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Tony Tanner – Agent der Weißen Väter 6.3

Wo die Erde blutet – Teil 3

Die Zugfahrt war ermüdend. Die Lokomotive ließ vor jedem Bahnübergang eine Reihe von melodischen Pfiffen hören und gab der scheinbar endlosen Fahrt damit so etwas wie eine Struktur. Little beugte sich vor und schaute aus dem Fenster. Der Waggon rüttelte über Weichen, schüttelte die Fahrgäste durch, dann kam der Pfiff, vor dem Fenster tauchten Häuser auf, ein Bahnsteig, ein niedriges Gebäude mit einem Ortsschild, das von der Geschwindigkeit verwischt war, dann wieder Häuser und dann wieder Bäume oder ein Fluss oder ein Hügel.

Die Landschaft hatte jeden Reiz verloren, sie wirkte auf Little aufdringlich alleine dadurch, dass sie Aufmerksamkeit erheischte. Er lehnte sich wieder zurück und wandte sich Dorkas zu.

»Jetzt, wo wir dieses Abteil für uns alleine haben, könnten Sie doch die Freundlichkeit besitzen, mir den Anlass unserer Reise etwas näher zu erläutern.«

»Den Anlass kennen Sie.«

»Ich meine nicht den Grand Albert. Ich rede von den anderen Dingen.«

»Ich will Sie nicht mit Erzählungen aus dem Nähkästchen langweilen.«

»Bitte, Dorkas, seien Sie nicht bockig. Schließlich bin ich ja auch betroffen.« Dorkas deutete nur mit dem Daumen auf die Tür. Es sollte wohl ›Hau doch ab, wenn dir was nicht passt‹, heißen.«

Little zuckte die Schultern und schaute wieder aus dem Fenster. Mit Dorkas war wirklich nichts mehr anzufangen. Nach zweimaligem Umsteigen und längerem Warten auf Bahnhöfen, nach einer Nacht in einem Hotel, an dem die Güterzüge Richtung Grenze entlang donnerten, saßen sich Little und Dorkas mit verquollenen Augen in einem kleinen Speisesaal gegenüber.

Durch das Fenster konnten sie auf eine Diesellok schauen, die auf einem Nebengleis einen Zug zusammenstellte. Am Nebentisch tauchte ein Mann im Anzug des kleinen Geschäftsreisenden sein Croissant in die riesige Kaffeeschale, am Tisch neben der Türe saßen zwei verschüchtert wirkende Afrikaner und unterhielten sich leise in ihrer Muttersprache. Hinter der Theke hörte man aus der Küche Geschirr klappern. Eine Lautsprecheransage durchbrach die matte Ruhe, und dann brauste ein Zug auf dem Hauptgleis durch den Bahnhof.

»Wo wollen wir überhaupt hin«, wagte Little zu fragen.

»Keine Ahnung«, lautete Dorkas’ knappe Antwort.

»Passen Sie auf. Wenn ich Ihre alchimistische oder sonstige Erfahrung zum Ziel meines unangebrachten Spottes gemacht haben sollte – es tut mir leid. Ich bitte hiermit offiziell und demütig und in aller Form um Entschuldigung. Mehr kann ich nicht tun. Würden Sie also die Freundlichkeit haben, Dorkas, mich hin und wieder einmal mit einer richtigen Antwort zu beglücken. Falls ich Ihnen sonst wie auf die Nerven gehe, tut mir auch das Leid. Bitte, wenn wir uns trennen sollen, sagen Sie es mir und ich verschwinde.«

»Sie würden vor die Hunde gehen«, knurrte Dorkas.

»Wie bitte?«

»Sie haben mir sehr wohl verstanden, Herr Little. Und Sie wissen, dass ich recht habe. Sie sind nicht in der Lage, mit Ihrer besonderen Eigenschaft richtig umzugehen. Sie haben zwischenzeitlich den Eindruck erweckt, als bekämen Sie die Sache unter vollständige Kontrolle. Aber das hat sich als Illusion erwiesen. Sie brauchen einen nützlichen Trottel, der auf Sie aufpasst!«

»Ich kann auf mich alleine aufpassen!«

»Können Sie nicht, auch wenn Sie die Aussage noch so laut herausgrölen.« Dorkas zerpflückte ein Croissant und stopfte sich freudlos die Stücke in den Mund, bis er eine Backe hatte wie ein Ziegenpeter-Patient. Dann begann er zu kauen und schaute dabei starr vor sich hin. Seine Augen waren gerötet, sein Haar pappte ungepflegt am Schädel, dem Hemdkragen war anzusehen, dass die fällige Reinigung schon einige Male verschoben worden war. Kurz, Dorkas passte mit seiner unübersehbaren Schäbigkeit perfekt in das Ambiente eines ungepflegten winzigen Bahnhofs im französischen Hinterland.

Little setzte noch einmal an. »Würden Sie mir jetzt bitte sagen, wo wir hinwollen?«

Dorkas griff nach einem weiteren Croissant und tunkte es dann mit der Miene, als gelte es einen Verbrecher hinzurichten, in seinen Café au Lait.

 

»Wenn ich auch den Eindruck erweckt haben sollte, völlig kindisch zu sein, so versuche ich dennoch die Regeln der Höflichkeit zu wahren, so weit es meinem schwachen Charakter möglich ist. Kurzum, wenn ich eine Ahnung hätte, wo wir hinwollen, hätte ich es schon öffentlich gemacht.«

»Ich will unseren neu gewonnenen Frieden sicherlich nicht gefährden – aber warum sind Sie in den Süden gefahren und nicht in den Osten oder den Norden, wenn Sie keine Ahnung haben, wo wir hinwollen?«

Dorkas zog das vollgesogene, kaffeetriefende Hörnchen aus der Tasse und brauchte merkliche Überwindung, bevor er es sich in den Mund steckte. Der Geschmack schien ihn dann zu versöhnen, denn seine Miene hellte sich leicht auf. Mutig griff er nach den winzigen Plastikbehältern, in denen sich angeblich Marmelade oder Honig verbergen sollte, und begann mithilfe des Daumennagels eine Ecke des Deckels aufzuschieben. Little wartete geduldig. Ein Güterzug rollte gemächlich vorbei und ließ das gesamte Gebäude erzittern.

»Schön, dass man dieses Erdbeben nicht mehr im Bett erleben muss, sondern sitzend«, sagte Dorkas. »Aha, der Farbe nach scheint es sich hierbei um Erdbeermarmelade zu handeln, der Geruch geht eher in Richtung Sauerkirsche, mal sehen, was der Geschmack zur Einteilung dieses Produktes beiträgt. … … Schmeckt nur süß. Eine Zuckermarmelade. Befinden wir uns hier nicht angeblich im Lande der Haute Cuisine?«

»Vielleicht ist dieser Ort nicht der rechte, um die Genüsse der französischen Küche zu suchen und zu finden.«

Trotz schwer kategorisierbarer Geschmackseigenheiten brauchte Dorkas wie üblich lange für das Frühstück. Dann verschwand er, um nach längerer Zeit mit einer Karte zurückzukommen.

Er breitete sie auf dem Tisch aus, nachdem er energisch Zuckerbehälter und Salzstreuer auf die anderen Tische verbannt hatte, und begann mit einem kurzen Bleistift auf der Karte herumzuzeichnen. Nach einer ganzen Weile zeichnete er einen Kreis um ein Gebiet an der Grenze zu Spanien.

»Hier müssen wir hin.«

Little verdrehte den Kopf, um die Namen auf der Karte lesen zu können.

»Pyrenäen?«

»Pyrenäen! Oder um genau zu sein, das Gebiet um Gevarnie.«

»Sind Sie sicher?«

»Absolut nicht! Aber haben Sie eine bessere Idee?«

Sorgfältig verstaute Dorkas die bekritzelte Karte und war nun mutig genug, einen Tee zu bestellen. Als die Kellnerin serviert hatte, blies er mit spitzen Lippen darauf, bis die Flüssigkeit nicht mehr zu heiß war, und probierte dann mit noch spitzeren Lippen, als könnte sich eine Säure in der Tasse verbergen. Dorkas’ Miene hellte sich nun endgültig auf.

»Der Tee ist trinkbar. Die Franzosen sind also doch ein Kulturvolk. Aber wahrscheinlich haben sie vor allem Glück mit dem Wasser. FRÄULEIN, bitte noch zwei Kannen!«

»Ich will Ihren Enthusiasmus nicht mindern, Dorkas. Aber Sie wollten mir noch einiges erklären.«

»Wollte ich das? Sieht mir ähnlich, so geschwätzig zu sein. Also, ich kann das Ziel unserer Reise nur vermuten, weil mir einige Anhaltspunkte fehlen. Ich muss demnach von Hypothesen ausgehen. Wenn diese Hypothesen stimmen, sind wir in der Gegend um Gevarnie ziemlich richtig. Es wird dennoch schwer genug bleiben, in dieser Berggegend den genauen Ort festzustellen.«

»Den Ort für was eigentlich?«

»Immer sachte mit den jungen Pferden. Fakt eins: Wir suchen immer noch den Grand Albert. Jetzt mit noch besserem Grund als vorher. Zweitens: Ich weiß, wer ihn hat. Drittens: Ich glaube zu wissen, nach welchen Vorgaben sich der neue Besitzer des Grand Albert seinen Wohnort aussucht. Das ist die Hypothese. Auf ihr fußen meine Berechnungen, denn dieser Wohnort liegt in einem ganz bestimmten Verhältnis zu einigen europäischen und nordafrikanischen Städten und wir wissen, dass er in

Frankreich liegt. Zumindest ist Letzteres hochgradig wahrscheinlich. Um ein Beispiel zu nennen, wir sprechen von Alexandria, Mailand und zwei, drei weiteren Orten in England und Deutschland. Wir brauchen bald nur noch einige Hundert Quadratkilometer Bergland zu durchsuchen, dann haben wir ihn.«

»Wen haben wir denn?«

»Den Besitzer des Grand Albert

»Das war mir schon klar, dass wir von dem reden. Aber wer ist er? Sie erwähnten gestern eine Domaine de Brantly

»Sagt Ihnen die Bezeichnung etwas?«

»Klingt wie ein Weingut.«

Dorkas stieß ein bitteres Lachen aus. »Sie haben recht. Es klingt tatsächlich wie ein Ort, an dem gute Weine produziert werden. Ist es aber nicht. Es ist eine Satanistensekte.«

Dorkas wartete, bis seine Worte verklungen waren, und schob dann Zuckerstückchen auf dem Tisch umher.

