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Der Welt-Detektiv Band 6

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Tony Tanner – Agent der Weißen Väter 6.1

Wo die Erde blutet – Teil 1

Was war das? Was sollte diese seltsame, schrumpelige Wucherung dort unten? John Little zog und zerrte, gewann durch den Schmerz, der ihm durch die Lenden bohrte, zwar einen Eindruck davon, dass dieser Tumor keine Sinnestäuschung war, geriet dadurch aber nur noch mehr in Wut. Und nun zeigte dieses Ding unter seiner Bearbeitung auch noch deutliche Tendenzen, sich selbstständig zu machen.

John Little war sicherlich die erste Frau der Welt, die mit einer solchen Behinderung geschlagen war. Er hob den Kopf. In dem fleckigen Spiegel sah er ein verwirrtes Männergesicht und war sich sicher, dass es ein Trick sein musste. Ein wirklich blöder Taschenspielertrick, der auf unerfreuliche Weise mit diesem überflüssigen Fleischstück unterhalb seines Nabels korrespondierte. John Little war eine Frau und er wusste sogar genau, wie er aussah. Nicht unbedingt schön, aber sicherlich interessant mit leicht katzenartigen Zügen und langem lockigem Haar. Nur nebenbei bemerkte er, wie sich die Türe der Damentoilette öffnete und zwei Gestalten mit dem Tackern hoher Absätze eintraten. Dann erscholl schrilles Kreischen, die Absätze hämmerten eine eilige Flucht auf den Fliesenboden.

John Little schaute irritiert auf. Noch einmal wurde die Tür aufgestoßen. Dorkas wuchtete sich schnaufend hinein, packte Little am Arm und zerrte ihn heftig zum Ausgang. Als sie auf dem engen Flur waren, drangen ihnen von der Seite des Restaurants laute Stimmen entgegen.

Eine Frau wiederholte schluchzend immer wieder einen Satz, Männerstimmen mischten sich ein, mit lautem Scharren wurden Stühle zurückgeschoben.

Dorkas schaute sich hektisch um, wankte für einen Moment unentschieden auf der Stelle, dann zog er Little in die andere Richtung. Dort warf Dorkas eine Tür auf und sie flohen über einen Hinterhof voller Weinkisten und leeren Gemüsetragen.

 

Der Gasthof stand am Rand des Dorfes. Sie gelangten durch ein Tor, das Dorkas ebenso wie vorhin die Türe sorgfältig und leise verschloss, auf einen unbefestigten Weg. Obwohl Little Pumps mit hohen Absätzen und einen ziemlich kurzen Rock – einen geradezu leicht unanständigen Rock – trug, kam er zu seinem eigenen Erstaunen gut auf dem aufgeweichten Boden vorwärts. Ein wahrhaftig ziemlich unanständiger Rock. Aber wer solche Beine hatte wie Little, konnte es sich leisten. Der Gedanke, wie den Männern die Augen aus dem Schädel quellen würden, ließ Little kichern.

»Was gibt es da zu kichern?«, schnaubte Dorkas erbost. »Sie haben uns in eine völlig unmögliche Situation gebracht. Und WÜRDEN Sie jetzt bitte Ihren … ähm … Ihr Dingeling oder wie ihr Amerikaner diese Manneszierde auch immer nennt, in Ihre verdammte Hose zurückstecken? Der Anblick ist nicht besonders erbaulich.«

»Es ist ein Tumor«, verteidigte sich Little mit weiblichem Temperament. Es war unheimlich, dass sein Unterleib tatsächlich in ziemlich banalen grauen Hosen zu stecken schien.

Sie hetzten an einem Gemüsefeld entlang und gönnten sich erst eine Pause, als sie im Schutz eines kleinen Wäldchens waren.

Dorkas baute sich, soweit sich ein Mensch in der Art eines Dorkas das konnte, vor Little auf.

»Wie heißen Sie?«

»Was soll diese blöde Anmache«, fauchte Little. »Wo bin ich eigentlich. Glotz mir gefälligst nicht so unverschämt auf die Beine, du Lustmolch.«

»Wie heißen Sie?«

»Sarah, natürlich.«

»Wie bitte?«

»Sarah!«

»Nachname?«

»Hammond. Sonst noch Fragen?«

 

Nein, Dorkas hatte keine weiteren Fragen. Auch Little konnte nicht weiter nach Fragen fragen, weil Dorkas sich mit erstaunlicher Behändigkeit einen Ast griff, ihn weit ausholend über die Schulter schwang und das Holzstück, das beim Aufprall krachend zerbrach, auf Littles Hinterkopf platzierte.

Als John Little wieder das Bewusstsein erlangte, bemerkte er zuerst ein gutes Dutzend kotbespritzter Schuhe, die ihn umstanden. Ein Stimmengewirr war weit über ihm in der Höhe.

Stöhnend rieb sich Little den Nacken und zuckte zurück, als er eine eigroße Beule entdeckte. Nun konnte er den Lärmteppich, der ihn verdeckte in verschiedene Stimmenfäden auseinanderdröseln.

