Heftroman der

Woche

Neueste Kommentare

Archive

Folgt uns auch auf

Die Waldmühle – Kapitel 6

Die Waldmühle
Ein Märchen aus Robert Reinicks Märchen- Lieder- und Geschichtenbuch, 1873
Kapitel 6

Unter diesen Betrachtungen war er mit seinen Begleitern zu einem Felsentor gelangt, durch das sie in ein weites Tal niederstiegen. Ringsum starrten zackige schwarze Felsen hoch in den lichten Nachthimmel, unten breitete sich ein großer Wiesenplan aus, umgeben von Birken und Espen und durchströmt von schlängelnden Bächen. Nebel stiegen dort aus den Wassern auf, flirrten und wehten wie durchsichtige Schleier im Mondlicht. Dann schien es wieder, als wären es schwebende Gestalten, die auf- und niedertauchten. Sie beugten sich, neigten sich und wirbelten dann plötzlich empor in weiten verschlungenen Kreisen.

Nun erscholl ein kriegerischer Marsch, die Nebel und Kreise zerstoben.

Aus mehreren Felsspalten sausten klirrende Reiterregimenter auf den Platz, in dessen Mitte die Richter erschienen, vom General herab bis auf den Gemeinen.

Auf Felsenblöcken nahmen sie feierlich ihre Sitze ein. Der Beklagte wurde vorgeführt, die Sitzung eröffnet.

Ein gemeiner Dragoner trat als Kläger vor. Er hieß Nachtvogel und kein Name hätte passender für ihn sein können. Er war ein ganz kleiner Kerl, in einen weißen Reitermantel wie eine Schmetterlingspuppe eingewickelt. Die Spitzen seines blonden Schnurrbarts streckten sich wie zwei Fühlhörner aus dem dicken Gesicht hervor. Der sagte Folgendes aus: »Gestrenge Richter! Seit letztem Vollmond hatte ich den Posten in der Waldmühle. Da kam dieser gewesene Dragoner und Musketier an. Ich habe gesehen, wie er ohne Weiteres von Haus und Hof Besitz nahm. Ich habe es gesehen, wie er auf Kosten seines Wirtes herrlich und in Freuden gelebt, von seinem Brot gegessen, von seinem Wein getrunken, in seinem Bett geschlafen, aus seinen Pfeifen geraucht hat. Ich habe es gesehen, wie er in letzter Nacht den Müller mit Frau, Kind und Magd unbarmherzig aus dem Hause getrieben hat. Ich habe gesehen, wie er aus des Müllers eigener Pistole den Fliehenden eine Kugel nachgeschossen, die des Müllers unschuldiges Töchterlein zum Tode traf. All dieser Dinge klage ich den Hans Quäckenberger an.«

»Halten zu Gnaden, meine Herren Offiziere!«, rief der Beklagte. »Der ruppige Nachtvogel lügt wie ein Spitzbube!«

»Die Zeugen her!«, befahl der General.

Aus einer Felsenhöhle traten hervor der Esel, die Henne, die Katze und der Kettenhund. Hinter ihnen wurde eine Bahre getragen, die war mit einem Tuch bedeckt, weiß und glänzend wie frisch gefallener Schnee.

»Hier sind die«, sprach der Richter, »die du misshandelt hast. Kannst du deine Taten leugnen?«

»Halten zu Gnaden!«,  erwiderte der Angeklagte. »Wenn dieser faule Esel  ein Müller, diese geizige Kakelhenne eine Frau, wenn diese Nachkatze eine Magd und dieser bissige Köter ein Mühlknecht ist, ja! Dann hat der Spion von Nachtvogel recht gehabt, und Ihr mögt mich richten nach Recht und Gesetz.

Nun frage ich aber jeden braven Soldaten, ob er sich mir nichts, dir nichts wird mit Füßen treten, die Augen auspicken und das Gesicht zerkratzen lassen, ohne vom Leder zu ziehen und um sich zu schießen?«

Mit wütenden Gebärden wollten die vier Zeugen während dieser Rede über den Sprecher herfallen, wurden aber zur Ruhe verwiesen.

»Das Tuch von der Bahre!«,  rief der Richter.

Man tat, wie er befohlen. Da lag auf einem Lager von Rosen und Rosmarin die Taube mit ausgebreiteten Flügeln und geschlossenen Augen. An ihrem Köpfchen war ein kleiner roter Fleck sichtbar.

»Hans Quäckenberger, kennst du diese?«, fragte der Richter.

»Das ist mein herziger Schatz! Das ist meine Taube!«, rief jener mit herzzerreißendem Schrei. Schluchzend warf er sich neben der Bahre hin. »O, ich schlechter Kerl! Ich unglücklicher Mensch! Jetzt fühle ich es, du bist nicht, was du scheinst! Hab ich es doch gleich bei deinem ersten Anblick geahnt, dass du mein Schatz, mein Alles sein solltest. Nun bist du tot und ich bin dein Mörder!« Er sprang von der Bahre auf, riss sich die Kleider von der Brust undsprach: »Gebt mir den Tod, ich habe ihn verdient!«

Man umwand ihm die Augen mit einem dichten Schleier. Zwölf Dragoner legten ihre Gewehre auf ihn an.

