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Der Schneemann

Georg Keil
Der Schneemann
Ein Märchen

Ach! Es war so herrlich draußen im Garten! Der Schnee lag fast eine halbe Elle hoch. Die Sonne schien so hell und klar, alles glänzte und blitzte wie lauter Edelgestein. Die Luft glitzerte und funkelte, als ob jemand Diamantstaub hineingestreut hätte. Die Äste der Äpfel- und Birnbäume waren wie mit Zuckerkant überzogen, man hätte sich gleich einen Zuckerstängel abbrechen und aufessen mögen. Die Zweige der Tannen und Fichten hatten weiße Röcke und Pelze angezogen von Schnee, der großen Kälte wegen. Jeder Rosenpfahl hatte ein weißes Mützchen aufgesetzt, damit er nicht so fröre. Das stand ihm so niedlich. Ach! Das war so wunderherrlich!

Paul und Arthur liefen hinaus. Sie sprangen so gern im weichen Schnee herum, jagten sich und lachten einander aus, wenn einer in den tiefen Schnee fiel und so weiß aussah wie ein Müllerknecht. Auch der Spitz sprang mit herum, wälzte sich, bellte vor Freude und kratzte mit den Füßen, sodass der Schnee weit herumstob. »Ach! Wer doch auch ein Hund wäre, dass man sich so wälzen könnte!«, sagte Paul.

Sie holten die kleine Schwester Lili heraus, packten sie in warme Tücher ein, setzten sie in den kleinen Schlitten und spannten sich vor, wie ein Paar Pferde. Trapp! Trapp! Nun ging es fort im Galopp. Voraus sprang der Spitz und bellte. Sie fuhren durch alle Gänge kreuz und quer, zwischen allen Rabatten her und hin. Lili erschrak und schrie, wenn eine Krähe von einer hohen Fichte herab einen großen Schneeball auf sie warf, der sie über und über mit Schnee bedeckte. Aber die Brüder lachten sie aus, und auch die Krähen oben lachten: Krah! Krah!

»Nun bin ich müde!«, sprach endlich Paul.

Arthur sagte: »Und mich friert es an die Finger!«

Sie hoben die kleine Schwester aus dem Schlittchen und führten sie hinein in die warme Stube. Die beiden Knaben liefen aber wieder hinaus, sie konnten nicht in der Stube bleiben. Sie rieben die Hände mit Schnee, da wurden sie so warm und rot, als ob sie diese an den Ofen gehalten hätten. Dann ging es wieder los. Sie machten nun Schneebälle und bewarfen sich einander. Sie hullerten einen Ball auf dem Schnee hin, er wurde immer größer und größer, sodass sie ihn zuletzt gar nicht mehr fortwälzen konnten, so groß und schwer war er geworden.

»Nun lass uns einen Schneemann machen!«, sagte Paul zu seinem Bruder.

»Ja, ja! Einen Schneemann, einen Schneemann!«. jubelte Arthur.

So wälzten sie große Bälle und setzten einen auf den anderen. Als sie nicht mehr hinaufreichen konnten, stellten sie sich auf einen Stuhl, hoben einen großen Ball hinauf und setzten ihn als Kopf oben auf den Rumpf. Dann drückten sie statt der Augen ein paar schwarze Kohlen hinein, statt des Mundes einen breiten roten Ziegelstein und in die Hand gaben sie ihm einen dicken Stock. So war der Schneemann fertig. Er stand gerade vor dem Stubenfenster und es sah aus, als ob er in die Stube hineinsehen wollte.

Die kleine Lili erblickte ihn ganz nahe vor sich, als sie an das Fenster trat.

»Ei! Der große prächtige Mann!«, rief sie aus und klatschte in die kleinen Hände. Es war so, als ob der Schneemann mit seinem breiten Mund lächelte, als ihn Lili so lobte.

Am folgenden Tage putzten die beiden Knaben ihren Schneemann noch mehr heraus. Sie malten ihm rote Backen mit dem Saft von Holunderbeeren, die sie von den kahlen Sträuchern herabrissen, damit er nicht so bleich aussehen sollte, und setzten ihm einen alten Strohhut auf den Kopf, auf den sie ein grünes Tannenreis steckten. Dann drückten sie rote Hagebutten in seinen weißen Schneerock statt der Knöpfe. Nun sah er erst wie was Rechtes aus. Lili hatte ihn so lieb, dass sie gar nicht vom Fenster wegging. Auch die beiden Brüder hatten ihre wahre Freude an ihm. Sie sprangen und tanzten um ihn herum und sangen:

Schneemann, Schneemann kreideweiß,
mit dem grünen Tannenreis,
sieh doch nicht so dusslig drein,
tanz mit uns den Ringelreih’n!
steh doch nicht so dummlich da!
Trallala! Trallala!