Dorkas radebrechte in einem Französisch, dem man die klassische Buchlektüre und das Fehlen jeglicher Sprachpraxis anhörte.

Ein Mann ging in die Knie und sprach zu Little. Der verstand nichts von dem, was gesagt wurde, aber es klang alles andere als freundlich.

Little gab dem Schmerz in seinem Nacken nach und fiel auf den Rücken. Es war kein besonders bequemer Platz, dieser französische Waldboden mit Blick auf im heftigen Wind rauschende Buchen.

In diesem Frankreich regnete es sehr viel häufiger als in den TV-Sendungen, aus denen Little bisher seine Kenntnisse über diesen wesentlichen Teil Europas bezogen hatte. Das TV-Frankreich kannte nur Pinien und Sonne und war bewohnt von sympathischen, aber unzuverlässigen Menschen, die zu viel Wein tranken, zu viel rauchten, zu politischer Überheblichkeit neigten, jede Frau flachlegen wollten und ansonsten, trotz Neigung zu Rumrederei, den unersetzlichen GI brauchten, um die Krauts aus dem Lande zu treten.

 

Die Regentropfen prasselten auf Littles Gesicht. In seinem Kopf durchdrangen unklare Impulse von Verachtung und Empörung den Schmerz. Impulse, die nicht aus ihm selbst kamen, sondern die er antennenartig aufnehmen musste. Eine erneute Ohnmacht ersparte ihm alles Weitere.

Als Little erwachte, befand er sich in der Vertikalen und wurde zwischen zwei Männern, die ihre Arme um seine Schulter geschlungen hatten, geschleift. Er ließ seinen Kopf weiter auf der Brust pendeln und betrachtete seine Schuhspitzen, die deutliche Rinnen in den weichen Boden gruben. Die Stimmung der Männer hatte sich radikal geändert. Das merkte Little nicht nur an den Emotionen, die wie Radiowellen in seinen Geist drangen, sondern allein schon an der Art, wie sie sich miteinander unterhielten und über manche Bemerkungen in Lachen ausbrachen. Vorhin hatte etwas von Lynchjustiz in der Luft gelegen. Nun kamen sie von einem kuriosen Jagdausflug zurück.

»Ich bin ein Meister der Diplomatie«, erklärte Dorkas, als Little endlich in seinem Zimmer untergebracht war. »Die Sache hätte unangenehm ausgehen können.«

»Wenn ich meinen Hinterkopf befühle, dann ist sie zumindest für mich schon unangenehm genug ausgegangen.«

»Haben Sie eigentlich eine Vorstellung, Herr Little, was ein halbes Dutzend rurale Franzosen, angefeuert von einer sehr ernst genommenen Verpflichtung gegenüber der Damenwelt mit einem Ausländer tun, der auf einer Damentoilette das eigentlich exklusiv zur Benutzung dieses Etablissements befugte Geschlecht durch Herzeigen seines Fortpflanzungsorganes belästigt? Um ehrlich zu sein, ich habe keinerlei Vorstellung, schon alleine deswegen, weil sich solche Geschehnisse bisher außerhalb meiner Daseinsmöglichkeiten abspielten. Aber nachdem ich die Herren kennengelernt habe, darf ich Ihnen versichern, Herr Little, dass ich noch sehr human mit Ihnen umgegangen bin. Ich will ja nicht gerade den Begriff Intensivstation in unser Gespräch einführen, aber einige Rippen hätten doch dran glauben müssen und für eine Woche Krankenhaus hätte es allemal gereicht.«

»Und wie haben Sie diese Rächer weiblicher Ehre zur Ruhe gebracht?«

»Indem ich ihnen erklärt habe, dass Herr John Little ein bescheuerter Amerikaner ist.«

»Das reichte?«

Dorkas ließ seinen umfänglichen Korpus in den zweiten Sessel plumpsen. Eine verborgene Polsterfeder gab einen lautes, anhaltendes Klingen von sich, und über Dorkas Kopf stieg eine sichtbare Wolke von Staub auf. Das vermochte indessen die gute Stimmung von Dorkas in keiner Weise zu mindern.

»Ein Blick in die Weltnachrichten sollte doch jedem zeigen, dass die US-Amerikaner einen ziemlichen Hau haben.«

Zwar war John Little nicht unbedingt das, was man einen Patrioten nennen würde, aber die genüssliche Art, in der Dorkas den Begriff US-Amerikaner aussprach, ärgerte ihn denn doch. Er hatte eine scharfe Antwort auf der Zunge, beherrschte sich dann aber doch und verbrauchte seine Energie, in dem er aufstand und zum Fenster ging. Schwarze Regenwolken schoben sich mit ihren wulstigen Bäuchen über den Himmel. Eine bleischwere Traurigkeit überkam Little bei diesem Anblick. Er fühlte sich klein, winzig klein und machtlos, ein bloßes Insekt im Angesicht solcher überirdischer Mächte.

