und dachte scheinbar ausführlich über ihre Antwort nach, ehe sie ihn wiederum auf ihre übliche, leicht schiefe Art angrinste.

»Och, das war überhaupt kein Problem. Ich habe mir bei unserem Gespräch dein Wärmemuster und ferner die filigrane Konsistenz deiner Energiestruktur eingeprägt. Die sind bei allen Geschöpfen einzigartig und haben mich letztlich zu dir geführt.«

Wenn diese ganze Angelegenheit nur wirklich so einfach gewesen wäre, wie sie es gerade erzählt hatte. Sie erinnerte sich nämlich viel zu deutlich an ihre unermesslichen Ängste, da seine Spuren bereits so schwach gewesen waren, dass die Kleine sie kaum mehr erfasst hatte. Sie dankte in ihrem Innersten dem Leben für das beispiellose Glück, welches ihr widerfahren war.

»Weißt du Arin, deine Fähigkeiten sind definitiv unglaublich – einfach erstaunlich! Ich danke dir für deine Freundschaft.«

Ralissan hatte unterdessen alle weichen Sitzgelegenheiten verschmäht und sich bescheiden auf den kalten, harten Boden gekniet.

»Wie geht es dir eigentlich, Rali? Du bist ziemlich still geworden«, erkundigte sich Thalen sanft bei der Alpha, nachdem er Arins vorangegangene Erklärung langsam verarbeitet und Nolders anhaltendes Schweigen endlich bemerkt hatte. Es dauerte eine Zeit, bis die Psybegabte überhaupt reagierte, weil sie zuerst gar nicht begriff, dass sie gemeint war. Derweil fiel ihr Lesandors auf sie gerichteter Blick auf.

»Es ist nichts. Ich verberge lediglich unsere Präsenz vor meinen Cho… – den Psybegabten. Das ist anstrengend.«

Lüge, zumindest teilweise, urteilte sie, während sie diese Sätze aussprach.

Natürlich erforderte es Konzentration, sie alle vor der Entdeckung durch das Psychor zu schützen. Jedoch keineswegs mehr als man dabei benötigte, ein Programm im Hologerät zu verfolgen und sich nebenher mit Freunden zu unterhalten. Gleichwohl hatte sie bislang niemals welche gehabt. Daher waren die normalen sozialen Kommunikationsformen desgleichen nicht gerade ihre Stärke.

Lesandor schlug sich unterdessen mit der flachen Hand gegen die Stirn.

»Verdammter Mist! Siehst du, daran habe ich mal wieder gar nicht mehr gedacht, obwohl ich eure Kaste vorhin sogar erwähnt habe. Ich Idiot! Gut, dass wenigstens du bei uns bist und für mich mitdenkst! Ohne dich wären wir schlicht aufgeschmissen.«

Er lächelte sie erleichtert an und schüchtern nahm die Beamtin sein Kompliment entgegen.

»Danke.«

Arin seufzte leise, als Lesandor sein Lob beendet hatte, und schüttelte grübelnd ihren Kopf.

»Weißt du, ich finde es überhaupt nicht verwunderlich, dass du es vergessen hast. Kein normales intelligentes Wesen sollte sich ständig Sorgen um seine Sicherheit, ja die schiere Existenz machen müssen.«

»Du hast damit selbstverständlich recht. Trotzdem hat unsere Welt vor fünf Jahren einen brachialen Wandel vollzogen, nachdem unser Regime diese Psybehörde gegründet hat. Seitdem kann ich es mir einfach nicht mehr erlauben zu verdrängen – und vielen anderen geht es genauso. Du hast selbst mitbekommen, was ansonsten geschehen kann.«

»Ja, ich erinnere mich leider allzu genau daran.«

Bei diesen Worten blickte sie kurz hinüber zu der Psybegabten.

»Trotzdem ist mir der Grund dafür schlicht unverständlich. Ich wollte dich eigentlich ausschließlich ein wenig näher kennenlernen und bin plötzlich verantwortlich dafür, dass man uns jagt wie gefährliche Ungeheuer. Dabei habe ich garantiert niemandem etwas zuleide tun wollen. Ich war einfach unbedarft neugierig. Ehrlich. Und jetzt kümmert sich unversehens euer selbstgerechter Gott um uns und sendet seine strafenden Boten aus. Wieso macht er das? Was haben wir ihm – eurer Zentralregierung – eigentlich getan?«

»Das werden dir bloß diese geisteskranken Hohen Räte verraten können.«

»Ich hoffe, dass ich ihnen niemals begegnen muss. Mir ist nämlich nicht ganz klar, wie ich auf sie reagieren würde. Obwohl das ja im Grunde unwichtig ist. Nein, mich beschäftigt rein mein unverzeihlicher Fehler, dem du blöderweise deine Verhaftung verdankst, Lesandor.«

»Oh, nein … Halt dir deswegen bitte keine Strafpredigt. Ich bin ausgesprochen froh, dass wir uns begegnet sind, Arin! Eingesperrt hätte man mich irgendwann einmal sowieso.«

»Ich freue mich genauso sehr darüber. Aber das es unter diesen schrecklichen Umständen sein musste, bereitet mir gewaltigen Kummer.«

»Das muss es keineswegs. Es war einfach eine Frage der Zeit.«

»Danke, dass du mir meine Blödheit verzeihst.«

»Ach, was, ich bedanke mich sogar aufrichtig dafür.«

Danach schwiegen die Beiden und jeder hing seinen eigenen Gedanken nach. Genauso wie Ralissan, die diesem Gespräch ziemlich nachdenklich zugehört hatte. Sie hätte zwar die darin aufgeworfene Frage klären können, doch wollte sie es einfach nicht. Eben Gehörtes verwirrte die junge Frau nämlich generell und wühlte sie außerdem zu stark auf. Vor allem die harsche Kritik an ihrer gottgefälligen Obrigkeit, die schlussendlich sogar Marandeus selbst betraf. Schleunigst verbannte sie ihre alten Reflexe, zumal die kleine Außerirdische leider absolut recht gehabt hatte. Ihre Gottheit war zu einem Vorwand verkommen, um alles angeblich unwürdige Leben zu vernichten.

Jeder, der genügend Macht dazu hatte, konnte somit ungestraft Leid verbreiten, wie es ihm gerade beliebte. Oder waren die Lehren ihres Herrn vielleicht schon immer so verdorben gewesen?

All diese Morde und Nachstellungen, die in Marandeus Namen begangen worden waren, sind von ihm gewollt und in seinen Schriften direkt befohlen worden, schoss es der Alphabegabten daraufhin beißend durch den Kopf.

Niemand hatte daran nachträglich manipulieren müssen, um seine brutalen Taten zu rechtfertigen. Gott selbst stand mit seinem heiligen Wort für alles ein. Er übernahm die volle Verantwortung dafür und würde es stets tun. Ein wahrhaft heuchlerisches System, das sie alle – die gesamte menschliche Gesellschaft – in seinem erdrückenden Griff hielt.

Selbst Nolder war lange Zeit ein äußerst wichtiger Teil davon gewesen. Sie hatte tatkräftig dabei geholfen, dieses abartige System auf Dauer zu festigen. Jäh fiel ihr auf, dass Arin abwägend in ihre Richtung blickte und es wahrscheinlich bereits seit längerer Zeit machte. Kurz darauf sprach das Kind sie etwas eigenwillig, fast keck an.

»Übrigens, wie kommt es jetzt eigentlich dazu, dass du uns hilfst? Ich meine, zuerst willst du mich erkunden – auf äußerst brutale Weise, wenn ich das mal so nebenbei erwähnen darf – und verhaften. Dabei gelingt es mir erfreulicherweise, dir und deinen Schergen trotz all eurer Bemühungen zu entkommen.