»Die Frau, diese Madame Solange, gab uns ja eine ganz gute Beschreibung des Mannes, dem sie den Grand Albert verkauft hat. Nun bin ich selbst auf Beschreibungen angewiesen, weil sich dieser Herr selten in der Öffentlichkeit blicken lässt, zumindest tritt er dann nicht als er selbst auf, nämlich nicht als einer der bedeutendsten, was sage ich, als einer der übelsten Satanisten des Kontinentes. Na gut, auf die Gefahr hin, mal wieder von Ihnen ausgekichert zu werden, erzähle ich, was ich weiß. Innis Patrian Brantly, geborener US-Bürger aus Montana, weiß, streng protestantisch erzogen, künstlerisch begabt. Eltern waren Mitglieder der Oberschicht des Kaffs, in dem er geboren wurde. Vater Sägewerksbesitzer, Mutter sozial stark engagiert. Zwei Schwestern, drei Brüder, alle jünger als er. Begabt, aber eigensinnig. Kriegt Ärger mit dem örtlichen Pfaffen, der ihm in einem Anfall von Zorn an den Kopf wirft, vom Teufel besessen zu sein. Brantly muss damals so etwa fünf bis sieben Jahre alt gewesen sein. Studium in Harvard, wieder Ärger wegen unangemessenen Benehmens, Abbruch des

Studiums. Geht für eine Weile als Helfer eines Missionars nach China, bleibt aber die meiste Zeit bei einem taoistischen Einsiedler. Geht zurück in die USA, verkündet öffentlich seine Sympathie mit der Nazi-Regierung und meldet sich freiwillig zum Militär. Wurde in Italien eingesetzt, dann bei der Invasion in der Normandie. Mehrmals verwundet, zwei Mal schwer.

Daher das Hinken. Meldete sich aber trotzdem immer wieder zum Fronteinsatz. Mehrfach dekoriert. Ehrenhafte Entlassung aus der Army irgendwann 1946. Zwischendurch hat er Aleister Crowley einen Besuch abgestattet. Die beiden konnten sich nicht ausstehen. Crowley schrieb an eine Bekannte etwas von einem arroganten, unzivilisierten Cowboy, der seine magischen Geheimnisse stehlen wollte. Und Brantly wiederum schrieb an einen Kriegskameraden, dass er immer mit dem Rücken zur Wand gestanden habe, weil er Angst hatte, dass Crowley mit seinem Zauberstab eine Runde Analmagie machen wollte. Zwei wirkliche Herzchen müssen das gewesen sein. Brantly geht zurück in die USA. Macht ein bisschen auf Beatnik, treibt sich rum. Taucht in Mexiko auf, lernt die verschiedensten Drogen kennen, besucht einen Medizinmann der Cherokee, wird beschuldigt, zusammen mit einigen radikalen Indianeraktivisten eine Kirche auf dem Reservatsgelände abgebrannt zu haben. Er verschwindet aus den USA, geht nach Frankreich, wird einige Zeit in Pariser Existenzialistenzirkeln gesehen, dann ist er für Jahre verschwunden. Keine Spur von ihm. Er tauchte erst Mitte der sechziger Jahre wieder auf. Und da ist er schon, was er heute noch ist. Ein Satanist.«

»Also so ein richtiger Teufelsanbeter?«

»Die Domaine de Brantly wäre nicht die einflussreichste Gruppe auf diesem Gebiet, wenn sie nur Kinderkram bieten würde. Aus den zwei oder drei Büchern, die Brantly im Selbstverlag veröffentlicht hat und die übrigens seltene und sehr gesuchte Antiquariatsexemplare sind, lässt sich so etwas wie eine Philosophie heraushören. Schon in seiner frühesten Jugend, als er von seiner Mutter fast jeden Tag in die Kirche geschleppt wurde, machte sich Brantly Gedanken über den Gott, der angeblich gerecht und liebevoll sein soll. Er erwähnt ein Altartuch mit der Aufschrift ›God is Love‹. Aber wenn Gott gerecht ist, warum ist dann die soziale Aktivität seiner Mutter nötig. Und wenn Gott liebevoll ist, warum hat er Diener, die ein zappeliges Kind beschuldigen, vom Teufel besessen zu sein? So ein

Vorwurf beschäftigt ein Kind natürlich stark. Später behauptete Brantly, es sei seine Jordantaufe gewesen, seine Berufung zum Satanismus. Er hält das Christentum, aber auch alle anderen Religionen für Unterdrückungsmechanismen des Fälschergottes. Der Fälschergott hat diese Welt gemacht, indem er den Schöpfungsplan des wahren Gottes stahl, diese Welt in ihrer Unvollkommenheit hinpfuschte und zudem den wahren Gott in Fesseln schlug und versteckte.«

»Wer ist denn für ihn dieser wahre Gott?«

»Satan natürlich. Brantly hat sogar eine etymologische Herleitung, die ich aber so aus dem Handgelenk nicht mehr zusammenkriege. Jedenfalls ist ›sat‹ im Sanskrit soviel wie ›Sein‹, und Satan heißt angeblich ›das tief verborgene Sein‹. Falls es Ihnen noch nicht aufgefallen ist, wir haben hier ein astreines gnostisches System vor uns.«

»Das sollte Ihnen doch gefallen.«

»Habe ich irgendwas Negatives über den Herrn gesagt? Es ist halt nur so, dass er sein gnostisches System mit einem gewissen typisch amerikanischen Aktionismus plus ausgeklügelter Drogennutzung verbunden hat. Verstehen Sie, der Satan muss befreit werden. Der gefallene Engel ist in Wahrheit der Herr. Man muss ihn befreien, dann wird er eine neue Erde nur für seine Jünger schaffen, die wie Engel sein werden. Da die Moral auch ein Trick des Fälschergottes ist, stehen die Anhänger von Brantlys Lehre außerhalb der Gesetze oder jeglicher moralischer Vorschriften. Sie haben erkannt, also sind sie befreit – das ist purer Gnostizismus.«

»Und wo ist der typisch amerikanische Aktionismus?«

»Nun, in der Art, wie Brantly und seine Jünger Satan befreien wollen. Oder wie sie sich, durch Drogen höhere Erkenntnisse verschaffen wollen. Habe ich erwähnt, dass eine solide Orgie auch durchaus zu den Besonderheiten dieser satanistischen Lebensführung gehört?«

»Um mal ganz ehrlich zu sein – Rudelbumsen wird heute an jeder Ecke betrieben. Damit lockt man doch nicht mal mehr ein Privatsender-Fernsehteam hinter dem Ofen vor.«

»Aber vielleicht mit Menschenopfern?«

»Das wirft man ihm vor?«

»Anfang der Neunziger Jahre gab es einige Untersuchungen gegen die Gruppe. Brantly tauchte unter, und die Ermittlungen verliefen immer wieder im Sande. Allerdings wurde auch kolportiert, dass er enge Beziehungen zu politischen Parteien habe. Es ging um Geld, um Drogen und Sex in den perversesten Varianten. Sicherlich spielte die schmutzige Fantasie der Illustriertenschreiber eine Rolle, nichtsdestotrotz gewann Brantly dadurch eine gewisse notorische Berühmtheit auch in Kreisen, die sonst derartigen Sekten wenig Interesse entgegenbringen.