»Sie haben sich eben geärgert, stimmt’s?«, klang Dorkas Stimme hinter ihm.

»Habe ich. Ihr Briten oder ihr Europäer, wenn Sie es lieber haben, solltet euch mal selbst anschauen. Ohne uns wäre euer Kontinent doch schon vor dreißig Jahren eine Sowjetrepublik geworden!«

»Stimmt. Aber ohne diesen Hitler, der seine Wissenschaftler verscheucht hatte, würdet ihr noch heute an der Atombombe basteln, und Hollywood wäre auch nur halb so interessant.«

»Wir haben um die Wissenschaftler nicht gebeten. Die sind gekommen, weil sie bei uns in Frieden leben konnten.«

»Nach dem Krieg habt ihr aber hübsch alles einkassiert, was irgendwie Waffen für die Nazis gebaut hat. Der moralische Anspruch war damals weniger hoch als heute, wenn nur die Forschung stimmte.«

»Damals gab es die Bedrohung durch Stalin.«

»Denn ihr Amerikaner mit euren Waffen groß gefüttert habt.«

»Damit ihr Engländer nicht unter einem Nazi-Nagelstiefel leben musstet.«

»Oh, der alte Adi hatte einen Narren an den Engländern gefressen, vielleicht hätten wir uns gut verstanden.«

»Einen Narren an den Engländern gefressen? Das zeigt nur, das sein Hirn dem einer britischen BSE-Kuh geähnelt haben muss!«

»Nun werden Sie unfair, Herr Little!«

»Wem gegenüber, Hitler oder dem Rindvieh?«

»Geburtsbedingt stehe ich im Zweifelsfall immer auf der Seite der britischen Kühe. Aber das ist jetzt nicht unser Thema. Ich bemerke jedenfalls mit Genugtuung, dass Sie sich bemüßigt fühlen, die Stars ‘n Stripes gegen britische Pöbeleien zu verteidigen.«

»Machen Sie jetzt für die CIA einen Patriotismustest?«

»Mitnichten. Ich will nur wissen, ob mein Schlag gesessen hat.«

»Wollen Sie mal die Beule anfassen?«

»Weder Ihre Beule noch irgendetwas anderes, um das mal klarzustellen. Im Übrigen ist diese Beule auch nur ein sichtbares Zeichen für eine eher innere Umwandlung.«

»Muss ich das jetzt verstehen?«

»Was meinen Sie, haben Sie geantwortet, als ich Sie kurz vor dem Schlag nach Ihrem Namen fragte?«

Little zuckte die Schultern und hoffte auf eine schnelle Antwort, aber Dorkas ersparte ihm nicht die Peinlichkeit eines längeren Schweigens.

»Ich weiß nicht, was ich antwortete«, bekannte Little schließlich. Es klang kläglich.

»Sie nannten sich Sarah Hammond.«

»Ich kenne keine Sarah Hammond.«

»Aber Sie werden doch noch wissen, wie Sie sich gefühlt haben. Ich meine, jeder Mensch hat doch ein bestimmtes Selbstbild und macht keine erstaunten Augen, wenn er sich im Spiegel sieht.«

»Muss das jetzt sein? Ich würde die Sache lieber vergessen.«

»In diesen Tagen ist das Vergessen ein unerlaubter Luxus. Setzten Sie sich und versuchen Sie, sich zu erinnern.«

Nach einer Weile, in der Little stumm auf seinem Platz hockte und zuletzt nur seine Schläfen mit den Zeigefingern massierte, sagte er: »Ich kam mir ziemlich sexy vor.«

Dorkas grunzte mit einer Mischung aus Missbilligung und Sarkasmus. »Sexy ist ein unerträglicher dummer Begriff, auch wenn er in den britischen Boulevardblättern das meistgenutzte Wort ist«, befand er dann. »Nein, das reicht nicht. Wie sahen Sie aus. Was erwarteten Sie im Spiegel?«

 

Am Ende des Verhörs ließ sich Little erschöpft zurückfallen und versuchte, den hämmernden Schmerz in seinem Schädel zu ignorieren und Dorkas saß vornübergebeugt in seinem Sessel und knetete seine Finger.

»Kannten Sie Sarah Hamilton?«, fragte Little.

»Sie hieß Hammond. Ja, in gewisser Weise ist sie eine gute Bekannte. Die Beschreibung, die Sie abgegeben haben, passt ziemlich genau auf diese Frau. Obwohl ich mich wundere, dass diese Dame sich in kurzem Röckchen blicken ließ. Nun ja, auf der anderen Seite passt es wieder. Männliche Wesen fahren angeblich auf so was ab, also war es wohl für sie leichter, innerhalb dieses Bildes in Ihr Bewusstsein einzudringen. Außerdem hat diese Dame angeblich ihre durchaus reichlich vorhandenen Reize eingesetzt, um Männer für ihre diversen Ritualen einzuspannen.«

»Rituale? Was ist diese Sarah Hamm …«

Little unterbrach erstaunt seinen Satz, als Dorkas den Zeigefinger auf die Lippen legte und posaunenbackig ein Pschttt blies.