Er blieb aber ganz ernsthaft, regte und rührte sich nicht. Das würde sich auch gar nicht für ihn geschickt haben.

Es war von Neuem Schnee gefallen. So sah der Rock des Mannes so flockig aus, wie ein Bärenpelz.

Der eine Knabe sagte zu ihm: »Nun bist du von außen gut verwahrt, und wir müssen sorgen, dass du auch etwas Warmes in den Leib bekommst.«

So sagte er und gab ihm eine kleine Tonpfeife in den Mund, in die er ein glimmendes Räucherkerzchen gestellt hatte, welches dampfte und gerade so aussah, als ob er eine Pfeife Tabak rauchte.

Das war nun eine neue Lust; aber nach einigen Tagen waren die Knaben seiner überdrüssig.

»Nun wollen wir ihn bombardieren!«, sagte Arthur.

Sie machten eine Menge Schneebälle und fingen an nach ihm zu werfen, und sangen dazu:

Schneemann, o du feiger Wicht!
Bist so groß, und wehrst dich nicht!
O du kalter Block,
brauche deinen Stock,
wehr dich deiner Haut!
Hussa! Aufgeschaut!”

Und nun flogen die Schneeballen gleich Kugeln auf ihn los: Piff! Paff! Sie wollten ihn zu Tode werfen.

Ein Glück war es für den Schneemann, dass Lili dazukam.

»O, lasst doch den armen Mann leben!«, rief sie ihren Brüdern zu. Sie weinte und bat so lange für ihn, bis die Brüder abließen vom Werfen und ihr denselben schenkten.

»Nun soll er aber auch dein Mann sein«, sagten die Brüder, »und du sollst ihn heiraten!«

»Ja, wenn ich groß wäre!«, seufzte Lili und nickte dem Schneemann zu.

Die beiden Knaben liefen nun hinaus auf den Fluss, der da am Garten vorbeifloss und fest zugefroren war. Er war so blank wie ein Spiegel. Da schlitterten sie auf dem Eis, wie es die Knaben zu tun pflegen, und bekümmerten sich gar nicht mehr um den Schneemann.

Lili aber blieb ihm treu und kam an jedem Tag heraus, ihm einen Besuch zu machen.

»Du musst aber recht frieren, du armer Mann! Es ist heute so kalt!«, sagte sie einmal zu ihm.

»Ach nein, verehrteste Demoiselle!«, antwortete der Schneemann, »äußerlich friere ich gar nicht. Sehen Sie nur meinen dicken Pelz, aber innerlich bin ich so kalt, hu, hu! Ich werde nur ein bisschen warm, wenn ich Sie sehe, meine werteste Demoiselle!«

»Aber warum nennst du mich denn Sie?«, sagte Lili, »ich bin ja nur noch ein kleines Kind.«

»Werden schon groß werden, verehrteste Demoiselle!«, erwiderte der Schneemann. »Ich kenne meine Schuldigkeit! Habe Ihnen auch so noch nicht gedankt, dass Sie mir das Leben gerettet haben, als die wilden Knaben mich zu Tode werfen wollten.«

»Das werden sie nicht mehr tun!«, sagte Lili. »Du gehörst jetzt mir und bist ja mein Mann. Ach! Wenn ich doch groß wäre! Aber wirst du denn nicht müde von dem langen Stehen, und hungrig?«

»Ich stütze mich auf meinen dicken Stock«, entgegnete der Schneemann, »und was das Hungern betrifft, meine werteste Demoiselle, sehen Sie, ich bin ein genügsamer Mann und nehme mit wenigem vorlieb. Knapp geht es freilich her!«

»Lili! Lili!«, rief nun die Mutter.

Lili sprang fort, nachdem sie ihrem lieben Schneemann noch zugerufen hatte: »Sei ohne Sorgen! Ich werde dir täglich etwas zu essen bringen!«

Und sie hielt Wort. Sie teilte ihr Frühstück und ihr Vesperbrot mit ihm. Auch ihre Puppen bekamen von nun an nur halbe Portionen. Sie legte alles auf ein Tellerchen und stellte es vor den Schneemann hin. Und wenn sie ihm am folgenden Tag ihren Besuch machte, war das Tellerchen leer. Sie dachte, es habe ihrem lieben Schneemann recht gut geschmeckt.