Anschließend, nach meiner Rückkehr, hole ich Lesandor aus dem Gefängnis, in das du ihn ja eigentlich erst hineingebracht hast, und anstatt entsetzt vor dir zu flüchten – seid ihr unerwartet Freunde geworden. Das musst du mir erst mal erklären.«

»Ach Arin, lass sie bitte in Ruhe. Ich habe Rali kennengelernt, sehr intensiv sogar und vertraue ihr. Versuch das doch auch. Außerdem ist sie gerade dabei uns zu beschützen, vergiss das nicht.«

Nolder unterbrach ihn mit einer knappen Geste.

»Nein, Lesandor. Das, was sie sagt, stimmt. Ich habe ihr Gewalt angetan, schreckliche Schmerzen zugefügt. Genauso wie dir. Und sie sollte wissen, warum du mir vergeben hast.«

Dann blickte sie dem fremdartigen, gleichzeitig im besten Sinne menschlich wirkenden, Mädchen in ihre schwarzen, die Seele wärmenden Augen.

»Ich will dir alles zeigen und begreifbar machen. Genauso wie Lesandor zuvor. Wenn du es mir erlaubst.«

»Und unser Schutz? Kannst du wirklich beides synchron bewältigen?«, warf Lesandor ein, als er begriff, was die Beamtin da beabsichtigte.

»Keine Sorge, Lesandor. Ich habe vorhin halt ein bisschen geschwindelt. Entschuldige.«

Während Nolder ihre Ausflucht bekannte, stand sie auf und ging zu Arin, die sich gerade in eine sitzende Position begab. Die Alphabegabte versuchte inzwischen ihr Gesicht zu berühren.

»Es wird hoffentlich nicht wieder so wehtun?«

Das kleine rote Kind sah Ralissan fragend und etwas misstrauisch an. Auf keinen Fall wollte sie nochmals einen solch abscheulichen mentalen Missbrauch erleben, wie sie ihn schon einmal kurzzeitig erdulden musste.

»Es tut mir so unendlich leid, Arin. Ich habe zu spät bemerkt, welche Qualen es dir bereitet. Bitte, gib mir eine Chance.«

Nolder senkte beschämt den Kopf und konnte sie einfach nicht mehr ansehen. Auf einmal erinnerte sie sich darüber hinaus an ihre anderen Opfer, denen sie zwar nie diese unmittelbare, körperliche Qual zugefügt hatte wie der Kleinen, alles andere war jedoch vergleichbar.

Arin umfasste im selben Moment Ralis zitternde Hände und führte sie zu ihren Wangen.

»Lass es mich erfahren.«

Voller Dankbarkeit begann die Talentierte umgehend mit dieser Prozedur. Die Außerirdische schloss zugleich ihre Lider und bereitete sich schon auf das Schlimmste vor. Aber diesmal war es anders. Vielleicht weil es umgekehrt ablief. Es wurde nichts unvorbereitet und ungewollt entrissen, sondern alles freiwillig gewährt.

Die Psybegabte öffnete sich dem Mädchen völlig und entblößte ihr Innerstes, so wie es ausschließlich eine Alpha konnte. Sie verbarg nichts mehr, ließ Arin an ihrem Leben teilhaben und zeigte dem Kind absolut jede in ihr befindliche Einzelheit. Zum zweiten Mal an einem Tag gab sie sich preis und empfand ihre Gabe zu guter Letzt als etwas Besonderes.

***

Hoher Rat Holmbrok saß allein in seinem nur vorübergehend, dennoch ausgesprochen widerwillig bezogenen Quartier. Aber er nahm diesen schlichten Büroraum der Technischen Überwachung gar nicht mehr wahr. Dafür war er inzwischen viel zu verstört über diesen furchtbaren Verrat seiner fähigsten Alphabegabten.

Unglaublich enttäuscht ließ Deggard nach einer Weile seinen Kopf hängen und weinte sogar ein paar bittere Tränen, von denen der Beamte Gilrathi bei seinem lang ersehnten, sehr erleichternden Erscheinen jedoch nichts mehr zu sehen bekam. Er würde auch bestimmt niemals erfahren, wie dringend ihn der Hohe Rat herbeigesehnt hatte.

»Wir haben den gewünschten Hologrammraum vorbereitet. Wenn Sie mir bitte folgen würden, Herr.«

Deggard nickte bloß kurz, als er aufstand, um dem Ratsdiener in seine neue Kommandozentrale nachzugehen. Von dort würde er den weiteren Verlauf der Jagd persönlich leiten. Nachdem sie wenige Minuten später angekommen waren, betrachtete Holmbrok kurz den riesigen, in die Decke integrierten Holoprojektor.

Dieses Werkzeug der göttlichen Gerechtigkeit füllte das obere Drittel des ansonsten vollkommen unmöblierten Ortes, in dem die einzige Lichtquelle eine detaillierte Projektion des Sektors Innenstadt war. Deggard überblickte diese zunächst äußerst zufrieden und ging dann konzentriert hinein.

Immer noch ziemlich eingeschüchtert folgte Elwor ihm. Zusammen hielten sie kurz darauf inmitten des Hologramms, welches Holmbrok bis zur Hüfte und seinem Begleiter über den rundlichen Bauch reichte. Sofort berichtete der kleine Mann aufgeregt von dem bisher Bewältigten.

»In spätestens zweieinhalb Stunden werden die letzten Drohnen an ihren Einsatzorten angekommen sein. Bislang haben rund 55 Prozent ihre Zielgebiete erreicht und sind sendebereit. Wenn Sie wollen, können wir die Aufnahmen einzelner Maschinen über der Stadtkarte anzeigen lassen. Immer an dem gerade überwachten Punkt. Bei wichtigen Ereignissen öffnen sie sich natürlich selbstständig.«

Der Hohe Rat hatte ihn mittlerweile zu seinem persönlichen Assistenten befördert. Etwas, das den Beamten beträchtlich stolz machte, trotz seiner leichten Furcht.

»Können schon Bilder vom alten Raumhafen übertragen werden?«

»Ja, Herr, bislang leider sehr wenige.«

Selbstverständlich, dachte Holmbrok, es ist ja ebenfalls nicht anders zu erwarten gewesen.

Dies und vor allem Elwors so nebenbei erwähnte Tatsache, dass die ganze Vorbereitung deutlich länger als Deggards befohlene Stunde dauern würde, erzürnte ihn zwar unheimlich, gleichwohl beherrschte er sich außergewöhnlich mühevoll.

»Gut, geben Sie mir Bescheid, wenn alles lückenlos beobachtet werden kann. Öffnen sie dann umgehend so viele Sichtfenster über der Hafenanlage wie möglich. Doch halten Sie es auf jeden Fall übersichtlich.«

Elwor nickte ergeben und sprach gleich darauf leise in sein Komgerät. Schnell gab er dem Zentralrechner damit die entsprechenden Befehle. Was Deggard gar nicht mehr mitbekam, denn er hatte den Ratsdiener mittlerweile einfach ausgeblendet. Langsam fühlte Holmbrok wieder seinen puren Hass in sich aufsteigen. Wie immer, wenn er etwas Ungläubiges hetzen ließ.

Er konzentrierte sich nun ausschließlich auf dieses alles überragende Gefühl, das ihm eine Jagd stets gewährte. So rein und klar, wie es gottgefälliger nicht sein konnte. Dadurch verdrängte Deggard außerdem radikal seinen vor kurzem erlittenen Schmerz. Die Abtrünnige gehörte jetzt gleichfalls ausschließlich zu seiner Beute.

Augenblicklich erfüllte ihn Marandeus grenzenlose Liebe. Er war beglückt, dass sein Herr wiederum an seiner Seite stand und dieses heilige Unterfangen persönlich lenkte. Dieses widernatürliche Ding würde bald sterben! Davon war er nunmehr felsenfest überzeugt.