Nachdem Little mit diesem seltsamen, manchmal eher unfreiwillig komischen Menschen namens Dorkas eine ganze Weile unterwegs war, hatte er auch eine Reihe von Geschichten und Geschichtchen aus dessen Leben gehört. Der Fall Sarah Hammond war ihm allerdings unbekannt und so war es an Dorkas, die Geschichte zu erzählen, wobei er sorgfältig das Aussprechen des Namens vermied und nur mit einer gewissen gewollten Boshaftigkeit von dieser Dame sprach. Für Dorkas handelte es sich um einen eindeutigen Fall von Besessenheit, die durch die spezielle psychische Konditionierung Littles erleichtert worden war. Vermutlich, so spekulierte Dorkas, hatte diese Dame noch mehr vor, als Little und damit Dorkas in eine unendlich peinliche Situation zu bringen. Sie wollte Little und Dorkas ans Leder.

»Schlussfolgerung a: Sie hat ihre Aufmerksamkeit auf uns fokussiert. Sie kann nicht überall sein. Sie ist nicht Gott. Sie hat eine Präsenz, die für uns unvorstellbar ist und dennoch ist sie beschränkt in ihrem Wesen.« Dorkas lief aufgeregt hin und her, während er diese Sätze, scheinbar mehr für sich als für einen Zuhörer, sprach. Den Kopf zum Boden gesenkt und mit den Armen gestikulierend ähnelte Dorkas einem engagierten, etwas weltfernen Professor, der vor einem Universitätsseminar die Feinheiten der neuplatonischen Philosophie darlegt.

»Schlussfolgerung b: Warum diese ganze Mühe? Antwort: Weil wir ihr in die Quere kommen!

Frage: Inwiefern kommen wir dieser Dame in die Quere? Weil wir dieses ominöse Internat in der Schweiz gefunden haben, voller wundervoller Mädchen aus aller Welt, die dort höchst geheimnisvoll erzogen werden, keinen Kontakt zur Außenwelt haben, per Helikopter ein- und ausgeflogen werden? Wohl kaum. Oder weil wir wissen, dass die knackige Blondine, die behauptet, Herr Tanner habe ihren Unterleib unrechtmäßigerweise zum Zwecke des eigenen Lustgewinns in Benutzung nehmen wollen, ein Täubchen aus diesem Schlage war? Wohl auch nicht. Aber was dann?« Dorkas klatschte in die Hände, dass Little zusammenzuckte und sich dem ausgestreckten Dorkas’schen Zeigefinger gegenübersah. »Die Antwort lautet: Weil wir nach Concressault wollen.«

»Ich weiß nichts davon, dass wir nach Concressdings wollen.«

»Jetzt wissen Sie es. Natürlich wussten Sie es nicht. Wie auch? Ich sagte Ihnen ja nichts. Aber diese Dame wusste es. Woher? Weil Sie meine Gedanken lesen kann? Vielleicht.

Vielleicht war es aber nur ein Impuls, der von dem Namen Concressault ausging, verstehen Sie. Ungefähr so, als hätte einer in einer Menschenmenge Feuer gerufen. Ein Stichwort. Ein Reizbegriff. »

»Was ist mit Concressault, das für Sie und mich und diese Dame so wichtig ist.«

»Das Musee de la Sorcellerie«, dröhnte Dorkas theatralisch.

»Ein Museum, klar. Aber wofür?«

»Ein Hexenmuseum.«

»Ach so, jetzt sehe ich klarer. Sie meinen, diese Dame will uns nicht in dem Museum sehen.«

»Im Prinzip richtig, aber nicht ganz exakt. Der Grund, der mich dorthin treibt, ist nämlich ein spezieller. Ich will mir keine Rezepte für Kräutersalben holen oder mich über die Hinrichtungsmethoden des Mittelalters informieren.«

»Was treibt uns dann in diese Gegend?«

»Der Grand Albert«, flüsterte Dorkas.

»Ein König? Ein Grabmal? Ich verstehe nicht.«

»Der Grand Albert ist das berüchtigte Meisterwerk der Hexenkunst. Eine Sammlung aller Sprüche, Rezepte, Rituale, die die französischen Hexen und Hexer jemals nutzten.«

»Das klingt ziemlich nach einer Illustriertengeschichte.«

»Werter Herr!«, Dorkas stemmte die Hände in die Hüften und holte tief Luft, sodass Little vorsichtshalber den Nacken einzog. »Erstens, wo steht geschrieben, dass in Illustrierten nicht die Wahrheit stehen kann? Weil sie viele bunte Bilder zeigen? Warum glaubt die Masse der heutigen Konsumenten, deren Hirnlosigkeit Sie sich zuweilen anzuschließen zu belieben scheinen, werter Herr Little, denn dem Fernsehen? Weil es noch mehr Bilder zeigt? Und sich nicht mal die Mühe macht, den Kunden durch geschriebene Zeilen zu belästigen? Soviel zum Grundsätzlichen. Zweitens: Ohne mich selbst hervorheben zu wollen, pflege ich meine Kenntnisse aus sicheren Quellen zu schöpfen. Sagt Ihnen Jean Bodin etwas?«