Im Grunde führte aber der arme Schneemann ein recht trauriges und langweiliges Leben. Er stand immer so einsam da bei Tag und bei Nacht.

Die beiden Knaben, die sonst um ihn herum gespielt und getanzt hatten, ließen sich nicht mehr sehen. Auch die kleine Lili kam nur auf Augenblicke heraus, da es so kalt geworden war. Am häufigsten besuchte ihn noch der Spitz. Der knurrte und bellte auch nicht mehr, wie er es früher getan hatte, wenn er in seine Nähe kam. Mit einem Hund lässt sich aber nicht viel Vernünftiges sprechen. So war der Schneemann fast immer allein.

Aber des Nachts, ach! Da war es noch viel schlimmer! Es gehörte auch viel Mut dazu, so allein im Garten während der langen dunklen Nächte zu stehen. Es war so gruselig in der Einsamkeit, und der arme Schneemann konnte oft vor Furcht kein Auge zumachen. Er zitterte und bebte, wenn ein Ast knackte oder ein Schneeklumpen von dem Gipfel eines Baumes herabfiel. Kam endlich der Morgen, so ging seine Not erst recht an. Es kamen die Krähen herbeigeflogen, fraßen ihm sein Frühstück weg und wollten ihm seine schwarzen Augen aushacken. Er konnte sich ihrer kaum erwehren.

»Mein wertester Herr Spitz«, sagte er einmal zum Hund, »wenn Sie nur so gut wären und hier bei mir blieben während der Nacht, wo es so einsam und schauerlich ist, und des Morgens die Krähen wegjagten, die mein Frühstück stehlen und mir die Augen aushacken wollen!«

Der Spitz lachte und sagte: »Bist so groß wie ein Riese, und fürchtest dich vor den elenden kleinen Krähen! Hast wohl gar kein Herz im Leib! «

»Uf!«, seufzte der Schneemann.

Der Spitz fuhr fort: »Das geht nicht an! Während der Nacht muss ich drinnen bleiben und das Haus bewachen, aber die Krähen wollen wir bald los sein!«

Nun kam der Spitz an jedem Morgen, so wie es Tag wurde. Die Krähen wagten es gar nicht mehr, das Frühstück anzurühren, welches der Hund nun selbst fraß.

In einer Nacht hatte der Schneemann einen recht großen Schreck, der ihm durch alle Glieder fuhr. Es raschelte und knitterte und schrapte dicht neben ihm. Er konnte aber gar nicht erkennen, was es war, da eine dicke Wolke gerade vor dem Mond stand. Gern wäre er davongelaufen, wenn er nicht dazu zu schwerfällig gewesen wäre. So musste er aushalten, bis die Wolke vorübergezogen war. Da erblickte er denn zu seinem großen Schrecken gerade vor sich ein paar Spieße, die sich zu ihm emporrichteten, als wollten sie ihm zu Leibe.

»Hilfe! Hilfe!«, schrie nun der Schneemann in seiner Angst und wagte noch einen verstohlenen Blick nach den schrecklichen Spießen, die sich vor ihm bewegten. Er sah nun, dass es ein Paar lange Ohren waren. Die Ohren gehörten aber einem Häschen, das da in dem Beet saß und den Kohl aus dem Schnee herausscharrte. Beide, der Schneemann und das Häschen, standen ganz nahe einander gegenüber. Beide zitterten und bebten voreinander.

Das Häschen erholte sich zuerst und sagte: »Ach! Tun Sie mir nichts, lieber Herr! Draußen auf dem Feld liegt so tiefer Schnee, dass ich kein Hälmchen Gras mehr finden kann. Schon drei Tage lang habe ich gehungert und bin über das Eis in den Garten hereingekommen, um ein wenig an den Kohlstrünken zu knappern. Ich will es aber in meinem ganzen Leben nicht wieder tun!«

Der Schneemann, der nun wieder Mut bekam und ein sehr weiches Gemüt hatte, antwortete darauf: »Nun, so iss dich einmal satt, du armer Schelm; aber komme mir ja nicht wieder, das rate ich dir!«

Die einzige Freude, die der arme Schneemann hatte, war des Abends, wenn in der Stube Licht angezündet wurde. Da konnte er zum Fenster hineinsehen bis hinten an die Stubenwand, wo die kleine Lili mit ihren Puppen spielte, und dann seufzte er immer: »Ach, wäre ich doch drinnen bei ihr!«

Bald kam aber das Stubenmädchen und machte den Fensterladen zu, da war die Freude zu Ende.