Er selbst hielt sich übrigens immer schön im Hintergrund. Egal, die Gleichung lautet, mehr Publicity, mehr Anhänger, mehr Geld, mehr Einfluss.«

»Was war mit den Fingern? Sie fragten gestern danach.«

»Die Finger? Er hat sich selbst die kleinen Finger abgeschnitten. Um aus dem Schmerz Weisheit zu gewinnen, wie er sagte, und um mit seinem Schmerz die Leiden des gefesselten Satans zu begleiten.«

»Der Mann meint es also wirklich ernst?«

»Absolut. Er ist ein Fanatiker. Skrupellos und unmoralisch, weil er jede Moral ablehnt. Ein hochgefährlicher Mann, der Hitler, Stalin, Mao und Pol Poth zu den Wohltätern der Menschheit zählt, weil sie genügend Zweibeiner von der Last des Erdenlebens befreit haben.«

»Und diesem Gemütsmenschen wollen Sie den Grand Albert abkaufen?«

»Wer spricht von Abkaufen? Ich will es ihm stehlen! Und nebenbei bemerkt, wir müssen uns beeilen. Brantly und seine Leute haben etwas vor. Vor vier Tagen kaufte er das Buch. Und wenn ich mich nicht täusche, steht uns in zwei Tagen eine ganz besondere Planetenkonstellation bevor. Hochbetrieb bei allen Esoterikern. Druiden wandeln, Hexen tanzen – und Satanisten opfern Menschen. Ich nehme an, Brantly will auch den Grand Albert opfern. Als eine Art Geschenk an seinen Meister. Vernichtung von magischem Wissen aus Hingabe an Satan. So ungefähr stelle ich mir das vor.«

»Also doch kein Opfer?«

»Nun reiten Sie doch nicht immer darauf herum. Kein Außenstehender weiß wirklich, was bei den Nachtfeiern geschieht. Vielleicht sitzen die alle nur im Kreis und lassen einen Joint herumgehen. Weiß ich’s? Aber wenn ich Brantly und das, was er sagte, Ernst nehmen, dann muss es Menschenopfer geben. Auch übermorgen. Und der Grand Albert muss auch dran glauben.«

»Wie alt ist dieser Brantly eigentlich?«

»So genau weiß das keiner. Er scheint in dieser Hinsicht eitel zu sein. Zwischen 1910 und 1920 geboren, schätze ich.«

»Dann ist er jetzt schon steinalt. Die Beschreibung der Frau gestern deutete nicht darauf hin.«

»Das gehört zu den Seltsamkeiten dieses Mannes. Er muss weit über 70 sein und wirkt gerade wie ein gut erhaltener Fünfzigjähriger. Allerdings – es heißt, dass er sehr schnell friert.«

»Daher der Ledermantel, von dem die Frau redete.«

»So ist es. Allerdings macht mich das auch ein wenig misstrauisch. Diese Kälteempfindlichkeit wird von verschiedenen Männern berichtet, die sich mit Hilfe von … ach was, solche Spekulationen helfen uns nicht weiter. Wenn alles gut läuft, werden wir die Domaine de Brantly demnächst höchstpersönlich in Augenschein nehmen.«

»Die Aussicht macht mich nicht unbedingt glücklich.«

»Soll Sie ja auch nicht glücklich machen. Aber Sie sollten sich darauf vorbereiten, dass Sie eine wichtige Rolle spielen. Sie, mein werter Herr Little. Sie sind mein unverzichtbarer Geigerzähler bei diesem Unternehmen!«

 

***

 

Little legte sich auf das Bett und entspannte sich. Der Duft von Duschgel und Haarwaschmittel umgab ihn. Er und Dorkas hatten zwei anstrengende Tage hinter sich. Sie waren mit dem Zug nach Lourdes gefahren, das wie immer voller Pilger in Rollstühlen und auf Bahren war, und hatten dann Gevarnie erreicht.

 

Von dort aus fuhren sie ziemlich genau in Richtung Süden, bis sie auf eine kleine Ortschaft mit einem kleinen Gasthaus stießen. Ihr Erscheinen rief bei dem Hotelpersonal eine mittlere Panik hervor, was bedeutete, dass weder der Besitzer noch seine Frau mit Besuchern gerechnet hatten. Hierhin kamen meistens Bergwanderer, die sich vorher telefonisch anmeldeten. Dennoch wurden zwei Zimmer bereitet, und Little nutzte die Gelegenheit zu einer ausführlichen Dusche, während Dorkas vor allem an der Wasserqualität bezogen auf die Teezubereitung interessiert war. Das warme Wasser hatte Littles Glieder mit einer angenehmen Müdigkeit erfüllt. Es klopfte an der Tür, und nach kurzem Zögern, weil Little nicht antwortete, trat Dorkas ein.

»Nun, haben Sie etwas herausgefunden?«, fragte Little.

»Die Leute hier haben keine Ahnung, wo sich die Anhänger der Domaine de Brantly aufhalten könnten. Sie haben sich anerboten, mit einem befreundeten Immobilienmakler zu sprechen. Aber dafür haben wir keine Zeit.«

»Also ich?«

»Also Sie!«

Little schaute gegen die niedrige Decke, die aus schweren Eichenbalken und rau gehobelten Holzbalken bestand.

»Was ist, wenn ich versage?«

»Dieses Wort gehört nicht zu unserem Vokabular. Wir haben Erfolg, weil wir es wagen, den Erfolg zu wollen, klar? Seien wir realistisch. Morgen ist die erwähnte Planetenkonjunktion. Die Domaine wird schon heute mit den Vorbereitungen anfangen. Sie machen lange Rituale – Gesänge, Rezitationen, Lesungen, Tänze, orgiastische Feiern. Es gibt eine mehrere Hundert Seiten starke Magisterregel, in der die Rituale verzeichnet sind. Ich schätze mal, heute ist der Tag oder besser die Nacht der Reinigung. Es wird ellenlange Verfluchungen geben. Novizen, die morgen aufgenommen werden, haben ihre letzten Vorbereitungen. Dabei muss etwas entstehen, dass Sie empfangen können.«

»Aber ich bin kein verdammter Radardetektor.«

»Leider nicht, diese Dinger kann man besser einstellen – zudem stellen sie keine lästigen Fragen. Versuchen Sie es einfach. Mehr verlange ich nicht. Entspannen Sie sich. Es wird klappen.«

 

 

Leise schloss Dorkas die Tür. Little hörte, wie sich die Schritte entfernten, dann war es still. Die Gedanken kreisten um das, was ihm Dorkas als Aufgabe zugewiesen hatte. Es war alles völlig absurd. Vor seinem inneren Auge erstand das Bild eines Mannes im langen schwarzen Ledermantel mit einem breitrandigen Hut auf dem Kopf. Die helle Gesichtshaut und der weiße Bart schimmerten. Die blauen Augen hatten einen forschenden Blick. Nicht stechend, wie man glauben mochte, sondern forschend, erfassend, durchdringend. Dorkas hatte mit einer unüberhörbaren Ehrfurcht von Innis Patrian Brantly gesprochen. Die beiden waren wohl Seelenverwandte, Brüder auf anderen Seiten der Front. Little hatte Dorkas sogar im Verdacht, sich selbst im Vergleich mit Brantly der Feigheit zu zeihen. Möglicherweise war es aber auch ein falscher Eindruck, der durch die unübersehbare Nervosität bedingt war, die Dorkas in der letzten Zeit überkommen hatte. Was sollte das alles? Was sollten diese Spielereien eigentlich? Little schlief ein.

 

Er erwachte, weil Dorkas am Fußende des Bettes saß und ihn aufmerksam anschaute.

Durch die Ritzen der geschlossenen Fensterläden kam helles Sonnenlicht.

»Nun, gut geschlafen?«, fragte Dorkas.

»Anscheinend. Es ist ja wohl schon ziemlich spät.«

»Ist es. Vormittag. Und?«

»Und was?«

»Haben Sie irgendwelche Verbindungen aufnehmen können?«

Little überlegte und schüttelte dann langsam den Kopf. Nein, da war tatsächlich nichts.

***

Ein schwarzes Loch von bewusstlosem Schlaf, aus dem die Erinnerung bei aller Mühe nichts herausholen konnte.

»Hochgradig bedauerlich.« Dorkas erhob sich und stellte sich breitbeinig vor das Bett.

»Sie enttäuschen mich, Little.«

Dorkas war tatsächlich nervlich stark ramponiert, das wurde Little in diesem Moment bewusst. Schon die Tatsache, dass er sich auf das Bett setzte, war eine Besonderheit, und nun nannte er ihn einfach bei seinem Nachnamen, ohne das unvermeidliche ›Herr‹ davor.

»Es tut mir leid«, sagte Little zerknirscht.

»Dafür kann ich mir weder etwas kaufen, noch hilft es mir bei meiner Suche«, antworte Dorkas brüsk und ging aus dem Zimmer. Little wollte aufstehen, aber trotz der späten Stunde war er noch müde und schlief erneut ein.

Er erwachte, weil Dorkas am Fußende des Bettes saß und ihn aufmerksam anschaute.

Durch die Ritzen der geschlossenen Fensterläden kam helles Sonnenlicht.

»Nun, gut geschlafen?«, fragte Dorkas.

»Anscheinend. Ich bin ja wieder eingeschlafen.«

»Was heißt wieder?«

»Nachdem Sie das erste Mal hier waren, meine ich.«

»Ich war vorher noch nicht hier, Herr Little. Glauben Sie, ich verbringe meine Tage, indem ich Sie wecke?«

»Aber Sie waren doch vorhin …«

»Papperlapapp. Werden Sie erstmal wach.«

»Wie spät ist es?«

»Vormittag.«

»Dann habe ich also gar nicht so lange geschlafen.«

»Doch, seit gestern Abend.«

»Ich meine, seit Ihrem ersten Besuch bei mir.«

»Ich war vorher noch nicht hier, Herr Little. Glauben Sie, ich verbringe meine Tage, indem ich Sie wecke?«

»Aber Sie waren doch vorhin …«

»Papperlapap. Werden Sie erstmal wach.«

»Wie spät ist es?«

»Vormittag.«

»Dann habe ich also gar nicht so lange geschlafen.«

»Doch, seit gestern Abend.«

»Ich meine, seit Ihrem ersten Besuch bei mir.«

»Ich war vorher noch nicht hier, Herr Little. Glauben Sie, ich verbringe meine Tage, indem ich Sie wecke?«

»Aber Sie waren doch vorhin … nun drehen wir uns doch im Kreise …«

»Papperlapap. Werden Sie erstmal wach!«

»Wie spät ist es?«

»Vormittag.«

 

Little setzte sich schlagartig auf. Auch Dorkas erhob sich, wobei seltsamerweise das Gewicht auf dem Bett dasselbe blieb, trotzdem der umfängliche Hintern nicht mehr auf der Matratze lastete. Little starrte auf die deutliche Kuhle in dieser Matratze, die die Körperformen von Dorkas nachzeichnete und die sich jetzt wieder glätten müsste. Aber sie blieb. Probeweise hüpfte Little auf dem Lager auf und ab. Die Sprungfedern waren völlig in Ordnung, keine Spur von Ausleiern durch Gebrauch.