»Jean Bodin? Nein, sagt mir absolut nichts, der Namen.«

»Jean Bodin – er lebte, nun ja, die genauen Daten kriege ich aus dem Kopf nicht zusammen, aber sagen wir 16. Jahrhundert. Franzose, Philosoph, Schriftsteller. Er sammelte eine Unmenge Belege für die Wirksamkeit von Magie und Hexerei und forderte schwerste Strafen für die Durchführung dieser zauberischen Manipulationen. Und er, der heute als wichtige Quelle für den Hexenglauben seiner Zeit gilt, erwähnte schon, nun raten mal Herr Little, richtig, er erwähnte schon den Grand Albert.

»Und daher glauben Sie also auch an die Existenz dieses Grand Albert?«, erkundigte sich Little und schaffte es nicht, den leisen Spott aus seiner Stimme zu verbannen.

»Bisher nicht völlig, Sie amerikanischer Skeptiker. Bodin und die anderen könnten natürlich einem abergläubischen Geflüster aufgesessen sein, Hexenpropaganda. Die Hexerei hatte und hat ja immer auch was mit Business zu tun. Aber jetzt, jetzt glaube ich nicht nur, jetzt weiß ich. Denn nur darum hat diese Dame ihren Ablenkungsversuch gestartet. Weil sie fürchtet, wir könnten den Grand Albert in die Finger bekommen. Und warum, frage ich in aller angemessenen Bescheidenheit, hat die hohe Dame in ihrer Überwelt Fracksausen? Weil ich damit eine Waffe gegen sie in die Finger bekomme. Weil ich sie lahmlegen kann. Weil ich sie bekämpfen kann.«

»Aber sie hat mich als Opfer auserkoren.«

»Selbstverständlich. Diese Dame ist ja nicht blöde. Sie weiß genau, dass es einfacher ist, in den mit Verlaub gesagt zuweilen leicht verwirrten Geist von John Little einzudringen als in denjenigen des Dorkas’, weil selbiger sich nämlich vorsieht. Verstehen Sie? Konzentration, geistige Hygiene, Bewusstsein als bewusstes Sein, die Haltung des Kriegers. Sie waren das einfachere Opfer. Und damit hätte diese Dame auch mich erledigt. Weil sie genau wusste, dass ich den Herren Little in meiner altweltlichen Betulichkeit nicht einfach allein lassen würde. Im Grunde waren sie sogar der bessere Weg, mich zu behindern.«

»Und was tun wir nun? … Ich sollte mich vielleicht entschuldigen …«

»Nur nicht.« Dorkas’ Hand wedelte vor Littles Gesicht, als gelte es, einen Fliegenschwarm zu verscheuchen. »Dieses Entschuldigen und Bedauern ist eine ausgesprochene Unart, überflüssige Peinlichkeit und überhaupt eine unangemessene Haltung des Geistes. Die Vergangenheit werden Sie nicht mehr ändern. Wer bedauert, beschäftigt sich zu sehr mit dem abgelebten Leben und lässt sich selbst davon fesseln. Gewissensbisse sind Insekten, die Sie zum Opfer machen. Nein, lernen und besser machen, das ist die rechte Haltung. Dann ersparen wir uns dieses weibische Es tut mir ja so leid, verzeihst du mir Geseire.«

»Ich habe verstanden.«

»Schön. Haben Sie Hunger?«

»Mir knurrt der Magen wie ein Rudel Wölfe.«

»Sehr gut, sehr gut. Die natürlichen physischen Reaktionen dringen durch. Ihnen ist hoffentlich klar, dass Sie heute nichts mehr essen werden?«

»Und wo gehen Sie hin?«

»Ins Restaurant, was essen. Ich will doch nicht verhungern!«

 

Die Nacht war für John Little anfangs nicht die beste. Es lag nicht nur am infernalischen Schnarchen, das aus Dorkas nebenliegendem Zimmer herüberdrang, auch nicht einmal an seinem knurrendem Magen. Aber dieser Kreis, den Dorkas um sein Bett gemacht hatte, war wirklich etwas störend. Oder, um der Genauigkeit Genüge zu tun, es war nicht der Kreis selbst, sondern das Badesalz, das diesen Kreis bildete, und das einen künstlichen Duft nach Erdbeeren ausströmte, den Little in seinen besseren Zeiten als schwuchtelig bezeichnet hätte. Dann aber schlief Little doch ein und sein Schlaf war traumlos, tief und fest, sodass er sich, als Dorkas gegen seine Türe pochte, dennoch ausgeschlafen fühlte wie selten in den letzten Jahren.