Es war nun so kalt geworden, dass Lili gar nicht mehr hinaus durfte. Die Fenster waren dick zugefroren. So konnte sie ihren lieben Schneemann nicht einmal mehr sehen, und das tat ihr so leid. Sie musste nun beständig mit ihren Puppen spielen, um die sie sich seit Langem gar nicht mehr bekümmert hatte. Die waren aber indessen so unartig geworden, lärmten und schrien so sehr, dass Lili manchmal recht böse wurde.

»Seid gleich still!«, sagte sie dann zu ihnen, »sonst hole ich den Schneemann herein!«

Die Puppen hatten aber eine solche Furcht vor dem großen Schneemann, dass sie gleich mäuschenstill waren.

Einmal war Lili auf den Stuhl gestiegen und hatte ein kleines Loch in das Fenstereis gehaucht und konnte nun durch dasselbe ihren lieben Schneemann einmal wiedersehen. Der stand noch steif und fest und schaute zum Fenster. Der Wind bewegte eben das Tannenreis auf seinem Hut. Es sah gerade so aus, als ob er Lili zunickte. Da freute sie sich so sehr, dass er sie nicht vergessen hatte.

»Mama«, sagte sie zur Mutter, »erlaubst du nicht, dass ich den Schneemann hereinbringen lasse, in die warme Stube, da ich nicht hinausdarf?«

»Das geht nicht, liebes Kind«, antwortete die Mutter, »hier ist es zu warm für ihn, er würde schmelzen und die ganze Stube vom Wasser überfließen!«

Da musste Lili sich schon zufriedengeben und warten, bis es draußen wärmer wurde.

Und es wurde wärmer! Der Frühling kam und schon war aller Schnee im Garten geschmolzen. Aber der Schneemann stand noch stramm und steif vor dem Fenster auf dem grünen Rasen.

»Wie geht es dir denn?«, fragte ihn Lili, als sie zum ersten Mal wieder hinauslaufen durfte. »Nun besuche ich dich alle Tage. Sei nur recht lustig! Bald kommen nun die Blumen aus der Erde und die Blätter aus den Bäumen. Da will ich dir einen prächtigen Kranz flechten. Du kannst auch deinen Pelz ablegen, damit er dir nicht zu warm wird. Dann gehen wir miteinander spazieren in den grünen Wald, das wird herrlich sein!«

»Uf!«, seufzte der Schneemann. Der Schweiß stand ihm dabei in dicken Tropfen auf der Stirn. Die hellen Tränen liefen ihm aus den Augen am Pelz herab. Es war Tauwetter.

Der arme Schneemann musste recht krank sein. Er hatte wohl die Auszehrung, denn er wurde von Tag zu Tage magerer und kleiner und schrumpfte immer mehr zusammen. Er war jetzt nur noch so groß wie die kleine Lili und stand ihr Auge gegen Auge gegenüber. Er sah sie so starr mit seinen großen schwarzen Augen an, die nicht kleiner geworden waren, dass es ihr ordentlich bange wurde.

»Mann«, sagte Lili zu ihm, »du musst mich nicht so anglotzen, sonst fürchte ich mich!«

»Krick! Krack!«, erscholl es nun vom Fluss her. Es rollte wie ein anhaltender Donnerschlag. Das Eis war geborsten.

»Was ist das?«, fragte die zitternde Lili.

»Der Tod!«, ächzte der Schneemann, »nun kommt er zu mir!« Dabei rollten seine Augen und sein breiter Mund zog sich ganz schief. Er warf seinen Stock weg und neigte sich auf die Seite.

Die kleine Lili erfasste ein solches Grauen, dass sie schreiend davonlief.

Am folgenden Morgen war der Schneemann verschwunden und es lag nur noch ein kleines Häufchen Schnee auf dem Platz, wo er gestanden hatte. Aber aus dem Schnee streckte ein Schneeblümchen seine weißen Glöckchen und grünen Blätter hervor. Das wartete und pflegte Lili und dachte dabei an ihren lieben Schneemann.