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Der Welt-Detektiv Band 6

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Die Wurzelprinzessin – Drittes Kapitel

Die Wurzelprinzessin
Ein Märchen

Drittes Kapitel

Der Wunderbach an der Straße. Der herabgestürzte Frachtwagen. Nussknacker und Hampelmann werden lebendig. Die drei Wünsche. Die Kisten voll Nürnberger Spielzeug. Die Wanderratten. Wie Hampelmann ein Volk und eine Armee lebendig macht. Schlacht gegen die Ratten. Huldigung. Der Völkerzug zum Wurzeltal.

Die Straße von Nürnberg nach Leipzig führte zur Zeit unserer Erzählung an einer Stelle neben einer tiefen Schlucht dahin, durch die ein klarer Bach sich hindurchschlängelte. Er kam geraden Weges aus dem Wurzeltal und hatte die wunderbare Eigenschaft, dass alles, was da hineinfiel, sogleich lebendig wurde, wenn es nur vorher schon die Gestalt irgendeines lebenden Wesens gehabt hatte.

Da geschah es eines Tages, dass ein Frachtwagen, der zur Leipziger Messe fuhr und turmhoch voll Kisten und Kasten gepackt war, gerade als er an dieser Schlucht vorüberkam, ein Rad brach und in den Abgrund stürzte. In den Kisten war lauter Nürnberger Spielzeug aller Art und von solcher Menge, dass ein ganzer Jahrmarkt damit ausgestattet werden konnte. Als der arme Fuhrmann den Wagen da unten liegen sah, wo kein Mensch hinzukommen konnte, lief er in die weite Welt. Wer weiß, wo er geblieben ist!

Natürlich waren durch den Sturz des Wagens einige Kisten aufgesprungen und von den Puppen, die da herausfielen, waren ein Nussknacker und ein Hampelmann in den Wunderbach gerollt. Eben wurden sie vom Wasser des Baches nur ein wenig benetzt, so durchdrang auch beide sogleich ein wunderbares Leben. Langsam erhoben sie sich und sahen verwundert einander an.

Nussknacker, schön lackiert mit den glotzenden blauen Augen, dem hölzernen Zopf und dem Stern auf der Brust, stand auf seinen Beinen wie eine Säule da. Hampelmann dagegen in seiner bunten Jacke, mit lachendem Gesicht, schlug Hände und Beine vor Freuden über den Kopf zusammen und hüpfte wie ein Wiedehopf um jenen herum.

Wie diese ersten Lebensregungen in ruhigere Betrachtung übergingen, öffnete Hampelmann zuerst den Mund und sagte: »Großer Prinz! Dass Ihr ein Prinz seid und ich Euer lustiger Rat, das ist klar, denn sonst hättet ihr keinen Stern und ich keine Narrenjacke. Was aber nun anfangen?«

»Diese Frage zu beantworten kommt dir zu, aber nicht mir«, entgegnete Nussknacker, den das Gefühl seiner erhabenen Geburt schon jetzt sehr stolz und nachdenklich gemacht hatte. In den Bart murmelnd, bewegte er seine kräftigen Unterkinnbacken fortwährend auf und nieder und fuhr dann fort: »Lieber Hampelmann! Dass ich, wie du sehr richtig erkannt hast, zu einem großen Mann geboren bin, bestätigen mir außer meinem Stern auch noch drei Wünsche, die soeben in mir aufsteigen. Der erste Wunsch zielt auf ein Gericht guter und feiner Nüsse, denn ich bin bei außerordentlichem Appetit. Der Zweite besteht in der Sehnsucht nach einem treuen Volk und einer glänzenden Armee, denn zum Regieren bin ich nun einmal geboren. Der Dritte endlich geht aus nach einer schönen und reichen Prinzessin, die mir zugleich als Mitgabe ein hübsches Stück Land zubrächte, worin ich in aller Gemächlichkeit mit deiner Hilfe Nüsse essen, regieren und mich belustigen könnte. Deine Pflicht ist es nun, mir zu raten, wie ich diese Wünsche in Erfüllung setzen könnte!«

»Besser Taten als Raten«, rief Hampelmann. »Verlassen Sich Eure Herrlichkeit nur auf meine Lustigkeit. Noch vor Sonnenuntergang sollen Sie sich im Besitz aller dieser Kleinigkeiten befinden, oder ich will nicht mehr Hampelmann heißen und meine Beine nie mehr über meinen Kopf zusammenschlagen können.«

Mit diesen Worten sprang er auf den nächsten Nussbaum und schüttelte, was er konnte. Wie Hagel fielen die köstlichen Nüsse von den Zweigen herab und wurden von dem hungrigen Prinzen mit größter Schnelligkeit verarbeitet, sodass er erst recht aufzuleben begann, als sein Hunger befriedigt war.