Hans selbst kommandierte: »Feuer!«

Totenstille ringsumher; nur ganz in der Ferne krähte ein Hahn. Da ging durch die Luft ein Sausen, wie von einem gewaltigen Wirbelwind.

»Ist das der Tod?«, rief Hans und riss den Schleier von den Augen.

Der erste Morgenstrahl glühte eben durch die Felsspalten herauf, das Kriegsgericht mit allen seinen Dragonern war verschwunden. Neben sich sah er vier Leute stehen. Der Müller war es mit Frau, Magd und Knecht. Aber vor ihm in einem Beet von Rosen und Rosmarin lag des Müllers Töchterlein, ein wunderliebliches Mädchen, mit geschlossenen Augen und bleichen Wangen. Eine schwarze Korallenschnur zierte ihren weißen Hals. Ein kleiner, roter Fleck war an ihrer Stirne sichtbar.

Hans stand lange wie im Traum da.

Zwischen den Bergschluchten ergoss sich ein Lichtstrom der aufgehenden Sonne. Wie sie dem Mädchen in das blasse Angesicht schien, fingen ihre Wangen an sich zu röten und zu blühen, immer frischer und schöner, bis sie die Rosen verdunkelten, in denen sie lag.

Dass die Sonne aufgegangen war, hatte Hans nicht bemerkt. Als aber das Mädchen vor ihm die Augen aufschlug, da ging für ihn eine Sonne auf, die sein ganzes Leben von nun an bescheinen sollte. Er kniete sich neben sie hin und küsste sie auf ihren roten Mund. Sie richtete sich auf, und beide schauten sich lange in die Augen und waren so glückselig, wie nie in ihrem ganzen Leben.

Da trat der Müller mit seiner Frau zu den beiden heran, legte ihre Hände ineinander und sprach: »Dies ist deine Braut, die dir bestimmt ist, du braver Mensch! Du hast uns alle von dem Zauber erlöst. Wir waren auf schlimmen Wegen, wir werden ein neues Leben anfangen!«

Vater, Mutter und Tochter hingen mit Freudentränen am Hals ihres Retters.

So wurde Hans und das schöne Müllermädchen Braut und Bräutigam und alle kehrten in voller Lust in die Waldmühle zurück. Der sonst so faule Müller wurde ein fleißiger Mann, die geizige Müllerin eine freigebige, gastfreundliche Frau, die Magd naschte nie mehr in ihrem Leben, der bissige Knecht wurde ein friedliebender Mensch. Bald baute der Müller neben der alten Mühle eine ganz neue. Die Leute, die darin das glückseligste Leben von der Welt führten, waren niemand anders als Hans Quäckenberger und seine Frau.

Wer nun aber so überaus neugierig ist, dass er hiervon noch nicht genug hat, sondern wissen möchte, wie es mit der Verzauberung der Müllerfamilie zugegangen war, dem zuliebe will ich das auch noch berichten.

Der Wald, in dem die Mühle lag, gehörte zu Oberons, des Elfenkönigs, Herrschaft. Oberon also war es gewesen, der die Schuldigen zur Strafe für ihre Fehler in Tiere verwandelte. Aber mit ihnen musste – das ist nun einmal in dieser Welt nichts anders – auch die Unschuld leiden, wie wir es an der Taube gesehen haben. Nur wenn dies treue Herz für die ihren sich dem Tod von liebender Hand preisgab, nur wenn der, welcher die Unschuldige tödlich verwundet hatte, um ihretwillen sein eigenes Leben hinzugeben bereit war, konnte der Zauber in einer Vollmondnacht gelöst werden.

Dazu war Hans Quäckenberger von den neckischen Elfen auserkoren worden.

Kein anderer als ein so braves Gemüt hätte die Prüfungen bestanden, die dazu nötig waren, unglückliche Geschöpfe wieder in fröhliche Menschen zu verwandeln.

Ob Oberon und sein Elfenvolk sich den Glücklichen noch späterhin gezeigt hatte, als Dragoner oder in anderer Gestalt, das weiß ich wirklich nicht zu sagen, glaube es aber gewiss; denn fröhliche Leute sehen ebenso oft lustige Geister, als mürrische zu allen Zeiten von bösen und garstigen Geistern heimgesucht und geplagt werden. So wird es bleiben bis an der Welt Ende.


Das ganze Märchen steht als PDF, EPUB, MOBI und AZW3 zur Verfügung.

Bisherige Downloads: 177
Bisherige Downloads: 191
Bisherige Downloads: 192
Bisherige Downloads: 2522