Und trotzdem, dies war bisher das erste und einzige Mal, dass eine niedere Kreatur, etwas so Unwürdiges, den heiligen, überaus gesegneten Boden Thain Marandeus befleckte, ohne gefesselt zu sein und das Haupt in Demut zu beugen.

Was für ein Sakrileg, welch unflätige Beleidigung, empörte sich jede Zelle seines Körpers.

Gott konnte dies nicht gefallen und Holmbrok nahm sich vor, zu seiner rächenden Faust zu werden.

***

Mitten in der Gedankenübertragung, bei der Lesandor zuerst noch nachdenklich zuguckte, zog ihm plötzlich eine durchdringende Erschöpfung einfach gnadenlos die Lider zu und er fiel in eine tiefe Schwärze. Nach einem kurzen, aber durchaus erholsamen Schlaf, öffnete er träge blinzelnd seine Augen. An irgendwelche Träume konnte er sich bislang nicht erinnern.

Vielleicht ist das auch ganz gut so, dachte er unschlüssig und rieb sich dabei das Gesicht. Dann streckte Thalen seine Arme weit von sich, gähnte einmal herzhaft und sprang von den recht zerknautschten Kissen auf. Gleich darauf brachte er mit etwas Bewegung seinen Kreislauf in Schwung, während er sich kurz umsah. Arin schien ebenfalls mit zur Wand gedrehtem Körper und halb in den weichen Polstern vergraben zu schlummern.

Ralissan kniete derweil abermals auf dem blanken Boden. Diesmal jedoch mit einem merkwürdig starren, unglaublich ausdruckslosen Blick.

»Rali, bist du wach?«

Sie wirkt irgendwie abgeschaltet, kam es Thalen erschrocken in den Sinn. Was ist bloß los mit ihr?

Doch die Psybegabte reagierte sofort. Schlagartig änderte sich dabei der leere Ausdruck ihrer Miene. Sie war wohl gleichfalls eingenickt, obwohl es bei ihr überaus seltsam gewirkt hatte.

»Ja, bin ich. Ein Teil von mir bleibt stets wachsam, selbst wenn ich ansonsten ruhe«, erklärte sie ihm freundlich lächelnd.

Lesandor kratzte sich verlegen am Kopf. Eigentlich hatte sie es ihm ja schon einmal erklärt oder vielmehr gezeigt. Allerdings hatten damals eindeutig zu viele ihrer Erinnerungen auf seinen Verstand eingewirkt. Es würde garantiert mehrere Jahre dauern, bis er alle richtig verarbeiten konnte. Und es würde ausgesprochen schwierig werden.

»Ich kann mir vorstellen, dass es bizarr aussieht. Deswegen musste ich früher wohl ständig einen Helm tragen«, versuchte die Alpha zu scherzen.

»Ach, so schlimm war es gar nicht«, versicherte Thalen ihr aufmunternd grinsend.

Danach hockte er sich seufzend auf einige der weichen Sitzunterlagen in der Nähe des Mädchens.

Seine Morgengymnastik war damit offiziell beendet und Lesandor fragte zur Kleinen deutend: »Wie ist es gelaufen?«

»Sehr gut. Ich war erstaunt, dass sie ohne Schwierigkeiten wirklich alles aufnehmen konnte, was ich ihr zeigen wollte. Dir hat es ab einem bestimmten Punkt Unbehagen bereitet.«

»Mich wundert es gar nicht, denn Arin ist eben einmalig.«

Thalen drehte sich daraufhin kurz um und betrachtete die Außerirdische einen Moment lang liebevoll. Anschließend wandte er sich wiederum Nolder zu.

»Und wie geht es dir? Ich meine, nach unserer Flucht ist für dich sicher eine Welt zusammengebrochen. Wie kommst du damit klar?«

Bei diesen Worten sah er sie mitfühlend an und Rali erwiderte ernst seinen Blick.

»Keine Sorge, ich werde es schon schaffen. Wenn ich ehrlich bin, habe ich schon vor langer Zeit mit diesem Leben abgeschlossen, denn innerlich wurde ich ausschließlich zerfressen von Schuld und Scham. Hätte ich dich nicht getroffen und wäre mit euch geflohen, ich glaube, meine Seele wäre gestorben. Im Grunde hast du mich bereits zum zweiten Mal gerettet. Zuerst vor vielen Jahren im Zoo und nun im Gefängnis. Dafür bin ich dir unendlich dankbar!«

Verlegen und desgleichen etwas stolz schmunzelte Thalen sie an, nachdem er dieses Kompliment erhalten hatte.

»Ach, das war selbstverständlich. Umgekehrt gilt das schließlich genauso. Du hast immerhin deinen ausdrücklichen Befehl missachtet und mich nicht exekutiert. Das war wirklich tapfer von dir.«

Die Psybegabte zog unterdessen ihre gepanzerten Handschuhe aus, warf sie weit von sich und ergriff nachher seine Hände. Der junge Mann war zuerst gänzlich überrascht, gleichwohl außerordentlich erfreut darüber. Flugs genossen beide still die Wärme ihrer sanften Berührung.

»Vielleicht wird dein Leben nie so, wie es hätte sein können, Rali. Dennoch hast du es jetzt wenigstens selber im Griff und kannst dich frei entscheiden. Aber da du tief in dir sowieso immer das Richtige gedacht und deinen wundervollen reinen Kern bewahrt hast, wirst du es sicherlich schaffen, deinen Weg zu finden. Trotz dieser widerlichen Dinge, zu denen man dich gezwungen hat. Du wirst es auf jeden Fall hinbekommen. Ich glaube fest an dich, Rali!«

Oje, ob ich das jetzt richtig rübergebracht habe, überlegte er verzweifelt.

Ursprünglich hatte er ihr was Tröstendes sagen wollen. Irgendetwas, das Ralissans gewaltige Pein wegen ihrer qualvollen Vergangenheit hätte abmildern sollen. Trotzdem glaubte er, dass es ihm nicht einmal ansatzweise geglückt war. Sogar in seinen eigenen Ohren hatte es sich nicht gerade sehr erleichternd angehört, sondern eher nach einem langen, äußerst harten Kampf, um ihr gestohlenes Dasein und ihre zerbrochene Würde. Zusätzlich müsste sie ebenso ständig ihrem beträchtlich belasteten Gewissen widerstehen. Von dieser Tatsache war er bedauerlicherweise fest überzeugt. Wie sollte oder konnte sie das alles nur bewältigen?

»Ich meine …«, wollte er zum zweiten Versuch ansetzen.

Indessen unterbrach sie ihn abrupt, indem sie zärtlich ihre Finger auf seine Lippen legte.

»Ich weiß, dass ich bestimmt lange dagegen kämpfen muss, weil ich leider zu viel Schuld auf mich geladen habe. Dessen ungeachtet kann ich damit umgehen. Mach dir bitte um mich keine Gedanken mehr.«

Sie lächelte ihn liebenswürdig an und erschien dabei so mutig und stark, dass Thalen ihr vollauf glaubte.

»Ich wünsche dir alle Kraft dieser Welt für deinen Kampf. Aber das brauche ich ja gar nicht! Zumal du mir bereits bewiesen hast, dass du ganz allein stark genug dafür bist.«

Die Psybegabte fühlte sich innerlich überhaupt nicht so, dennoch freute sie sich über seine Aussagen. Vor allem deshalb, weil sie wirklich intensiv spüren konnte, dass er es völlig ernst meinte. Derweil rührte Arin sich hinter seinem Rücken.