Viel schwieriger als der erste Wunsch war der Zweite auszuführen, aber auch dafür wusste Hampelmann Rat. Die umherliegende Ladung des Frachtwagens enthielt ja Volk und Soldaten genug, es kam nur darauf an, die Kisten zu öffnen und all die tausend Puppen, die darin sich befanden, lebendig zu machen. Leider aber waren die Bretter der Kisten so fest aneinandergefügt, dass die Kraft der beiden kleinen Leute nicht ausreichte, sie zu öffnen.

Wie sehr sie sich auch daran abmühten. Alles war umsonst. Da war guter Rat doch teuer! Vor lauter Nachdenken traten dem Nussknacker seine großen Augen schon weit aus dem Kopf hervor, dass sie wie Krebsaugen anzusehen waren. Hampelmann dagegen verlor keinen Augenblick seinen lustigen Mut. Um Hilfe zu erspähen, drehte er sich wie ein Kreisel nach allen Seiten herum. Ehe er es selbst noch dachte, zeigte sich ihm wirklich die ersehnte Hilfe in einer Art, die ans Wunderbare grenzte.

Weithin schienen die braunen Felder, die neben der Schlucht dem Wald gegenüber lagen, auf einmal lebendig zu werden. Ein gewaltiger Zug Wanderratten, die auf einer Reise von Süden nach Norden begriffen waren, zog daher und ging zufällig gerade auf die umherliegenden Kisten los.

»Aus dem Weg, mein Prinz!«, rief Hampelmann, »wenn wir uns nicht selbst wie Haselnüsse wollen auffressen lassen.«

Beide sprangen auf die Seite. Die Ratten, die, wie bekannt, keine Umwege kennen, sondern immer geradeaus, durch Felder und Wälder, über Zäune und Mauern wegspazieren und sich durchbeißen, wo sie nur können, fielen ohne Umstände über die Kisten her. Das frische, junge Fichtenholz der Bretter war ihren scharfen Zähnen ein gefundenes Fressen, ebenso die festen Hanfstricke. Bald hier, bald da fiel ein Deckel, bald hier, bald da sprang ein Strick. Das köstlichste Spielzeug lag in kurzer Zeit bunt durcheinander auf der Straße umher und einzelne Ratten fingen schon an, auch an diesem ihre leidenschaftliche Nagelust zu befriedigen.

Wie Hampelmann das sah, rief er den Ratten zu: »Prost Mahlzeit, ihr Bretterfresser jetzt habt ihr genug!«

Mit einem Satz sprang er in den Bach, schlug Arme und Beine fortwährend über dem Kopf zusammen, dass das Wunderwasser weit umher und auf all die Nussknacker, Hampelmänner und zinnernen und hölzernen Soldaten spritzte, die nun auch davon benetzt, sogleich lebendig wurden und auf ihren Beinchen emporsprangen.

»Immer mir nach! Und macht es wie ich!«, rief Hampelmann fortwährend. »Ein Narr macht viele Narren, ein Kluger viele Kluge!«

Und richtig! Immer neue Puppen lebten auf und erweckten wieder neue zum Leben, die Regimenter fanden sich zusammen, die kleinen Pferde an den kleinen Kanonen erhoben sich und fuhren ihnen nach, die zinnernen Generale stellten sich an die Spitze der Armeen und kommandierten. Im Nu war die Schlachtordnung gegen die Ratten gebildet. Es war aber auch die höchste Zeit, denn schon fielen einige Puppen unter den scharfen Zähnen der garstigen Tiere zu Spänen auseinander. Da erwachte auch im Nussknacker ein wahrhaft großartiger Heldenmut. Seine Augen rollten nach allen Seiten, seine Kinnbacken klapperten vor Kampflust, der hölzerne Zopf begleitete alle Bewegungen seines Mundes mit fürchterlichen Zuckungen! Schnell zog er sein Schwert aus der Scheide und an der Spitze seiner Leibgarde, die ebenfalls Nussknacker, aber ohne Stern, daher auch keine Prinzen waren, führte er das Heer zur Schlacht.