»Was soll das«, fragte Dorkas. Sein Organ war ein wenig schrill und scheppernd und klang unangenehm in Littles Ohren.

»Irgendetwas stimmt nicht«, sagte Little.

»Was soll nicht stimmen? Sie hüpfen wie ein Balg auf der Matratze herum, na und, wir alle haben unsere kindischen Phasen.«

»Nein, das ist es nicht. Ich kenne das alles hier …«

»Kein Wunder. In diesen Berggasthöfen werden die Zimmer selten mitten in der Nacht umgeräumt.« »Das meine ich nicht. Aber Sie waren schon vorhin hier und wir haben uns unterhalten und …«

»Ist doch schön, wenn wir miteinander reden.«

»Wir haben immer dieselben Sätze benutzt.«

»Tatsächlich? Bei einem Ehepaar nennt man so was Verständnis.«

»Sie verstehen nicht. Es war als ob … als ob …«

Als ob ich in einer Zeitschleife wäre, wollte Little sagen, aber der Ausdruck klang ihm allzu sehr nach einer Mystery-Serie im Fernsehen und daher nutzte er ihn nicht, fand aber auch keinen anderen. Vor allem schien das dermaßen absurd, dass er den Gedanken sogleich wieder verbannte.

»Haben Sie Verbindung aufgenommen?«

Little schaute Dorkas erschrocken an. Er versuchte sich zu erinnern, und er fand tatsächlich etwas. Er fand die Erinnerung an Dorkas, der ihn weckte, weil er auf dem Bett saß.

Stumm bewegten sich Littles Lippen, er versuchte etwas zu formulieren und scheiterte.

»Ich habe keine Verbindung …«, stammelte er dann.

»Hochgradig bedauerlich.« Dorkas stellte sich breitbeinig vor das Bett.

»Sie enttäuschen mich, Little.«

Er ging zur Türe, wobei er Schuhe keine knarrenden Geräusche auf den Bodenbalken machten.

»Könnte es sein, dass Sie unbrauchbar sind, Little?« Bei dieser Feststellung schaute Dorkas den anderen nicht einmal mehr an.

Was war das? Little versuchte aufzustehen, aber die Müdigkeit übermannte ihn. Er ließ sich zurück auf die Matratze fallen. Ich darf nicht einschlafen, war sein letzter Gedanke, bevor er einschlief.

Little erwachte, weil er ein Gewicht auf dem Bett spürte. Dorkas saß auf dem Fußende und betrachtete ihn mit äußerster Aufmerksamkeit. Seine Augen hatten einen hellen Schimmer, der Little bisher noch nie aufgefallen war. Durch die Fensterläden fiel helles Sonnenlicht.

Little wollte etwas sagen. Er öffnete den Mund, bewegte die Lippen und würgte an dem ersten Wort, aber seine Zunge gehorchte nicht. Sie konnte nicht gehorchen, weil er noch nichts sagen durfte. Die Sache lief anders.

»Na, gut geschlafen?«, fragte Dorkas und grinste Little böse an.

»Nein, nein, ich habe nicht gut geschlafen, ich …«

»Nicht gut geschlafen? Anscheinend doch, es ist ja wohl schon ziemlich spät.«

»Wie spät ist es?«

»Vormittag.«

»Ich habe nicht lange geschlafen.«

»Doch seit gestern Abend.«

Die Augen von Dorkas bekamen nun einen blauen Schimmer. Es war ein wirklich unglaubliches Blau, leuchtend wie ein Frühlingshimmel nach einem Regenschauer.

»Ich habe nicht seit gestern Abend geschlafen. Ich war eben noch wach und Sie waren hier.«

»Sie sind nicht nur ein Langschläfer, Little, Sie sind auch ein verdammter Fantast«, schrie Dorkas. Er erhob sich und schwebte durch den Raum.

Sein Gesicht war plötzlich ganz nahe an dem von Little.

»Haben Sie Verbindung aufgenommen«, brüllte er Little an.

»Nein, nein, ich habe doch …«

»Versager. Nichtsnutz!«

Dorkas schwebte vor das Bett und ließ sich mit einem Knall auf den Boden fallen.

»Erinnere dich, du Schlappschwanz, sonst geht es dir schlecht.«

Er marschierte im Stechschritt aus dem Zimmer, wobei er die Türe eintrat.

Mit aller Kraft versuchte Little, aus dem Bett zu kommen. Das Problem bestand in einer lästigen Besonderheit der Matratze, die stark nachgab, sodass seine Arme bis zu den Achseln im Bezug versanken. Trotzdem kippte er über die Bettkante. Da aber schlang sich die Decke um ihn und zog ihn zurück.

Little hörte noch, wie die Decke mit süßer Frauenstimme ein ›Nimm mich‹ in sein Ohr flüsterte, dann begann er aus Leibeskräften zu schreien und schlief ein.

Er erwachte und wusste, was geschehen würde.

Dorkas saß auf dem Fußende des Bettes und schaute ihn aus tellergroßen Augen aufmerksam an. Er kiekste vor Vergnügen, als Little vergeblich versuchte, das Kommende zu unterbrechen, zu schreien, etwas zu sagen oder wenigstens mit den Armen abwehrend zu wedeln.

»Na, gut geschlafen, alter Drecksack?«, fragte Dorkas genüsslich.

Die Hemmung verschwand, aber statt etwas zu sagen, begann Little unartikuliert zu schreien.

Dorkas verpasste ihm eine Ohrfeige, sprang dann zur Decke und lief, die Hände in seiner typischen Haltung auf dem Rücken, mit dem Kopf nach unten hin und her.

Über Littles Bett blieb er stehen, legte den Kopf in den Nacken und konnte so Little ins Gesicht schauen.

»Na, sind Sie außer zu akustischer, aber bedauerlich extraverbaler Kommunikation noch zu etwas anderem fähig?«

»Wie oft soll das hier noch stattfinden?«

»Was soll stattfinden?«

Wohl, weil ihm der Nacken zu schmerzen begann, bequemte sich Dorkas zurück auf den Fußboden, indem er über die Wand herunterlief.

»Sie wissen genau, wovon ich rede. Sie waren schon einmal hier, ach was, einige Male, und Sie haben mich immer geweckt und dann, dann …«

Little verstummte, weil ihm die Luft ausging.

Dorkas brach sich die linke Hand ab, betrachtete kritisch die Fingernägel und nutzte die Hand dann, von der Rechten geführt, um sich den Rücken zu kratzen. Dann setzte er sich die linke Hand auf das Haar, wo sie begann, seine Kopfhaut zu massieren. Mit dem Armstumpf deutete Dorkas auf Little.

»Lügner. Lügner. Lügner.« Seine Stimme durchlief alle Tonhöhen, als hätte jemand an der Einstellung eines Lautsprechers gedreht.

»Es ist wahr. Und Sie wissen es.«

»Wie spät ist es?«

»Mich interessiert es einen feuchten Dreck, wie spät es ist.«

»Sie haben nicht lange geschlafen?«

»Das sage ich doch schon die ganze Zeit …«

»Haben Sie Verbindung aufgenommen?«

»Nein, habe ich nicht …«

»Sie sind eine verdammte Null«, kreischte Dorkas. »Böse kleine Jungs, die nicht gehorchen, muss ich bestrafen.« Er knöpfte sich die Hose auf, zog einen Duschkopf heraus und begann, Little mit brühend heißem Wasser zu bespritzen. Das Opfer schrie und brüllte wie am Spieß, während sich die Haut weiß färbte, Blasen schlug und dann über dem rohen Fleisch zu Fetzen schrumpfte.

»Du weißt«, kreischte Dorkas und schwenkte den Duschkopf, »was ich mit dem Ding, dem Dingeling, dem Dingeringedingeling noch alles machen kann. Hüte dich, du Schleimscheißer!«

Daraufhin verschwand Dorkas durch die Wand. Little wusste, dass er nicht einschlafen durfte. Der brennende Schmerz am ganzen Körper machte eine solchen Gedanken aber völlig unsinnig. Little war sicher, dass er nie mehr einschlafen würde, und schlief ein.

Er erwachte, weil Dorkas am Fußende des Bettes saß und ihn aufmerksam anschaute. Als Little die Augen aufschlug, fuhr der Besucher hoch und stellte sich mit leicht gerötetem Kopf hinter das Fußbrett.