Da Dorkas ein Frühstück organisiert hatte, war Little geneigt, ihm das Wecken zu verzeihen, zumal es schon später Vormittag war. Sie frühstückten in aller Ausführlichkeit und gönnten sich mehrere Kannen Kaffee, da Dorkas versicherte, der Tee, den sie hier zubereiteten, sei ungenießbar für englische Geschmackspapillen und vermutlich sogar gesundheitsschädlich und zum Wahnsinn führend. Als die beiden Männer ihr Gepäck in dem bereitstehenden Taxi verstauten, saßen schon einige Gäste beim Mittagstisch. Little war froh, dass er sich schon in das Taxi setzen konnte, während Dorkas die Rechnung bezahlte. Erst als sie aus dem Ort fuhren, fiel eine nervöse Spannung von Little ab. Mit dem Ortsschild verschwand auch die überaus peinliche Exhibitionisten-Episode aus seinem Leben.

 

Aus Gründen, die er Little nicht mitgeteilt hatte, die aber keineswegs ökonomischer Art waren, hatte Dorkas mit dem Fahrer eine Strecke nach Nohant abgesprochen, die durchwegs über Nebenstraßen führte. Die beiden Passagiere saßen im Fond und schauten halb dösend aus dem Fenster, während das Citroën-Taxi auf den welligen Pisten die Vorteile seiner Luftfederung demonstrieren konnte. Die Landschaft war wenig geeignet, die etwas gedämpfte Stimmung zu verbessern. Heidegestrüpp wechselte mit Buschwerk ab, Seen mit breiten, sumpfigen Uferrändern wurden sichtbar und verschwanden hinter der nächsten Wegbiegung.

Alles strahlte eine Melancholie aus, die wie ein ungeliebtes Gewürz den Geschmack des Tages bestimmte. Immerhin hatte es aufgehört zu regnen, von Zeit zu Zeit strahlte sogar die Sonne aus einem frisch blauen Himmel und bemühte sich um eine Hebung der Stimmungslage, aber gleichzeitig zogen wieder Wolken über den Himmel, in denen auch eine weniger erregbare Vorstellungskraft als die des John Little monströse, bedrohliche Wesenheiten entdeckt haben würde.

Little schaute unauffällig zur Seite. Neben ihm saß Dorkas, die Arme über dem Bauch gefaltet und mit einem Kopf, der bei jeder Wagenbewegung ins Schwanken geriet und darum kämpfen musste, nicht auf die Brust zu fallen. Das monotone Rauschen der Räder und das trockene Brummen des Dieselmotors taten ein Übriges, um die Gedanken in einem zähen Brei von Schläfrigkeit stecken bleiben zu lassen.

 

Diese Landschaft hatte nichts Großartiges oder Sehenswertes, sie war einfach da und drückte auf seine Laune. Er schloss die Augen, genoss es, sein Bewusstsein tiefer und tiefer abtauchen zu lassen, bis es die Schwelle zum Schlaf durchbrechen würde. Die Geräusche rückten in die Ferne, wurden durch eine wattige Entrückung gefiltert, bevor sie in das Ohr drangen. Von irgendwoher vernahm Little aber einen Warnton. Das schrille Kreischen einer verborgenen Sirene. Schon wollte er wieder die Augen öffnen und nach der Ursache schauen, als ihm klar wurde, dass dieser Impuls nur in seinem eigenen Bewusstsein existierte. Ein Echo der Unruhe vielleicht, die sie nicht verlassen hatte, seit Little die Besessenheit erfahren hatte.

Oder doch etwas anderes. Little zuckte zusammen und fuhr auf, sodass auch Dorkas durch diese Bewegung aufmerksam wurde und zu ihm herüber schaute. Eine unveränderte Landschaft. Eine unveränderte Straße mit leichten Wellen und leichten Kurven, ein unveränderter Fahrer, der die Daumen um den unteren Teil des Lenkrades geklemmt hatte und mit kleinen, lässigen Bewegungen dem Straßenverlauf folgte. Die Unruhe auf der Rückbank machte auch ihn aufmerksam, er griff fester zu und setzte sich aufrechter.

 

Dann schrie Little und weniger die Lautstärke als der Klang ließ alle zusammenfahren.

Und dann tauchte hinter einer Kuppe ein Betonwagen auf, berührte mit seinen Reifen zuerst die weiße Mittellinie, rutschte dann wie auf Schienen auf die Gegenfahrbahn und das Taxi bremste zuerst mit blockierenden Rädern und zog dann im letzten Moment zur Seite.

Dennoch kam es zum Zusammenprall. Der Koloss erwischte das Heck des Pkw, zuerst gab es einen dumpfen Aufprall, dann kreischte Blech und das Taxi wurde herumgewirbelt. Die Insassen konnten durch die Frontscheibe sehen, wie der Betonlaster durch den Straßengraben brach und dann eine tiefe Spur durch das Kraut zog, bis er gegen eine Weißdornhecke prallt und zum Stehen kam.

Der Taxifahrer fluchte mit sich überschlagender Stimme und hämmerte auf die Hupe. Die beiden Männer hinter ihm schauten sich an und nickten sich zu.

Dorkas klopfte Little wortlos auf die Schulter. Der nahm es wie eine hohe Auszeichnung.