Thalen wandte sich erfreut dem Mädchen zu, nachdem Nolder ihn darauf aufmerksam gemacht hatte. Obwohl es ihm nicht im Geringsten gefiel, was er am Ende erblickte, denn die Kleine sah ganz und gar nicht gut aus, als sie sich aus ihrer fötalen Schlafposition in eine sitzende aufrichtete. Vor allem ihre Augen irritierten ihn in jeder Beziehung. Zuerst wusste er gar nicht genau warum, bis ihm jäh auffiel, dass aus dem sonst immer netten, angenehm warmen Brennen darin eine nun rot lodernde Flamme geworden war. Heiß und tödlich.

»Was ist passiert, Arin?«

Er schaute verdutzt zu Nolder, die fassungslos mit den Schultern zuckte. Nach ihrer mentalen Übertragung war alles in bester Ordnung gewesen und die Kleine hatte sich hinterher bloß etwas ausruhen wollen. Ihr derzeitiges Verhalten überraschte die Alpha genauso sehr wie ihn. Sie konnte es sich absolut nicht erklären.

»Ich bin schlicht ein wenig wütend! Sonst ist alles in bester Ordnung.«

Die zwei Menschen konnten dagegen erkennen, dass ihre Worte absolut verharmlosend waren. Ganz offensichtlich hatte sich ein gewaltiger Zorn in dem Mädchen aufgestaut, der mit einem Mal unglaublich heiß wurde und die Sitzkissen unter ihr dampfen ließ. Hastig ergriff Arin darauf ihren Schädel, wie um zu verhindern, dass er ungewollt explodierte.

Unterdessen sprang sie auf und holte im selben Moment noch einmal tief Luft. Dann schrie sie heraus, so laut, dass es beinahe die Trommelfelle in den Ohren ihrer Begleiter zerriss.

»NEIN, NEIN, NEIN! ES IST ALLES FALSCH! NICHTS STIMMT HIER!«

Thalen zuckte eingeschüchtert zurück. Eilig versuchte er halb kriechend, da es ihm unter diesen Umständen nicht mehr gelang, rechtzeitig genug hochzukommen, ausreichenden Abstand zu dem kleinen Kind und der enormen Hitze, die sie seither entwickelte, zu gewinnen.

Nolder griff ihm inzwischen helfend unter die Arme und zerrte den jungen Mann ein paar Meter mit sich tiefer hinein in den Raum. Ein wenig später stürzte sie ebenfalls. Umgehend verfolgten sie liegend, die Beamtin halb unter Lesandor begraben, diese hasserfüllte Szene. Einen wahren Albtraum, der sich hier vor ihren verdutzten Gesichtern abspielte.

Das Mädchen kämpfte inzwischen nämlich krampfhaft um ihre verlorene Kontrolle. Nach wenigen Augenblicken beruhigte sie sich tatsächlich wieder ein wenig und fuhr etwas gemäßigter fort mit einer dunklen Stimme, die heiser war vor unbezwingbarer Wut.

»Oh nein, nichts ist mehr gut. Da ich euch und euer widerwärtiges Volk von grausamen, unbegreiflichen Massenmördern, die alles ausrotten, was es wagt, anders zu sein als es selbst, hasse, mit jedem einzelnen Atom meines Körpers zutiefst verachte und verabscheue, euch wahrhaftig …«

Die Kleine starrte sie kurz mit offenem Mund an.

»Ihr seid ein Haufen abartiger Schlächter, die ganze fremdartige Nationen, die euch keinesfalls etwas getan haben, lediglich deshalb vernichten, weil deren Welten eure unbegrenzte Gier geweckt haben. Ihr habt unbegreifliche Milliarden von Unschuldigen einfach ausgelöscht! Weil ihr tatsächlich daran glaubt, dass eure faulige Art ungleich wertvoller ist als alle anderen im Universum. Ich verstehe nicht, wie ihr eigentlich darauf kommt, euch als von irgendeinem widernatürlichen Gott erwählt zu betrachten. Wie kann man dermaßen verblendet und dumm sein! Und als ob das nicht genug wäre, quält ihr verfluchten Ungeheuer euch sogar gegenseitig und formt dabei eure lauteren Kinder mit Gewalt zu dem Schmutz, der ihr seid. Zu perversem Abschaum! Zu verfluchtem widerlichen Müll! Zu dem am schlimmsten stinkenden Dreck des Kosmos!

Nur deshalb konnte es geschehen. Ja, erst jetzt kann ich es wirklich begreifen. Ihr seid eine bestialische, innerlich zerfressene, total verrottete, absolut zerstörerische und gegen jegliches Leben gerichtete Rasse, die sich alles selbst zuzuschreiben hat, alles ausschließlich euch selbst!«

Bei diesen Sätzen deutete sie anklagend mit ihrem Zeigefinger auf Ralissan und Lesandor. Dabei funkelte Arin sie abwechselnd blindwütig an.

»Ich – ich sehe euch und in mir verspannt sich alles vor lauter Übelkeit. Eine perverse Gedankenschänderin und ein elender Feigling, der all seine Ideale aufgegeben hat und um den Tod bettelt. Keine Sorge, mein Freund, der kommt sicherlich früh genug.«

Thalen hatte niemals zuvor solch tiefe Enttäuschung in ihrem Gesicht gesehen. Dieser Ausdruck änderte sich immerhin prompt.

»Ihr seid sowieso nichts anderes als abscheuliche Eintagsfliegen, bemitleidenswerte Wesen, die versuchen, alle anderen in ihren frühen Tod mitzureißen. Na ja, wenigstens darin habt ihr bereits Perfektion erreicht.«

Unerwartet verstummte sie und starrte dabei entsetzt die Opfer ihres tosenden Ingrimms an, welche sie gerade so wüst beschimpft hatte, obgleich diese im Grunde für die meisten ihrer Anschuldigungen letztlich gar nichts konnten. Als sie das endlich begriff, schloss sie schnell ihren Mund.

Das Kind schwebte nun, mit sich langsam entspannenden Zügen, eine Weile ziemlich sprach- und ratlos herum. Ihr unbändiger Groll war unterdessen gänzlich verraucht.

»Was rede ich hier eigentlich? Wie denke ich plötzlich? Nein, das bin ich nicht mehr. So bin ich nicht!«

Arins sengende Lohe verpuffte und das Feuer in ihren schwarzen Augen erlosch schlagartig. Sie glommen mittlerweile ausgesprochen schwach, fast wie verglühte Kohlestücke. Schleunigst sprang sie nun ihrerseits so weit zurück von diesen elenden Geschöpfen, wie sie bloß konnte.

Ihre Miene verzerrte sich nochmals blitzschnell. Diesmal war es blankes Entsetzen, das sich darin widerspiegelte. Vor lauter nackter Angst verkrampfend, stolperte sie torkelnd rückwärts, bis sie mit ihrem Rücken an eine rasch abkühlende Mauer stieß.

»Euer Wahnsinn ist eine Krankheit und ihr habt mich angesteckt. Ich bin zu einem Menschen geworden – voller Verachtung und Bitterkeit – und Gemeinheit. Nein, das darf nicht wahr sein. Was soll ich tun? Wie kann ich mich heilen?«

Die letzten Worte waren inzwischen ein gehauchtes Flüstern, aus purem Schrecken geboren. Abschließend glitt sie, die imaginären Viren von den Armen wischend, mit heftig zitternden Händen zu Boden.

Erst, als er das sah, begann Lesandor leise zu weinen. Alles hatte er ertragen können. Ihre ganzen Vorwürfe und Beleidigungen, aber diese irrsinnige Furcht und irgendwie verständliche Abscheu gaben ihm den Rest. Nach einem Moment seufzte er zunächst, wischte sich die Tränen von den Wangen und stand auf.

Langsam begab er sich zu Arin und erreichte trotzdem rasch ihre kleine, auf dem Fußboden zusammengekauerte Gestalt. Thalen drehte sich zunächst kurz um und zwinkerte der Psybegabten, die weiterhin einen höchst konsternierten Eindruck machte, aufmunternd zu.