Die Maßnahme war gerade noch schnell genug, denn Little begann, ohne Vorwarnung zu treten und zu schlagen, wickelte sich dabei aber in die Decke ein und plumpste aus dem Bett.

Als er eine Hand an seinem Bein spürte, begann er zu schreien und zu strampeln. Mehrere Stimmen, darunter die einer Frau, erklangen. Schließlich warf sich Dorkas kurzerhand auf den Tobenden, drückte ihn mit seinem Körpergewicht auf den Boden, und der Hotelier ergriff den linken Fuß, seine Frau packte den rechten und dann schleiften sie im Sturmschritt Little aus dem Zimmer. Dorkas hatte die Aktion nicht völlig verstanden, blieb wie ein spielendes Kind zuerst noch auf Littles Oberkörper sitzen und purzelte dann an der nächsten Kurve herunter.

»Werfen Sie ihn in den Brunnen«, rief Dorkas, der hinter den anderen herkeuchte. Genau das wurde getan, und Little fand sich in einem langen Holztrog wieder, in dem über eine Holzrinne Wasser plätscherte. Er wälzte sich prustend aus dem Trog heraus, riss als Erstes seinen Schlafanzug auf und betastete seine Haut. Keine Spur von einer Verbrennung war zu entdecken.

Dann stampfte der triefend nasse Little auf Dorkas und hielt ihm seine Faust unter die Nase.

»Wenn das wieder ein Trick ist, dann gnade dir Gott oder der Teufel oder wer auch immer. Dann hole ich MEINEN Duschkopf raus und dann wollen wir mal sehen, wer hier wen am besten anpinkeln kann, du verdammter Deckengänger.«

»Duschkopf … anpinkeln … Decken was? … Deckengänger?«, stammelte Dorkas und kratzte sich am Kopf. Seine Verwirrung wurde nicht vermindert, weil Little ihm jetzt den linken Arm herunterriss und versuchte, die Hand abzuziehen. Als Dorkas vor Schmerz aufschrie, eilten die beiden Franzosen zu Hilfe und zogen Little zurück. Nach dessen schmerzhafter Landung auf dem steinigen Boden trat erst einmal erschöpfte Ruhe ein, weil sich nun auch Little am Kopf kratzte und sich dabei umblickte.

»Das ist neu«, stellte er dann fest.

»In der Tat!«, Dorkas rieb sich sein gerötetes Handgelenk, »In der Geschichte des unmöglichen Benehmens von US-Bürgern haben Sie ein neues Kapitel aufgeschlagen.«

»Wie spät ist es?«

»Gerade mal halb acht.«

»Später Vormittag!«

»Also für mich ist halb acht immer noch früher Morgen.«

»Warum waren Sie dann in meinem Zimmer?«

»Weil Sie geschrien haben wie ein liebestoller Hirsch. Da soll mal einer schlafen.«

Nachdem er mit einiger Mühe an seinem Hinterteil eine blutende Kratzwunde entdeckt hatte, schleppte sich Little unter die Dusche. Immer noch hatte er das bedrohliche Gefühl, dass Dorkas jeden Moment durch die Zimmerwand geschwebt kommen könnte und andere Dinge geschähen, die allen Naturgesetzen Hohn sprächen. Erst als er beim Frühstück erzählt hatte, was in der Nacht geschehen hatte, begann sich diese Unruhe aufzulösen. Dorkas nahm die Kanne mit dem heißen Tee und schüttete die Flüssigkeit auf Littles unbedeckten Arm. Der schrie wieder vor Schmerz und wollte aufspringen, weil er nun wusste, dass es doch nicht die Wirklichkeit war, sondern eine weitere teuflische Variante des Traumes, in dem er für ewig kreisen würde.

»Bleiben Sie sitzen, so schlimm ist es nicht«, stellte Dorkas ruhig fest.

»Was sollte das?«

»Schauen Sie sich den Arm an. Verbrennung ersten Grades. Wird noch eine Weile schmerzen, aber davon bleibt nicht zurück.«

»Was sollte das?«, wiederholte Little.

»Zur Erinnerung. Haben Sie in Ihrem Traum Schmerzen gespürt? Ja, Sie haben. Aber haben Sie auch die Wunden gesehen? Nein, weil es keine gab. Falls Sie in den nächsten Stunden Zweifel haben sollte, dass ich der reale Dorkas bin und Sie der reale Herr Little, dann wird Sie der gerötete Fleck am Arm daran erinnern.«

»Gab‘s keine elegantere Möglichkeit?«

»Fällt Ihnen eine ein? Übrigens, haben Sie Verbindung aufgenommen? Was zucken Sie denn so? Ach, ich verstehe, das Stichwort. Also haben sie tatsächlich Verbindung aufgenommen.«

»Nein, habe ich nicht.«

»Nicht Sie. Ich meine die anderen.«

»Sie glauben, dieser … Traum stammt von der Domaine de Brantly

»Hundertprozentig. Ich nehme an, Sie sind sozusagen in eine der Fluchlitaneien hineingeraten.

Irgendwo heißt es angeblich so etwa ›Mögen unsere Feinde ihren schmerzhaftesten Moment erleben wieder und immer wieder bis in alle Ewigkeit.‹ Das passt doch in etwa?«

»In etwa. Aber der Moment wurde mir bereitet.«

»Ich weiß. Das tut jetzt auch alles nichts zur Sache. Jedenfalls bin ich sicher, dass sich die Domaine de Brantly ganz in der Nähe befinden muss. Es entspricht zwar nicht unbedingt allen Erkenntnissen ernst zu nehmender Esoteriker, aber ich schätze, wenn wir uns einen Sender vorstellen, kommen wir der Wirkungsweise gewisser Rituale nahe. Was hinwiederum bedeutet, dass wir uns in der Nähe des Senders bewegen, sonst wäre der Empfang nicht so gut. Nun denn, erstmal in Ruhe frühstücken, dann fahren wir ins Tal und sprechen mit dem Immobilienmakler.«

 

Die Verzögerung sollte Dorkas bald bereuen, denn als sie von dem Hotelier ins Tal gefahren worden waren, war der Makler gerade fortgefahren und sie verplemperten Stunden des Wartens. Immerhin bestand Dorkas darauf, einen Wagen zu mieten. Littles amerikanischer Führerschein, Dorkas’ Hartnäckigkeit und eine Menge Geld reichten schließlich aus, um einen offenen Mehari mit Plastikkarosserie zu mieten, der zumindest dem Aussehen nach geländegängig sein musste.

Endlich kam der Makler. Er behauptete von sich, der einzige seiner Zunft im weiten Umkreis zu sein. Da Dorkas eine ziemlich genaue Vorstellung hatte, nach welcher Art von Bauwerk sie fahnden mussten, dauerte es wenig mehr als eine Stunde, bis er sicher war, das Richtige gefunden zu haben. Es handelte sich um ein ehemaliges Benediktinerkloster, das nach der Säkularisation der Revolutionszeit verlassen wurde, verfiel und in Vergessenheit geriet. Vor etwa zehn Jahren war es durch Vermittlung des Anwalts von der staatlichen Güterverwaltung, der es noch immer gehörte gekauft worden.

»Wissen Sie, wer den Komplex gekauft hat?«, fragte Dorkas.

»Um ehrlich zu sein, ich verhandelte nur mit einem Mittelsmann aus Paris. Einem amerikanischen Anwalt mit französischer Zulassung.«

»Wissen Sie, wer die Ausbesserungsarbeiten durchgeführt hat? Nach fast zweihundert Jahren muss es ja einiges zu reparieren gegeben haben?«

»So schlimm war es nicht. Die Mönche haben das Kloster unbeschädigt hinterlassen, es kam wegen der Lage zu keinen Plünderungen. Es war also nicht viel zu tun. Aber das, was zu machen war, haben die Spanier gemacht. Das Kloster liegt unmittelbar an der Grenze.« Der Makler suchte unter einem Stapel Karten und fand schließlich die passende.

»Hier ist es. Der Bergkamm markiert die Grenze, also gerade mal zwei Kilometer.«

»Es gibt keine Straße?«

»Doch, von unserer Seite durch das Tal bis unterhalb des Felsens, auf dem das Kloster steht. Von spanischer Seite führt eine Rollbahn bis knapp unter den Kamm. Es soll einen Weg darüber geben, aber der wird nur für Geländewagen sein.«

Mehr konnte der Makler nicht sagen. Nach dem Verkauf hatte er nie wieder etwas von dem Kloster gehört und den anderen Einwohnern ging es ebenso. Zu abgelegen jenseits aller Ortschaften war das Bauwerk.

»Warum sind Sie so sicher, dass wir richtig sind«, fragte Little, als sie schon mit dem Wagen unterwegs waren. Little saß stocksteif hinter dem Lenkrad und streckte den Hals, als müsste er aus dem Wasser schauen. Die Straße war eng und kurvig, wenig übersichtlich und zudem in keinem besonders guten Zustand. Er fühlte sich höchst unsicher, war das Autofahren nicht mehr gewohnt, kam mit der Krückstockschaltung nicht zurecht und ließ das Getriebe einige Male lautstark krachen. So bewegten sie sich im Radfahrertempo vorwärts.