»Herzschlag«, sagte der Polizist eine Dreiviertelstunde später. »Über fünfzig, selbstständig, Stress.« Er zuckte die Schultern und ging, einige Personalpapiere in der Hand, zu seinem Wagen.

Dorkas, Little und der Fahrer, der über Funk Polizei und Arzt gerufen hatte, standen neben dem Taxi und schauten auf die ablaufende Routine. Ein Leichenwagen hielt neben den Einsatzfahrzeugen, ein lebloser Körper wurde aus dem Führerhaus gehoben – dazu waren sechs Männer nötig, anscheinend kam der Faktor Übergewicht noch den anderen hinzu, die der Polizist aufgezählt hatte – und in einem Metallsarg untergebracht. Der wurde geschickt von zwei Männern in Handwerkerkitteln in den Wagen geschoben, dann knallten die beiden Hecktüren zu und der Wagen fuhr davon.

»Ist Ihnen was aufgefallen«, fragte Dorkas, an Little gewandt.

»Was soll mir aufgefallen sein?«

»Die Temperatur.«

»Die Temperatur? Ich verstehe nicht.«

»Die Temperatur. Die Kälte. Es ist vorhin äußerst kühl gewesen, obwohl die Sonne schien. Jetzt ist die Sonne hinter Wolken verschwunden, aber die Luft ist wärmer.«

»Ich hielt es für einen Effekt des Schocks, den wir erlitten haben. Aufgefallen ist es mir auch.«

»Kein Schock«, sagte Dorkas entschieden. »Als sie gestern in Ihrer Eigenschaft als … diese Dame … auf der Damentoilette waren, ist mir auch sofort die kühle Luft aufgefallen.

Man konnte sogar sehen, wie der Atem kondensierte.«

»Sie meinen, diese Kälte …?«, fragte Little unbehaglich.

»Ohne Zweifel. Kälte ist ein immer wieder dokumentiertes Begleitphänomen paranormaler Erscheinungen. Aber in den berichteten Fällen ging es immer um geschlossene Räume.

Das hier, in der freien Landschaft, ist ein Zeichen für den extremen Einfluss, den diese Dame erlangt hat.«

»Sie lehnen es ab, auch nur ansatzweise an einen Zufall zu glauben?«

»Selbstverständlich«, antwortete Dorkas, als müsse er ein unanständiges Angebot zurückweisen. »Ich halte sowieso nichts davon, an Zufälle zu glauben. Zufälle nennen wir Geschehnisse, deren Ursachen und Zusammenhänge wir nicht kennen. Aber einen Maulwurf befragen Sie ja auch nicht, um die Schönheit eines Sonnenunterganges zu erfahren. Ich würde nur gar zu gerne wissen, ob diese Dame damit ihr Pulver verschossen hat.«

»Das will ich doch sehr hoffen.«

»Ich fürchte, Herr Little, diese Wesenheit nimmt weder auf Ihre noch auf meine Wünsche Rücksicht. Ah, da kommt ja unser neues Taxi.«

 

Das Gepäck wurde umgeladen, es gab ein längeres Palaver, weil Dorkas darauf bestand, die bis hierhin zurückgelegte Strecke zu bezahlen, was der Fahrer wiederum ablehnte, der den Unfall, so glimpflich er im Grunde für die Taxinsassen ausgegangen war, als persönlichen Makel empfand. Die Diskussion war temperamentvoll und geriet schließlich, von Dorkas geschickt gelenkt, in die Fahrwasser eines persönlichen Plausches.

La Berriaude bei Nohant, erklärte der Fahrer, sei zum Essen sehr zu empfehlen. Eine wirkliche Adresse in der Welt der Gourmets. Ja, das Hexenmuseum kenne er auch. Nicht aus eigener Anschauung, aber vom Hörensagen. Nein, natürlich sei das alles Aberglaube. Ja, die Leute seien hier vielleicht ein bisschen abergläubisch, das könne man schon sagen. Aber wo seien sie das nicht? Die Italiener mit ihren komischen Möhren am Rückspiegel oder diese Plaketten mit diesen Heiligen, Santa Sowieso und Santo Irgendwas, die auf den Armaturenbrettern pappen. Nein, er persönlich natürlich nicht … ja, einen Prozess habe es gegeben, aber er könne sich nicht genau erinnern. Und vor fünfundzwanzig, dreißig Jahren war einmal ein großer Artikel in Paris Match gewesen, die Hexen von Frankreich oder so.

»Ihr Verhör war wohl nicht besonders erfolgreich«, bemerkte Little, als sie schließlich in dem neuen Taxi den Weg in Richtung Nohant weiterfuhren.

 

»Oh, ich bin zufrieden«, antwortete Dorkas knapp. Die damit unvermeidlicherweise erweckte Neugier Littles wollte er aber nicht befriedigen, sondern schaute eher verbissen nach draußen. Inzwischen war es schon dämmrig, und sie mussten entgegen ihrer ursprünglichen Planung in Nohant nächtigen. Erst das Menü im La Berriaude konnte Dorkas aus seinem Schweigen reißen.