Sie lächelte ihn jetzt an und er beugte sich, nach dieser erleichternden Aufmunterung, besorgt zu der Kleinen hinunter. Sogleich vernahm er ihr schmerzliches, annähernd lautloses Heulen. Gleich darauf berührte Lesandor sanft ihre Schulter und fing an, beruhigend über ihren Rücken zu streicheln, was das Mädchen anfangs angeekelt erbeben ließ, kurze Zeit später hingegen dankbar von ihr angenommen wurde. Nach wenigen Minuten hörte ihr Körper auf zu vibrieren. Das Kind beruhigte sich trotz allem endgültig und richtete sich erschöpft auf. Als sie daraufhin in Lesandors verweintes, tieftrauriges Gesicht sah, kam sie sich auf einmal unermesslich schäbig vor.

»Lasst uns bitte miteinander reden. Ich muss euch einiges erklären. Ich glaube, das wäre jetzt das Sinnvollste.«

Thalen nickte kurz. Flink klaubte er geschwind die letzten paar brauchbaren Sitzgelegenheiten zusammen, um sich als Erster auf ihnen niederzulassen. Kurz darauf folgten die anderen seinem Beispiel und sie saßen zunächst einmal eine Zeit schweigend beieinander. Jeder hing hauptsächlich seinen eigenen Gedanken nach, während Arin sich verlegen räusperte und damit zu guter Letzt die unangenehme, langsam extrem bedrückende Stille unterbrach.

»Ich würde es verstehen, wenn ihr mich jetzt nicht mehr in eurer Nähe haben wollt. Hingegen müsst ihr mir eines glauben – das war nicht wirklich ich. Hm, nicht ganz jedenfalls. Es war ein Teil von mir, der boshafte, wütende, hasserfüllte. Leider ist er unermesslich stark geworden und hat den Rest von mir auf der Stelle verschlungen.«

Sie hob ihren Blick und sah die Erdenbürger zum ersten Mal wieder an. Doch konnte sie die erwartete Antipathie in ihren Mienen nicht erkennen. Lediglich einen düsteren Kummer.

»Wisst ihr, ich habe mich getäuscht. Denn erst als Rali mir ihre Gedanken und Gefühle gewährte, habe ich einige Zusammenhänge verstanden. Vieles von dem, was hier geschieht, wurde mir erst so richtig klar, als ich die Bilder ihrer Erinnerungen erlitt.«

Dabei sah sie verstohlen Lesandor an.

»Ich konnte es vorher nämlich nicht mal annähernd erfassen und wollte es wohl nicht richtig begreifen. Erst nachdem ich es gesehen und miterlebt habe, wurde ich schnell hilflos und dabei ohnmächtig meiner schändlichen, unbegreiflichen Abneigung ausgeliefert.«

Ein zweiter kurzer Blick.

»Ich kannte solche Gefühle, wie sie mich vorhin überwältigt haben, bisher gar nicht. In dieser Intensität zumindest. Es war eine erschreckende neue Erfahrung und ich muss mich dafür entschuldigen – um eure Vergebung bitten. Ich hoffe, ihr könnt mir irgendwie verzeihen.«

Konnten bescheidene Worte ihren Ausbruch gerade auch nur annähernd wieder gut machen? Sie ersehnte es auf jeden Fall inständig. Eine Zeit lang geschah nichts. Weder Thalen noch Nolder waren vorerst in der Lage zu antworten oder wollten es überhaupt. Nach einer Weile, in der sie scheinbar gründlich darüber nachgedacht hatten, rang sich der junge Mann als Erster eine Erwiderung ab.

»Also, was mich betrifft, ich nehme deine Entschuldigung an«, entgegnete Lesandor knapp. Er hätte sie niemals belügen dürfen.

Warum hast du ihr das zeigen müssen, dachte er sauer und stierte die Alpha an.

Sie bekam es jedoch gar nicht mit und antwortete derweil dem Kind: »Weil die meisten deiner Aussagen der Wahrheit entsprachen, wenn auch sehr subjektiv, total übertrieben und viel zu laut vorgetragen, nehme ich sie genauso gerne an.«

Diese Entgegnung brachte die Drei dazu, ein erleichtertes, fröhliches Lachen auszustoßen, das den Raum geschwind erfüllte. Das Eis war somit gebrochen und Arin stand gleich auf, um ihren Freund Lesandor zu umarmen. Sie drückten sich eine Weile glücklich. Kurz darauf rutschten sie gemeinsam zu Ralissan hinüber und schlossen die Beamtin in ihre Freude ein.

»Wir haben grundsätzlich niemanden anderes als uns, Leute, und wir müssen zusammenhalten«, brachte Thalen erleichtert hervor.

Daher kuschelten sie längere Zeit gut gelaunt miteinander. Die vorher so bedrohliche Atmosphäre und unerträgliche Stimmung löste sich immer mehr in Wohlgefallen auf, bis wirklich nichts mehr davon übrig blieb. So fanden sie, in dieser gelösten Heiterkeit, endlich erneut zu sich.

Doch nicht nur das. Selbst ihre Freundschaft, die vorhin beinahe zerbrochen war, wurde in diesen Minuten unglaublich gestärkt. Ganz nebenbei stellte die Psybegabte eine Frage, die sie schon lange beschäftigte. Im Grunde seit dem Zeitpunkt, als sie die Gegenwart der Außerirdischen zum ersten Mal erfasst hatte.

»Wer oder besser was bist du eigentlich genau, Arin? Erzähle bitte etwas über dich. Uns kennst du mittlerweile schließlich recht gut.«

Das interessierte auch Lesandor bereits seit Langem. Bisher war er leider nie dazu gekommen, Arin darüber auszuforschen.

»Ja, jetzt können wir endlich unser Gespräch fortsetzen, das so unerwartet unterbrochen wurde von einer gewissen Person, die sich zufälligerweise in diesem Raum befindet.«

Dabei sah er Rali ganz beiläufig an und erntete einen bösen Blick. Grinsend wendeten sie sich dem Kind zu und betrachteten sie neugierig. Sie überlegte gar nicht erst lange, sondern erklärte es ihnen gleich.

»Wisst ihr, ich bin sozusagen ein – Sternenkind. Hm, ja, dieses Wort trifft es wohl am besten. Meine Mutter war eine wundervolle Sonne, deren Licht garantiert selbst von hier aus zu sehen war – und vielleicht bis heute noch erkennbar ist.«

»Große Güte, die Tochter eines Sterns! Das kann nicht wahr sein.«

»Sei still und lass sie gefälligst erzählen, Lesandor.«

Arin schmunzelte kurz und fuhr fort.

»Sie schenkte meinen Geschwistern zuerst ihr Leben, drei Planeten in einem System aus acht entwickelten sogar ein eigenes Bewusstsein. Die anderen starben. Alle Überlebenden schufen in ihren Meeren und den gerade auf ihnen entstehenden Kontinenten wiederum neue Existenzformen. Eine schier endlos scheinende Anzahl, die sich über Millionen, sogar Milliarden Jahren stetig änderte. Zeitweilig gewissermaßen ausstarben, um dann neu zu erblühen. Es muss wundervoll und gleichzeitig schrecklich gewesen sein.«

Sie wischte sich bei diesen Erinnerungen die Wangen trocken.

»Zum Schluss kam ich. Meine Mutter hat mich im hohen Alter geboren und mir einen großen Teil ihrer Kraft geschenkt. Sie hat mich immerhin ganz anders erschaffen als vor so langer Zeit ihre Erstgeborenen. Sie sagte immer, sie hatte mir eine Gestalt geben wollen wie ihren Enkeln. Damit ich über meine Familienmitglieder wandern und dort alles Dasein erkunden konnte, das es gab mitsamt jedweder kleinen Besonderheit und Nuance.