»Der Name – St. Michel des Monts. Das passt doch. »

»Ist das Ihr einziger Anhaltspunkt?«

»Was verlangen Sie eigentlich?«, protestierte Dorkas. »Eine unterschriebene Einladung von Brantly? Wissen Sie was, wenn jeder Ihrer Landsleute so eine Einstellung hätte, dann wärt ihr nie auf den Mond gekommen.«

 

Little schwieg verbissen. Aber die Antwort, die ihm auf den Lippen lag, lautete, dass er lieber auf den Mond reisen würde, als zu irgendeinem psychopathischen Star der Satanistenszene. Im Rückspiegel tauchte ein kantiger Transporter aus, der ungeduldig zum Überholen ansetzte. Um ein Haar hätte Little das Lenkrad verrissen, die Reifen auf der rechten Seite gerieten auf den Randstreifen. Der leichte Wagen schlingerte und warf eine Staubwolke auf, die sich langsam auf die Insassen niedersenkte, denn der entnervte Little hatte den Wagen zum Stehen gebracht.

Dorkas räusperte sich ausführlich, klopfte den Staub aus seiner Jacke, betrachtete versonnen, wie der ausgeklopfte Staub sich wieder auf den Stoff senkte und sich auch durch plötzliches, hektisches Handwedeln nicht in seiner Zielstrebigkeit beirren ließ, und beklagte dann in poetischen Worten den Mangel an Getränken. Schließlich beugte er sich über die Karte, studierte sie eine Weile knurrend und sagte dann, als er den Kopf wieder hob: »Es scheint, wir haben uns verfahren.«

Der erwartungsvolle Blick, den Dorkas ihm zuwarf, konnte John Little nicht aus seiner derzeitigen Apathie reißen.

»So«, antwortete er nur, »haben wir das?«

»Nun, zumindest ist das mein Eindruck«, bestätigte Dorkas säuerlich. »Zumindest können wir sicher sein, dass wir nicht an einer Abfahrt vorbeigerast sind. Wir hatten ja jede Abfahrt mindestens fünf Minuten vorher im Blick.«

Nach dieser Feststellung, deren leichte Spitze immerhin geeignet war, Little etwas munterer zu machen, beschäftigte sich Dorkas wieder mit den Karten.

»Hierher kommen wir, hier müssen wir hin, hier sind wir«, erklärte er schließlich und tippte mit dem Finger auf die entsprechenden Punkte.

»Und was nun?«

»Falls Ihnen nichts Besseres einfällt, fahren wir weiter. Demnächst kommen wir in eine Ortschaft, da kann man vielleicht jemanden fragen. So langsam müssen wir uns auch Gedanken über unseren Zeitplan machen.«

»Hatten wir etwa einen Zeitplan?«

»Jedenfalls können wir mal davon ausgehen, dass der Höhepunkt der Veranstaltung gegen Mitternacht stattfinden wird. Bis dahin wäre es hübsch, wenn wir das Kloster gefunden hätten.«

»Und schon hereinspaziert wären und uns einen Tragebeutel für den Grand Albert beschafft hätten?«

»Wie ich höre, haben Sie Ihren Schockzustand ja wohl überwunden. Können wir dann also wieder.«

 

Little folgte der einladenden Handbewegung und startete den Wagen, der sich keuchend in Gang setzte. Das enge Quertal, das sie nun durchfuhren, lag schon im Schatten, während die Bergkämme noch im vollen Sonnenlicht schimmerten. Beiderseits der Straße gab es Laubwälder, die an den Berghängen von Nadelbäumen abgelöst wurden. Knapp unterhalb der sich lang hinziehenden Kämme brach der bräunliche Fels mehr und mehr durch.

 

Nach einigen Kilometern gemächlicher Fahrt schien Dorkas etwas verschluckt zu haben, denn er hustete und räusperte sich mit großer Lautstärke, um dann mit ausgreifender Armbewegung die Uhr an seinem Handgelenk in Augenschein zu nehmen. Er studierte den Zeitmesser ausführlichst, horchte daran und klopfte leicht mit dem Fingernagel auf das Uhrglas. Diese lächerliche Pantomime trieb Little zu einer etwas beschleunigten Fahrweise.

Er wagte sogar, den Schaltknüppel, der aus unerfindlichen Gründen seitens eines französischen Ingenieurgenies auf das Armaturenbrett verbannt worden war, auf die andere Seite zu bewegen. Der Ruck beim Einkuppeln warf die beiden Insassen fast gegen die Frontscheibe, aber nachdem der Motor heulend Drehzahl gewonnen hatte, ging es zügig voran. Den Fahrtwind nutzte Dorkas, um sich endlich von dem Staub zu befreien. Für einen Beobachter musste es aus der Ferne wirken, als würde der füllige Mann auf dem Beifahrersitz ein ganzes Geschlecht von Stechfliegen totschlagen wollen.

Die Ortschaft, von der Dorkas gesprochen hatte, bestand aus einigen Ferienhäusern abseits der Straße, die mit ihren geschlossenen Fensterläden ein Symbol des ›Wir geben nichts, wir kaufen nichts‹ darstellten, einem Bauernhof und einer Tankstelle nebst Werkstatt.

»Fahren Sie zu der Tankstelle«, kommandierte Dorkas höchst überflüssigerweise. Als der Wagen neben einer der Zapfsäulen anhielt, ertönte von irgendwoher ein schrilles Klingeln. Es blieb das einzige Geräusch. Auch aus dem offenen Tor der Werkstatt war kein Laut zu vernehmen.

»Scheint Selbstbedienung zu sein.« Dorkas schob sich aus seinem Sitz und ging auf das Kassenhaus zu. Seine Fortbewegungsweise ließ keinen Zweifel aufkommen, dass sein Rücken mit dem Wagensitz nicht so recht harmonierte. Die Tür des gläsernen Kassenhauses war offen und ließ sogar erneut die Klingel ertönen.

Auch Little stieg aus, um sich ein wenig die Beine zu vertreten. Auch er hatte völlig verkrampft gesessen und spürte jede Sehne im Bein. Durch die Glasfront konnte er Dorkas beobachten, der eine Weile in einer Mischung aus Habtachtstellung und ›Entschuldigen Sie, könnten Sie mir weiterhelfen‹- Position zum Werkstattdurchgang stand, dann augenscheinlich zu lautem Hüsteln überging und sich dann, lautstark pfeifend, für den Inhalt eines Kühlregals interessierte.

Dem Langhaarigen, der schließlich aus der Werkstatt schlenderte und sich an einem Lappen die ölverschmierten Hände abwischte, bot sich daher zuerst der Anblick des Dorkas’schen Hinterteils in seiner gesamten voluminösen Pracht und Ausbreitung in allen Himmelsrichtungen. Dorkas war derart in seiner Suche nach Trinkbarem versunken, dass er nun seinerseits wie von der Tarantel gestochen in die Höhe fuhr, als der Mann hinter ihm sich räusperte.

Motorengeräusch erklang von der Straße her. Die Limousine bog zu Littles Überraschung zur Tankstelle ab und hielt auf der anderen Seite der Zapfsäulen. Es war ein Citroën in Überlänge – die Art von Chapron-Wagen, die Little aus den Fernsehnachrichten als Dienstfahrzeug des französischen Staatspräsidenten kannte. Die hinteren Fenster waren durch Vorhänge verschlossen.

Der Fahrer, das konnte Little erkennen, telefonierte eine Weile, dann stieg er aus und ging in das Kassenhaus. Er war ein junger Mann in einem schwarzen Anzug, der auf den ersten Blick wie ein junger Pfarrer wirkte. Die helle Haut, die dunklen Augen und das schwarze, gewellte Haar, das im bis auf die Schultern fiel, umgaben ihn mit einem Hauch von unzeitgemäßer Romantik. Sein Profil zeigte eine große Nase, die Little an die Holzindianer vor manchen Tabakgeschäften erinnerte.

 

In der Zwischenzeit hatte Dorkas eine Batterie von Flaschen vor der Kasse aufgestapelt und gestikulierte nun mit dem Tankwart, der mit seinem Öllappen in verschiedene Himmelsrichtungen deutete und zwischendurch die Schultern hob. Das Auftauchen des neuen Kunden unterbrach die Unterhaltung. Dorkas trat höflich zurück und wartete ab. Aber Little bemerkte die Blicke, mit denen Dorkas den Neuankömmling abschätzte. Die beiden Männer verschwanden in der Werkstatt und ließen Dorkas allein.

Little wanderte ein Stück die Straße hinauf. Die Tankstelle schien tatsächlich der einzige Ort zu sein, an dem hier Menschen lebten, denn der Bauernhof wirkte beim Näherkommen still und ausgestorben. Kein Tier war auf der Weide zu sehen, der Stall mit seinen rissigen Wänden strömte nur den faden Geruch von Beton und moderndem Holz aus.

Die beiden Männer kamen aus der Werkstatt. Sie öffneten die Motorhaube des Chapron, der Tankwart beugte sich weit über die Maschine, während der Fahrer auf der Seite stand und sich einige Erklärungen anhören musste. Der Tankwart ging in die Knie, schaute unter den Wagen und redete auf den anderen ein. Der schüttelte zur Antwort nur den Kopf und hob abwehrend die Hände. Danach verschwanden beide wieder in der Werkstatt.