Jetzt kommandierte er Feuer! Sogleich knatterten alle Gewehre und Kanonen der unzähligen Regimenter auf die Ratten los. Erschreckt vom ungewohnten Getöse, ergriffen diese eiligst die Flucht. So wurde der Sieg glänzend errungen. Wo früher umgestürzte Kisten aufgetürmt waren, sah man nun eine neue bunte Welt. Städte und Dörfer, Festungen und Landhäuser, Küchen und Putzstuben lagen über- und untereinander, dazwischen liefen viele Tausende kleiner Menschen und Tiere umher.

Das Erste, was nun geschah, war natürlich, dass Prinz Nussknacker sich von seinem Volk als Fürst huldigen ließ.

Nun war aber die letzte Aufgabe noch zu erfüllen: eine Prinzessin zu finden und mit ihr ein Stück Land zu erwerben, wo die neue Kolonie sich niederlassen könne. Auch dazu fand Hampelmann bald Rat. Einige verwundete und gefangene Ratten mussten auf sein Geheiß von allen Prinzessinnen, die sie auf ihren Wanderungen kennengelernt hatten, Bericht erstatten. Als sie nun auch von der Wurzelprinzessin viel Schönes berichteten, wurde bei ihrer Beschreibung das hölzerne Herz des Fürsten Nussknacker so stark erwärmt, dass ein Ton durch dasselbe fuhr, als wenn eine Diele in einer plötzlich erwärmten Stube zu reißen anfängt. Dieser Ton war ihm ein Zeichen: Nur diese und keine andere Prinzessin dürfe seine Königin werden. Er beschloss daher auf der Stelle mit seinem Volk dorthin zu ziehen und um die Prinzessin zu werben.

Sogleich wurde der Zug geordnet. Als Führer dienten die gefangenen Ratten. Ihnen folgte Reiterei, dann der König mit seinem Hofstaat. Hinter ihm das Geschütz und Fußvolk. Nun kamen Schaukelpferde, über und über mit Schachteln beladen, worin die Städte, Dörfer, Theater, Festungen, Küchen und dergleichen mehr, ebenso das Küchengeschirr und der Hausrat, hinter diesen die kleinen Lastwagen, die blechernen und hölzernen Kutschen ganz mit Passagieren besetzt, dann Fußgänger aller Art, in allen Kleidertrachten von Adam bis auf unsere Zeiten. Ihnen folgten lange Herden von Tieren, groß und klein, aus all den Noahkästen und Menagerien, die auf dem Frachtwagen gewesen waren, erst die zahmen, zuletzt die wilden, Letztere umgeben von zinnernen Beduinen und Tscherkessen, welche aufpassen mussten, dass die kleinen brüllenden Bestien nicht sich selbst oder andere unschuldige Wesen auffräßen. Und zwischen allen diesen Zügen sprangen die Hampelmänner, Harlekine und Ledermätze einher, machten ihre Possen und erhielten das ganze Volk auf dem langen und beschwerlichen Marsch fortwährend bei gutem Mute.

Auch schwammen auf dem Wunderbache an dessen Ufer sie hinzogen, ganze Flotten magnetischer Schiffe, dazwischen die blechernen Schwäne, Enten und Fische. Nun denke man sich diesen unabsehbar langen Zug in dem schönen grünen Wald, zwischen Maiglöckchen, Veilchen und Butterblumen, unter Huflattichblättern, Brennnesseln und Farnkräutern bergauf und bergab marschierend und all das bei funkelndem Sonnenschein unter blauem Himmel, und dazu die Anstrengung und Mühe der kleinen Wichte, das Rädergeknarre, das Peitschengeknalle, das Kommandieren, Musizieren und Singen an guten Stellen, das Ach- und Wehgeschrei auf beschwerlichen Pfaden. Wie zierlich und lustig muss das ausgesehen haben! Da war es wohl sehr natürlich, dass auf dem ganzen Weg, den der Zug machte, die Vögel aus den Sträuchern, die Käfer aus den Blumen, selbst die Regenwürmer und Schnecken aus der Erde neugierig herbeikamen, und dass diese alle doch einen großen Respekt bekamen vor dem König Nussknacker, der ein so blankes Volk beherrschte und sogar auf Reisen führte.

Nach langer Mühe und unsäglichen Anstrengungen langte endlich die Kolone, wie wir schon gelesen haben, bei der großen Nusswiese an.