Danach bin ich immer wieder, so oft es mir möglich war, zurück zu ihr um von allem, was ich gesehen und erlebt hatte, zu berichten. Sie war so unglaublich neugierig.«

»Das hast du eindeutig von ihr geerbt«, unterbrach sie Lesandor trocken.

Arin lächelte und antwortete: »Ja, das war unsere größte Gemeinsamkeit, der ich wohl meine Existenz verdanke. Und auf diese Art verbrachte ich eine lange Zeit und entdeckte so viele fantastische Dinge. Bis ich dachte, ich kenne schon alles, die unbarmherzigste Grausamkeit genauso wie die unvorstellbarste Schönheit allen Seins.

Freilich hatte ich mich getäuscht, wie mir schnell auffiel, nachdem meine Familie gestorben war und ich die Erde zum ersten Mal hörte.«

***

Hoher Rat Holmbrok hielt zur Erbauung der anwesenden Ratsdiener eine Predigt. Er zelebrierte sie laut und mit weit ausgebreiteten Armen. Erst nach einer dreiviertel Stunde kam er zum Ende.

»Oh, gepriesener Herr Marandeus, flehentlich bitten wir dich, als unterwürfigste Diener, um all deine Kraft und deinen Segen!«

»Wir bitten um deine Kraft und deinen Segen«, antworteten die versammelten Beamten – hauptsächlich Techniker, Überwacher und Soldaten – inbrünstig.

Daraufhin schwiegen alle abrupt und eine Minute des in sich Gehens folgte. Schließlich unterbrach Deggard ihre stille Andacht.

»Gehen wir wieder gestärkt an unsere heiligen Pflichten. Auf das unsere Anstrengungen möglichst bald mit Erfolg belohnt werden!«

Ein geordnetes Chaos entstand, als sich die anwesenden Gläubigen umgehend an ihre Arbeitsplätze begaben, um die ihnen von Gott gestellten Aufgaben zu erfüllen. Deggard war zufrieden, denn er wusste, dass jeder Einzelne sein Möglichstes tun würde.

»Gilrathi!«, rief er dann laut in den Tumult.

Anschließend ließ er ein weiteres Mal seine gelungene Rede, wie er sie persönlich bewertete, an sich vorüberziehen und wartete befriedigt auf seinen persönlichen Assistenten. Der kleine, rundliche Mann kam wenige Augenblicke nach seinem Ruf herbeigeeilt.

»Eine ausgezeichnete Ansprache, Herr. Ich wurde förmlich überwältigt«, versicherte der Ratsdiener hastig, eifrig um seine Gunst bemüht.

»Danke, Gilrathi.«

Elwor verbeugte sich kurz. »Mittlerweile sind auch alle Drohnen an ihren Positionen angekommen, Herr. Ihren Wünschen und Befehlen konnte zu guter Letzt entsprochen werden.«

»Ausgezeichnet, mein lieber Gilrathi. Ich bin sehr zufrieden.«

Der Beamte nickte ergeben und ausgesprochen glücklich über das Lob seines Vorgesetzten. Danach fiel ihm sofort ein, welche Nachricht er gerade erhalten hatte. Bestimmt würde es den Hohen Rat außerordentlich interessieren.

»Noch etwas, Herr. Die Holoübertragung des Verhörs von Alphabegabter Nolder ist nun komplett vom Zentralrechner übermittelt worden.«

»Endlich, die habe ich bereits dringend erwartet. Bereiten sie mir den Holoraum vor.«

»Befehl wird sogleich ausgeführt, Herr!«

***

»Wie bitte? Du hast die Erde, unseren Heimatplaneten, einfach so gehört? Was hat er denn gesagt?«

Als Lesandor einen kurzen Augenblick darüber nachdachte, kam ihn Folgendes in den Sinn.

»Was haben Welten eigentlich überhaupt mitzuteilen?«

Auf jeden Fall war er hingerissen und absolut fasziniert. Seine seltsamen Theorien hatten sich letztlich immerhin als wahr erwiesen. Endlich weiß ich es sicher und brauche nicht mehr bloß zu spekulieren, frohlockte er innerlich, weil ein kleiner, feuerroter, irgendwie sehr menschlicher Stern hier vor seinen Augen saß und ihm gerade erklärt hatte, dass ihr Planet lebendig war. Ihre so beiläufige Bestätigung war zweifellos unglaublich.

»Ach, weißt du, manche von ihnen sehr viel«, antwortete Arin knapp, ging aber momentan noch nicht weiter auf seine erste Frage ein.

»Du sagst also, dass gewisse Himmelskörper – im All treibende Gesteinsbrocken und brennende Gasgebilde – eine Art von eigener Intelligenz und ein Bewusstsein entwickelt haben? Dass sie außerdem anfingen, gezielt Leben zu erschaffen?«

Rali war schlicht fassungslos. Es widersprach ihrem eigenen, vom Glauben an Marandeus geprägten Weltbild wirklich vollständig. Hatte etwa doch nicht Gott ihre Existenz gestaltet?

»Ja, einige von ihnen leben und haben dieses Geschenk auch weiter gegeben.«

Arin sah bei ihren Worten verlegen aus, so als ob es ihr zuwider wäre, die Wahrheit auszusprechen und die tiefsten Überzeugungen eines ganzen Lebens zu zerstören.

Zum Glück nicht meine, überlegte Thalen und warf einen kurzen Blick zu der Alphabegabten, die es jedoch ganz gut aufzunehmen schien. Sie schmunzelte sogar.

»Was hast du nun von der Erde gehört? Was genau sagte unser Planet?«

Lesandor musste jetzt unbedingt wissen, welche Nachrichten das Sternenkind dazu veranlasst hatten, sie zu besuchen. Er konnte es gar nicht mehr erwarten und rutschte nervös auf den Polstern herum. Ralissan war ebenfalls ausgesprochen interessiert.

Nachdem sie das zuvor gehörte recht schnell verarbeitet hatte, wollte sie gleichfalls mehr darüber erfahren, da ihre eigene Weltanschauung im Grunde ja nicht zerbrochen war, sondern nur die ihrer Eltern. Dieser anerzogene Glaube war viele einsame Jahre die einzige Verbindung zu ihren Lieben daheim gewesen. Inzwischen bedeutete er ihr absolut nichts mehr. Daher machte es sie unwahrscheinlich neugierig, was Arin ihnen wohl eröffnen wollte. Obwohl die Kleine scheinbar nicht so recht wusste, wie sie fortfahren sollte.

Nein, sie will definitiv nicht weiter erzählen, fiel der Alphabegabten plötzlich auf, als sie das Mädchen genauer musterte.

Die Kleine wollte es tatsächlich nicht. Allerdings hatte sie bereits begonnen und musste es wohl oder übel zu Ende bringen. Das war sie Lesandor schuldig.

»Das Ganze ist jetzt sehr schwierig für mich. Einerseits sollte ich gar nichts mehr dazu sagen. Andererseits bin ich davon überzeugt, dass ihr das Recht habt, alles zu erfahren.«

Sie machte eine kurze Pause, sammelte sich und hoffte, dass beide die Wahrheit einigermaßen gut verkraften würden. Vor allem um Lesandor machte Arin sich ernsthaft Sorgen. Anschließend begann sie mit ihrem Bericht.