Die eine der hinteren Türen der Limousine wurde geöffnet. Nachdem sie eine Weile offen gestanden hatte, stieg eine junge Frau aus. Sie trug eine beigefarbene Hose und eine helle Bluse und ging, die

Arme verschränkt, den Blick auf ihre Schuhspitzen gerichtet, neben dem Wagen hin und her. Sie achtete weder auf Little, der wieder zur Tankstelle ging, noch auf die beiden Männer, die nun mit einigen Öldosen in der Hand zum Wagen zurückkamen. Es schien weniger Schüchternheit, sondern ein völliges Desinteresse an ihrer Umgebung zu sein, das diese Frau so in sich versinken ließ. Angesichts der stattlichen Limousine tippte Little spontan auf irgendeine Größe aus dem Schaugeschäft. Die instinktive Neugier des unbeteiligten Zuschauers ergriff ihn.

 

Das Gesicht der Frau konnte Little nicht erkennen. Es gelang ihm gerade einmal, sie von der Seite zu sehen, und er fragte sich, ob er sie trotz ihres leicht fliehenden Kinns hübsch finden würde. Sie hatte ebenso helle Haut wie der Fahrer, sogar noch um eine Nuance weißer, als würde niemals Sonnenlicht auf sie fallen. Ein unwillkürlicher Schauer überlief Little, Bilder von unterirdischen Maden drängten sich ihm auf, und als er diese Bilder verdrängt hatte, kamen andere Szenen, in denen er schamlos dargebotene weiße Glieder im Kerzenschein eines Separees sah. Er schüttelte diese Fantasien ab und schritt weiter aus. Aber wie unter einem Zwang drehte er wieder und betrachtete nun den hellblonden Zopf, der ihr vom Nacken über den Rücken fiel. Er bemerkte, dass sie im Gehen mit den Füßen einen Rhythmus einhielt, der wie der Nachklang eines Tanzes war. Mit ihren langen Beinen und einer schlanken, fast dünnen Figur erinnerte sie Little unwillkürlich an ein Fohlen.

Der Tankwart goss Öl in die Maschine und schloss die Motorhaube. Der Fahrer bezahlte und stieg dann eilig in den Wagen. Auch die Frau stieg ein. Bevor sie in der Limousine verschwand, hob sie einmal den Kopf und schaute Little an. Blaue Augen, schmale Nase, ein schön geschwungener Mund, der den Makel des etwas missratenen Kinns völlig vergessen ließ. Ja, sie war hübsch, sehr hübsch sogar, aber zugleich lag auf ihren Zügen eine Fremdheit, die Little noch einmal erschauern machte und die ihn abstieß. Er suchte vergeblich nach einer Erklärung und starrte dem abfahrenden Wagen ziemlich tölpelhaft nach.

Die Glastür des Kassenhauses schepperte. Mit einigen Flaschen 7up und Vichy vor der Brust kam Dorkas, schwankend wie in Kamel im Passgang, auf den Mehari zugelaufen. Er warf seine Beute achtlos in den Fond und kletterte dann auf den Beifahrersitz.

»Wo bleiben Sie denn, Herr Little?«, schimpfte er laut.

Little hatte immer noch dieses Gesicht vor Augen, und in seinen Gedanken hallte noch immer das Echo seines Anblicks. Konnte eine Frau zugleich so widerstrebende Empfindungen wie Begeisterung und Abscheu hervorrufen? Er schlenderte zum Wagen, als ihn Dorkas aus seinen Überlegungen riss, weil er lautstark mit der flachen Hand auf die Plastikmotorhaube hämmerte.

»Egal, in welchen süßen Träumen, Sie jetzt gerade befangen sind, machen Sie, dass Sie in die Hufe kommen«, krakelte Dorkas.

»Was soll diese Hektik? Hat Ihnen der Tankwart einen heißen Tipp gegeben?«

»Fahren Sie, fahren Sie! Los! Hinter dem Wagen her.«

»Hinter dem Citroën? Der ist doch schon längst über alle Berge.«

»Hinterher, sage ich! Verstehen Sie eigentlich überhaupt nichts? Diese Frau war die Gabe …«

Little konzentrierte sich eine Weile völlig auf das Fahren. Dann wandte er sich an Dorkas.

»Was soll das heißen – sie ist die Gabe?«

»Ihre Fantasie lässt zu wünschen übrig. Sie ist das Opfer, wenn Sie so wollen. Aber in der Domaine de Brantly wird immer nur von einer Gabe gesprochen.«

»Weiß Sie davon, dass sie geopfert werden soll?«

»Keine Frage, natürlich weiß sie davon.«

»Sie weiß es – und da geht sie nicht flitzen?«

»Weil es nur freiwillige Opfer gibt. Dieses Mädel hat sich nicht nur aus freien Stücken bereit erklärt, die Gabe zu sein, sondern sie hat sich regelrecht dazu gedrängt. Denn es gibt Prüfungen und Reinigungszeremonien und vor allem, es gibt Konkurrenz. Wenn wir uns vor Augen führen, dass heute ein besonderer Tag ist …«

»… wegen dieser Planetenkonstellation, meinen Sie …«

»… dann ist sie auch eine ganz besondere Gabe.«

»Ich dachte bisher, solche Sekten würden sich in Waisenhäusern oder in Obdachlosenheimen bedienen?«

»Die Domaine de Brantly jedenfalls nicht. Hier gibt es nur Freiwillige. Das ergibt im Übrigen auch durchaus einen Sinn. Dieses Opfer ist ja keine Strafe, sondern eine Belohnung. Entsprechend auch diese Prüfungen.«

»Welche zum Beispiel?«

»Nun, ich hörte von einem Fall, in dem Brantly von der Gabe die Ermordung der Eltern und der Geschwister verlangte. Schließlich halten er und seine Anhänger die gefühlmäßigen Bindungen an diejenigen, die uns ein Leben in der falschen Welt eingebrockt haben für einen weiteren Trick des falschen Schöpfers.«

»Ein Fall für die Staatsanwaltschaft!«

»Womit beschäftigt sich denn heute die Staatsanwaltschaft eigentlich nicht? Im besagten Fall hatte sie keine Handhabe. Die Gabe, seines Zeichens Eltern- und Brudermörder, stürzte sich von einer bretonischen Klippe. Es gab Anzeichen, dass vorher eine Feier mit vielen Teilnehmern stattgefunden hatte, aber angesichts eines Mörders, der sich selbst gerichtet hatte, war das nichts mehr, was die Justiz weiter verfolgt hätte.«

»Und Sie sind sicher, dass diese Gabe erst heute zum Ort der Tat gebracht wird? Das ergibt für mich keinen Sinn.«

»Sie sind ja auch kein Satanist.«

»Trotzdem ergibt es keinen Sinn.«

»Ich denke, die Antwort liegt in der Magisterregel. Außerdem ist Brantly ja nach wie vor der Führer seiner Sekte. Er schaltet und waltet, wie es ihm passt. Oder wie es ihm seine Inspiration eingibt. Oder sollte ich eher von teuflischen Einflüsterungen reden …? Egal. Aus irgendwelchen Gründen durfte die junge Frau noch nicht an den Vorbereitungen für das heutige Fest teilnehmen. Oder sie hatte ihrerseits Vorbereitungen durchzuführen, die am Kloster keinen Platz hatten.«

»Hören Sie, Dorkas, selbst wenn ich diese Kiste mit Höchstgeschwindigkeit fahren könnte, würden wir den anderen Wagen nicht einholen.«

»Brauchen wir auch nicht.«

»Ich nehme an, die anderen werden zwischendurch anhalten und freudig auf uns warten?«

»Nicht nötig. Haben Sie die Szene an der Tankstelle denn nicht registriert? Natürlich nicht, sie hatten nur die Frau im Blick, Sie Schlingel, Sie. Der andere Wagen verliert Öl. Der Tankwart riet zu einer Reparatur, aber der Fahrer lehnte ab, weil er keine Zeit hatte und es außerdem nicht so weit wäre. Also füllten sie nur Motoröl nach. Wenn Sie genau hinschauen, sehen Sie die Spur sofort. Eine Hänsel-und-Gretel-Geschichte …«

Es war keine durchgehende Spur, aber eine Folge deutlich sichtbarer Ölflecke, die auf den geraden Streckenstücken, wenn der Wagen beschleunigt hatte, als weit verteilte Spritzer erkennbar waren und dort, wo eine Kurve zur Verringerung der Geschwindigkeit zwang, als kleine buntfarbige Lachen schimmerten.

»Weit kann es nicht sein«, spekulierte Dorkas. »Dieser Tankwart sprach einen derart unverständlichen Dialekt, dass ich nicht viel mitbekommen habe, aber ich bin mir immerhin sicher, dass vor einem ›Kolbenfresser‹ warnte, wenn der Motor kein Öl mehr hat, und der Fahrer antwortete, dass sie nicht mehr lange unterwegs seien. Nun ja, auf dem Asphalt liegt tatsächlich schon eine ziemliche Menge von diesem stinkigen Zeug.«

»Was war das überhaupt für ein Typ, der den Wagen fährt? Auf mich wirkte er auf den ersten Blick wie ein Seminarist.«

»Da liegen Sie wohl nicht so ganz verkehrt. Er ist sicherlich sehr fromm. Auf seine Weise. Ich nehme an, dass Brantly die Gabe eines so hohen Festes nicht irgendeinem Mitglied der Sekte anvertraut. Der junge Mann muss also eine höhere Charge sein. Vielleicht ist er selbst schon Priester und hat die Reinigungszeremonien durchgeführt.«

 

Little überlegte und steuerte den Wagen um eine Felsnase herum. Der Anblick der Frau ging im nicht aus dem Kopf. Wenn er versuchte, sich die Ursache deutlich zu machen, der dieses Bild in seinen Gedanken wie einen starken Magneten verankerte, sodass alle Überlegungen unweigerlich in dessen Anziehungskraft gerieten, dann scheiterte er jedes Mal kläglich.