»Wisst ihr, das Universum ist eigentlich Musik! Zumindest in der Gegend, wo ich herkomme, treiben die harmonischen Gesänge der Sonnen und lebendigen Welten durch die Dunkelheit. Dabei erhellen sie deren Schwärze fast so, wie das Sternenlicht es tut. Diese Klänge sind unglaublich wohltuend und dermaßen wundervoll.«

Arin stand bei diesen Worten auf, schwebte unerwartet wieder einen halben Meter über den Boden und breitete ihre Arme aus. Danach lauschte sie mit geschlossenen Augen und einem irritierend verklärten Lächeln ihrer Erinnerung. Oder dem Sternenkind gelang es tatsächlich, sie sogar hier unten zu hören.

»Oh, entschuldigt.«

Sie war abermals in die Realität zurückgekehrt und ließ sich sogleich zurück in die Sitzkissen plumpsen.

»Was war bei uns anders? Hat unsere Erde etwa nicht gesungen?«

Lesandor wollte Arin endlich zum Weitersprechen bewegen und erfahren, was hier geschah. Obwohl er deutlich spürte, dass die Kleine ganz und gar nicht begeistert davon war. Unerwartet hastig sprudelte es dann unaufhaltsam aus ihr hervor. Das Mädchen wollte es schließlich hinter sich bringen.

»Sie schrie ihre Pein heraus! Kreischte vor unerträglichen Schmerzen und unbeschreiblichen Qualen. Eure Erde lag im Sterben. Gleichwohl kämpfte sie weiterhin verzweifelt.«

Doch diese Disharmonien schienen sich tief in Arin eingebrannt zu haben. Deshalb verschloss sie unnötigerweise dennoch ganz automatisch ihre Ohren mit den Händen. Ganz so, als ob sie versuchte, dieses ausschließlich von ihr gehörte beispiellose Leid von sich abzuhalten, welches weiter als unauslöschliche Erinnerung in ihr nachklang.

Umgehend begann sie schrecklich zu weinen und flüsterte die nächsten Sätze fast unverständlich leise. »Ich wollte helfen und habe mich sofort auf den Weg gemacht. So schnell es ging, flog ich ihrem mitleiderregenden Brüllen entgegen.«

Daraufhin umarmte Arin ihren total geschockten Freund und drückte ihn ganz fest an sich.

»Als ich hier angekommen bin, war die Erde – eure Mutter und Heimat – bereits gestorben.«

Alles Blut wich aus Lesandors Gesicht. Bleich und starr sah er Arin fassungslos an. Sein verständliches Entsetzen hatte all die anfänglich gute Laune, seine aufkeimende Euphorie einfach weggewischt und sie durch kaltes, unendlich tiefes Grauen ersetzt.

»Wann? Wie lange ist das Ganze jetzt her?«

»Sie ist vor circa zehn Jahren gestorben. Ihr persönlich konntet also gar nichts dafür«, rutschte es Arin heraus, ohne großartig darüber nachzudenken.

»Jetzt verstehe ich diese Gefühle endlich, die damals in dem Gewächshaus von den Pflanzen in mich übertragen wurden. Ich habe es mir keineswegs eingebildet, bloß nie richtig verstanden. Sie haben es gewusst und schlicht getrauert.«

Lesandor sprach eigentlich zu sich selbst, weil er die anderen momentan gar nicht bemerkte. Ralissan wiederum, die keineswegs so bestürzt war wie er, da der Tod für sie etwas ganz Normales geworden war, bildete sich kurz ein, es zu hören. Dies leise Klirren, mit dem Thalen innerlich zerbrach.

Ihr Mitgefühl brachte sie fast zum Schluchzen. Diszipliniert und eisern unerdrückte sie jedoch ihre Traurigkeit, so wie sie es in ihrer jahrelangen Ausbildung gelernt hatte.

Niemals Empfindungen zeigen, denn sie bedeuten und sind schlicht Schwäche, dröhnte es noch immer laut in ihrem Kopf.

Diese, von den Lehrherren gebetsmühlenartig wiederholte Aussage, erfüllte sie trotz allem zutiefst und es gelang Nolder diesmal irgendwie nicht, sie zu ignorieren. So sehr sie sich das auch wünschte.

Du hast es vorhin jedenfalls geschafft und seine Hände vor lauter Dankbarkeit fest umschlossen, hallte es überaus wütend durch ihren Geist.

Indessen nutzte sie ihre Chance nicht, ihn diesmal stattdessen zu trösten. Derweil erhob sich Lesandor, ging in eine Ecke des Raums, wo er einige verschmorte Kissen beiseite warf und eine kleine Schleuse im Boden freilegte.

»Ich habe Hunger. Ihr ebenso? Es ist schon Ewigkeiten her, dass ich etwas gegessen habe. Hoffentlich ist überhaupt was übrig geblieben.«

Nachdem Thalen sie dann mit einiger Anstrengung geöffnet hatte, beugte er sich tief hinein. Eine Zeit lang kramend schien er zu guter Letzt das Richtige gefunden zu haben. Nacheinander holte Lesandor ein paar Dosen ohne Etikett, etliche Plastikflaschen mit Wasser und zwei Tafeln leicht zerknautschter Schokolade heraus.

»Ah, sehr gut, keiner hat dich mitgenommen!«

Als sie das hörte, schrillten bei der Alphabegabten die Alarmglocken. Er hatte dort drinnen hoffentlich keine Waffe deponiert! Aber als der junge Mann wieder auftauchte, hielt er nur ein kleines Kästchen in der Hand, das er schüttelte und danach zufrieden lächelnd in seine Hosentasche steckte.

Kurz darauf setzte er sich zurück an seinen Platz und stellte seine Funde vor sich ab. Hinterher sah er Arin fragend an.

»Könntest du uns den Inhalt der Dosen erhitzen? Diese Pampe schmeckt warm eindeutig besser.«

***

Hoher Rat Holmbrok sah sich zum wiederholten Male die Holoaufzeichnung des letzten Verhörs seiner besten Alphabegabten an. Einer Frau, die bis vor Kurzem noch sein vollstes Vertrauen genossen hatte. Genau das machte ihren Verrat auch so bitter.

Er ließ die Ereignisse in Originalgröße in den Holoraum projizieren. Die Stadtkarte war im Moment ausgeschaltet, stand aber bereit, bei wichtigen Vorfällen jederzeit zu unterbrechen. Anschließend nahm er neuerlich jedes Detail genauso wissbegierig in sich auf, als ob es das erste Mal wäre.

Dabei wurde Deggard abermals aufrichtig von diesen vor ihm ablaufenden Szenen schockiert, da er einfach keine Erklärung dafür finden konnte, warum ihr formidables Psyverhör so jäh aus dem Ruder gelaufen war. Holmbrok studierte erneut eingehend die Schlüsselszene der Holoaufnahmen.

Er sah wiederum dabei zu, wie seine Psybegabte nach einer ungewöhnlich langen Pause einfach zitternd aufstand und eine psychische Verbindung zu dem Gefangenen aufnahm, danach vor ihm zusammenbrach, sich ihren geweihten Helm vom Kopf riss und zu weinen begann. Sie hatte Empfindungen und Gefühle gezeigt – sich einfach grundlos preisgegeben.

Ein unverzeihlicher Fehler, der es erforderlich machte, die Ausbildungsmethoden und Ziele seines Psychors ein weiteres Mal gründlich unter die Lupe zu nehmen. Solche Vergehen durften einfach nie wieder vorkommen.

Nein, es ist wirklich unverzeihlich, was meine Alpha hier verbricht, schoss es ihm durch den Sinn, denn ihre Psybegabten mussten uneingeschränkt funktionieren und darum selbstverständlich stets ihre Befehle ausführen. Ralissan Nolder tat dies offensichtlich nicht mehr.

Er betete zu seinem Gott, dass diese eine Fehlgeleitete die einzige Ausnahme war, und schüttelte weiterhin fassungslos sein Haupt. Ihm lief ein kalter Schauer über den Rücken, wenn er bloß daran dachte, dass ihr ganzes, überaus effizientes Regierungssystem mittlerweile von den Talentierten abhängig war. Sie hatten sich in all den Jahren dazu verleiten lassen, immer stärker auf die psychischen Kräfte einzelner zu vertrauen.

Es hatte jedoch so gut funktioniert und die Methoden zur Überwachung der Massen waren andauernd vollkommener geworden, bis hin zur Perfektion. Ihre Erfolge in allen Bereichen – wie die Ausrottung der meisten asozialen, ketzerischen Elemente oder die Exekution regimefeindlicher Terroristen vor der Ausführung ihrer Tat – gaben ihnen einfach recht.

Marandeus auserwählte Rasse führte ein gottesfürchtiges Leben im zufriedenen Wohlstand und unter dem Schutz ihrer frommen, von Gott auserkorenen Führer. Deggard betrachtete jetzt abermals, wie der Gefangene ungeschickt Trost zu geben versuchte.

Dabei ähnelte er einem Priester, der einer armen Sünderin ihre Taten vergab. Sie dadurch freisprach, um ihr so in ein neues Leben zu verhelfen.

Unsinn, tadelte er sich sofort bei diesem äußerst bizarren Gedanken.

Dann lief lediglich ihr eiliges Abschlussgespräch ab, das nicht gerade sehr relevant war. Zuletzt die kurze Sequenz mit dem Loch, das unerwartet unter den zwei Wächtern entstand und sie in die Tiefe stürzen ließ. Der Widersacher war unerwartet mächtig. Eine viel größere Gefahr, als er zunächst angenommen und natürlich erhofft hatte.

Das fremdartige Ding fasste Ralissan – welch schändlicher Treuebruch – und den Gefangenen unter die Arme. Daraufhin verschwand es augenblicklich mit ihnen. Die Aufzeichnung stoppte an dieser Stelle, fing aber sofort an, sich nochmals neu zu laden. Doch Deggard beendete es rechtzeitig, weil er genug erfahren hatte.

Ohne weitere Verzögerung ließ er gleich darauf die Stadtkarte öffnen und wartete geduldig auf seine Chance.

***

Die drei Flüchtlinge ließen ihr Abendessen mit der Schokolade ausklingen, deren Geschmack dem Mädchen von den Dingen, die sie gerade zu sich genommen hatten, am meisten zusagte. Normalerweise aß sie zwar gar nicht auf diese Art, sondern bezog ihre Kräfte rein aus den wirklich alles durchdringenden Strahlungen der Sonnen, aber da sie im Mund dennoch Geschmacksrezeptoren besaß und auch eine Art von Magen – der eher ein reiner Verbrennungsofen war – ihr eigen nannte, hatte sie neugierig etwas von jedem Dosengericht probiert. Nur von der süßen braunen Tafel nahm sie ein zweites Mal, obwohl sie etwas mitgenommen wirkte.

»Wie kommt es eigentlich, dass du noch brauchbare Lebensmittel gefunden hast?«, fragte Rali, die ebenfalls gerade ein kleines Stück davon verspeiste. »Die Studentenproteste sind doch bereits vor fünf Jahren offiziell für beendet erklärt worden.«

»Ja, ja, ich weiß. Inzwischen treffe ich mich hier regelmäßig mit ein paar Freunden. Bestimmt ein-, zweimal die Woche. Wir quatschen dann ein bisschen über alte Zeiten und manchmal bleiben wir natürlich etwas länger. Da haben wir uns angewöhnt, immer etwas Essbares und natürlich Getränke zu lagern.« Bei diesen Worten griff er sich plötzlich in die Hosentasche und holte das Kästchen hervor.

»Selbstverständlich verabreden wir uns zusätzlich immer wegen dem, was in dieser kleinen Kiste steckt!« Lesandor öffnete sie und augenblicklich erfüllte der angenehme Geruch getrockneter Pflanzenblüten den Raum, den Ralissan zunächst nicht einordnen konnte. Obwohl er ihr sicher bekannt war. Kurz darauf klassifizierte sie ihn ganz automatisch.

»Getrocknete Blütenstauden der Gattung Sonnenfächer. Angebaut und geerntet auf Shyr Velengar, 3. Planet des Reiches, verbotene Substanz. Mindestens fünf Jahre Freiheitsentzug – Todesurteil möglich.«

Thalen und Arin sahen sie überrascht an.

»Entschuldigt bitte, das war wohl gerade so etwas wie ein Reflex.«

Zusätzlich befand sich ein kegelförmiges ausgehöhltes Keramikgefäß darin, in das sich Lesandor sofort einiges von dem Kraut stopfte.

»Deswegen haben wir es ja ausschließlich hier zu uns genommen. Nirgendwo sonst.«

Außerdem ein Feuerzeug, mit dem er nun die Blüten in dem seltsamen Behältnis entzündete. Nachdem es brannte, inhalierte er den ersten Zug, so tief er konnte. Im Grunde hatte er schon länger nicht mehr an das Rauchen gedacht und es bisher nicht einmal großartig vermisst. Jetzt aber genoss er es ausgiebig.

Sofort spürte er die angenehme Wirkung des Rauschmittels, das ihn auf der Stelle beruhigte und den erst vor kurzem erlebten Schrecken besser verarbeiten ließ. Gleichzeitig löste es umgehend seine Verspannungen.

»Ja, genau das habe ich jetzt gebraucht. Sonnenfächerblüten sind wirklich das Richtige, wenn es einem schlecht geht.«

Er schloss kurz seine Augen, machte es sich auf den verbliebenen Polstern gleich etwas bequemer und sah schließlich die Beiden entschuldigend an.

»Oh, wie unhöflich von mir. Wollt ihr vielleicht einmal ziehen?«

Er streckte das qualmende Ding zuerst Rali entgegen, die es indessen ablehnte.

»Nein, ich brauche jetzt einen klaren Kopf. Vielleicht ein anderes Mal.«

Dann wollte er es Arin geben, die Thalen schon die ganze Zeit äußerst wissbegierig beobachtet hatte.

»Moment mal, wie alt bist du eigentlich, Sternenkind? Ich kann schließlich keine Minderjährige zum gefährlichen Drogenkonsum verführen.«

Er grinste sie liebenswürdig an. »Es würde mich irgendwie wirklich interessieren, Arin. Verrätst du es uns?«

Sie dachte kurz darüber nach.

»Es wird sich zwar in euren Ohren absolut unglaubwürdig anhören, nichtsdestoweniger bin ich knappe zehn Millionen Jahre jung.«

Lesandor hustete überrascht Rauch aus, während Nolder sie gänzlich verblüfft anstarrte.

»Hm, ich glaube, das sind definitiv genug Lebensjahre. Also, wenn du möchtest?«

Sie nahm den Kegel vorsichtig und kostete ihn kurz jedoch genauso aufmerksam wie alles andere zuvor. Ohne Verzögerung stiegen ihr dabei die Wirkstoffe des Sonnenfächers wohlig zu Kopf, in dem sie erst richtig zur Geltung kamen. Folglich lösten sie unvermittelt eine angenehme Schwere aus, die umgehend ihre Wahrnehmung stark intensivierte.

Danach ließ sie die verbrauchte Wolke langsam aus sich herausströmen. Um kurzerhand abermals genüsslich daran zu ziehen, nur um den Geschmack nie wieder zu vergessen, und gab es schließlich Lesandor zurück. Diese Erfahrung war jedenfalls noch besser gewesen als die Süßigkeit vorher.

»Und du bist wirklich zehn Millionen Jahre alt? Ich kann das einfach nicht glauben.«

»Tja, es ist dennoch die Wahrheit. Vielleicht ist es leichter zu verstehen, wenn du an meine Mutter denkst. Sie hatte über zehn Milliarden zufriedener Jahre hinter sich, bevor sie starb.«

Fortsetzung folgt …

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