Nun gut, diese junge Frau besaß eine unbestreitbare Attraktivität. Er sagte sich diesen Satz, so wie jemand mit der Faust auf den Tisch schlägt, um eine lästige Diskussion zu beenden.

Basta, so ist es! War es so? Konnte er ernsthaft diese zu schlanke, zu langbeinige, zu schmalhüftige, zu fohlenartige Figur als anziehend bezeichnen? Jedes Durchschnittsmädel war von der Natur besser ausgestattet worden, wirkte harmonischer und weiblicher. Und ihr Gesicht?

Anschaubar, akzeptabel, nicht mal unhübsch – aber nicht mehr. Das wirklich Lästige war, dass Little schon nicht mehr in der Lage gewesen wäre, einem Fragesteller eine auch nur einigermaßen exakte Beschreibung der Frau zu geben. Blond war sie. Der lange, schön geflochtene Zopf, der ihr auf den Rücken fiel, war vielleicht das einzige Merkmal, dessen er sich sicher war. Und dazu kam ihm nur noch der Makel in Erinnerung, das fliehende Kinn nämlich, das er bei ihr bemerkt zu haben glaubte. Warum also, warum sozusagen in Großbuchstaben geschrieben, verklebte dieses Bild, das nicht einmal ein Bild war, sein Bewusstsein? Was hatte sie? Es mochte, wurde sich Little klar, vielleicht daran liegen, dass sie in keiner Weise dem Typ entsprach, den er im Umkreis einer Satanistensekte erwartet hätte. Diese auffällig geschminkten Wesen, die sie in Concressault gesehen hatten, passten in das Klischee. Aber doch nicht so eine weißhäutige Blondine, die aussah, als ob ihre Eltern sie nur mit Gewalt davon abhalten könnten, in ein Kloster zu gehen.

»Ich nehme mal an, dass Reinigungszeremonien in der Domaine de Brantly anders verlaufen als in der Domaine de Johannes Paul II?« Sein Versuch, sarkastisch zu wirken, kam Little selbst misslungen vor.

»Sie liegen mit Ihrer Vermutung völlig richtig. Wie gesagt, ich kann mich nur auf wenige Informationen stützen, aber das, was ich weiß, deutet darauf hin, dass die Gabe alle Beschränkungen bürgerlicher oder religiöser oder sonstiger Art überschreiten muss, um bereit zu sein.«

»Und was bedeutet das konkret?«

Dorkas warf Little einen prüfenden Seitenblick zu. Der reagierte nicht, sondern behielt die Augen starr auf der Straße.

»Nun ja, ich kenne einen dokumentierten Fall von Sodomie.«

»Sodomie?«

»Ja, das Opfer musste es … … wie soll ich das formulieren … … ?«

»Sie sind doch sonst recht sprachgewandt, Dorkas!«

»Nun gut …« Dorkas hatte sichtlich mit einem gewissen Widerstreben zu kämpfen, » … die Frau hat es mit einem Köter getrieben. Natürlich vor Publikum, will sagen, vor anderen Sektenangehörigen.«

»Hübsches Beispiel von praktizierter Zuneigung zum besten Freund des Menschen.«

»Ich weiß nicht, was eine Dogge davon hält. Nachher haben sie ihr übrigens die Kehle durchgeschnitten und sich in ihrem Blut gesuhlt. Ich rede von dem Hund. Die Szene muss ungefähr so gewesen sein, wie sie sich einer unserer zeitgenössischen aufstrebenden Künstler vorgestellt haben könnte: Männlein und Weiblein treiben es miteinander, vorzugsweise in unnatürlichen Kombinationen und dies in einer Blutlache. Wie viel Blut hat so ein Hund?«

»Wenn es eine Dogge war, wird der Inhalt wohl für eine mittlere Schweinerei reichen.«

Sie schwiegen wieder. Little dachte plötzlich an eine der Fernsehreklamen, die sich zwischen die Spielfilme der Privatsender schoben. Fröhliche und stets bestens ondulierte Mütter, die mittels eines wunderbaren Erzeugnisses der chemischen Industrie die Dreckflecken, die ihr Nachwuchs und der Familienhund auf den Fliesen hinterlassen haben, wegzaubern.

»Der Laden muss ja horrende Summen für Reinigung ausgeben!«, sagte Little.

Diese praktische Beobachtung konnte bei Dorkas keine Aufmerksamkeit erregen, denn der wedelte plötzlich mit der Hand vor Littles Gesicht umher.

»Die Spuren sind weg.«

Nachdem sie angehalten hatten, suchten sie zu Fuß die Straße ein Stück weit ab und drehten dann endgültig um. Nach kurzer Zeit fanden sie wieder den ersten Ölfleck. Sie wendeten erneut und schauten nach der Abfahrt aus, die der Wagen genommen haben musste.

»Vielleicht ist er von einer Art Abschleppwagen erwartet worden«, vermutete Little.

»Was soll so ein Aufwand?«

»Heute ist das kein Aufwand mehr, es gibt schließlich Funktelefone.«

Statt einer Antwort knurrte Dorkas nur unzufrieden und beäugte den Straßenrand. An einer Einbuchtung ließ er Little anhalten. Der war im ersten Moment der Meinung, Dorkas suche nach einer Möglichkeit auf, mehr oder weniger zivilisierte Art einen Flüssigkeitsüberschuss abzubauen. Dorkas schlenderte denn auch am Gebüsch entlang, das die unasphaltierte Einbuchtung zur einen Seite begrenzte, und begann dann, an einem Ast zu zerren. Gemeinsam mit Little zog er das sperrige Hindernis zur Seite. Dahinter zeigten sich tief ausgefahrene Wagenspuren, die um ein Wäldchen herumführten und dann in einen Wirtschaftsweg mündeten, der wiederum durch eine lange Unterführung die Straße unterquerte und sich zwischen Bäumen verlor.

»Halten Sie es für eine gute Idee, hier langzufahren?«, erkundigte sich Little vorsichtig.

Dorkas ließ sich in der Art eines Sumoringers auf die Knie nieder und begutachtete einen Ölfleck auf dem rauen Asphalt.

»Selbst wenn die Idee von mir stammt, bin ich von deren Qualität nicht vollständig überzeugt. Aber haben Sie eine bessere? Drei schwerbewaffnete Hubschrauber, die aus der Sonne geflogen kommen? Oder die übliche Kavallerieabteilung?«

Little schenkte sich die Antwort und ging, um den Wagen zu holen.

Der Weg führte in ein Tal hinein, das sich immer stärker verengte. Buchen, Kastanien und Eichen wuchsen auf beiden Seiten. Die kräftigen Stämme erhoben sich aus einem Dickicht kleinerer Büsche und wuchernder Farne. Über ihren Wipfeln konnte man links und rechts gerade noch die fast waagerechten Kammlinien der Bergzüge erkennen, die das Tal einschlossen. Der Mehari schaukelte tapfer durch die Spurrillen.

»Halten Sie mal an! Motor aus!«

Dorkas stand auf und lauschte.

»Hören Sie was?«

Little lauschte gespannt und schüttelte dann den Kopf.

»Nichts! Warum?«

»Weil das nicht normal ist. Hier sind Bäume und Büsche und Unterholz, und eben konnte ich sogar noch ein Rinnsal erkennen. Also müsste es Vögel geben. Aber es gibt keine. Nichts zu sehen, nichts zu hören.« Dorkas stemmte die Arme in die Hüften und schaute sich weiter um. Es war tatsächlich völlig still. Kein Vogel zwitscherte, kein Tier regte sich im Unterholz, selbst der Wind war eingeschlafen. Die beiden Männer hielten den Atem an. Ohne ein Wort zu wechseln, wussten sie, dass sich jeder an eine Hoffnung klammerte, ein einziges kleines Tschilpen eines Sperlings würde die dunkle Vorahnung erhellen. Aber sie wurden enttäuscht. Diese Stille war mehr als die Abwesenheit von Klängen. Sie hatte eine Substanz, als wäre sie wie flüssiges Glas in das Tal gegossen worden, um alles in seiner Erstarrung zu umfassen. Und je länger sie vergeblich lauschten, desto deutlicher empfanden sie, dass hinter der Stille etwas anderes existierte. Von ihnen nur durch eine hauchdünne Folie getrennt war es da, gewaltig, unsagbar mächtig und beherrschend wie ein eisiges Meer, das durch das schwache

Menschenwerk eines Schiffsrumpfes zurückgedrängt wird.

Es waren wohl weniger der Schatten und die feuchte, dumpfe Luft, die Little schauern ließen. Als er den Motor erneut startete, war sein Mund trocken. Vor jeder Biegung begann sein Herz vor Furcht schneller zu schlagen und er atmete auf, wenn sich wieder herausstellte, dass der Weg schmal und einsam vor ihnen lag. Immer enger wurde das Tal, sodass zwischen den Bäumen nur noch graues Dämmerlicht lag.

Little brachte den Wagen abrupt zum Stand. Wieder keuchte der Motor aus.

»Da war was!«

Fortsetzung folgt …