»So haben ungeplante Unterbrechungen auch ihr Gutes«, orakelte er weise und ließ sich ein Häppchen Wildgeflügel auf der Zunge zergehen. Der einzige Störfaktor war das Mineralwasser, weil Dorkas strikt darauf bestanden hatte, keinen Alkohol zu sich zu nehmen.

Dass Little sich anschloss, war selbstverständlich.

Sie saßen in unmittelbarer Nachbarschaft einer französischen Familie. Obere Mittelklasse, schätzte Little.

Der Vater mit schon ergrautem Schnurrbart und stolz getragenem Bäuchlein, die Mutter dank ihrer Schminkkunst immer noch ansehnlicher als ihr das Alter und die Natur gegönnt hätte, daneben eine halbwegs hübsche, ziemlich schnippische Tochter und ein Sohn, der beim Sprechen immer wieder mit der Unbill des Stimmbruches zu kämpfen hatte und in der Tonlage zwischen männlich-tief und knabenhaft-hell pendelte.

Little lehnte sich zurück, versuchte, die Gedanken aus seinem Bewusstsein zu verbannen und lauschte auf die Impulse, die von dem Jungen ausgingen. Es war nichts als ein unterhaltsames Spiel, harmlos wie das Belauschen eines Gespräches in einem Eisenbahnabteil. Ein Blick in ein Kaleidoskop – Bilder, begleitet von Gefühlen und Empfindungen. Jedes Mal, wenn der Junge den Kopf drehte, verspürte Little die feinen Änderungen der Empfindungen: Der Vater – er hatte Angst vor dem Mann, empfand so etwas wie Komplizenschaft und er verachtete ihn. Seine Mutter: Nichts, sie hätte ein Schrank sein können, allenfalls lästig mit ihren ständigen Anweisungen, Nachfragen, Ratschlägen; die Schwester – Little drückte instinktiv die Fingerspitzen an die Schläfen und begann die Haut zu massieren.

Was er nun registrierte, war anders. Kein Kaleidoskop mehr, kein Spiel. Die plötzliche dumpfe Kälte eines tiefen Kellers.

Little wollte die Verbindung unterbrechen. Zu spät. Er klebte fest. Die Schwester – eine tückische, hinterhältige Nervensäge. Er hasste seine Schwester, die Verbündete seiner Mutter.

Mamam, Lucien hat wieder … Aber seine Schwester war eine Frau. Er beobachtete sie heimlich im Bad. Er schnüffelte in ihrer Kleidung, die sie vor der Waschmaschine abgelegt hatte. Manchmal, wenn er alleine war, zog er ihre Sachen an und betrachtete sich im Spiegel.

 

Little stöhnte.

Der Junge schaute zur Seite. Dort war die Bedienung. Ein junges Mädchen in weißer Bluse, schwarzer Weste, kurzem schwarzem Rock. Appetitlich wie ein besonders köstliches Praliné. Der Junge starrte ihren Rücken an. Little spürte, wie Zorn aufwallte. Sie hatte alles, was dieser Junge begehrte. Mehr noch – sie war es. Sie war eine Frau. Sie lebte als Objekt der Begierde, sie trug die Lust mit sich, die sie ihm verweigerte. Sie war ihm überlegen. Sie hatte den Körper, den er begehrte, das Gesicht, die Haare, die Stimme, die Bewegungen. Wenn er sie wäre, brauchte er sich nur vor den Spiegel zu stellen, um vollkommene Befriedigung zu erlangen. Er hasste sie für ihre Vollkommenheit. Er hasste sie. Hitze stieg auf. Aufbrausender Zorn. Aufblitzende Bilder der Gewalt. Ein Geruch nach verfaultem Fisch, Gefühl verschwitzter Haut, Zittern angespannter Muskeln, schwellende Adern, in denen das Blut pocht. Wut.

 

Ein Tritt gegen Littles Schienbein ließ Schmerzimpulse durch seine Nervenbahnen fauchen und brachte ihn zurück zu sich selbst.

»Sie stöhnten so … ich dachte es wäre das Beste, Sie auf diese Weise …«, sagte Dorkas.

»Verbindlichsten Dank. Es war höchste Zeit.«

Dorkas verzichtete mit unerwarteter Feinfühligkeit darauf, Little über die Ursache seines Anfalles im Restaurant auszufragen. Little selbst hatte sich sehr schnell wieder gefangen, zumal die Familie am Nachbartisch nach einigen Minuten ihr Mahl beendete und das Restaurant verließ. Er schaute hinter dem Jungen her, bemerkte, dass dieser, trotz seiner schlechten Haltung mit vornüber hängenden Schultern, seine Eltern und seine Schwester schon um einen halben Kopf überragte. Er war älter, als Little vermutet hatte. Siebzehn zumindest- trotz der krähenden Stimme. Der Junge wandte sich um und warf einen Blick in Richtung der Bedienung, die sich in diesem Moment über einen Tisch beugte. Ein letztes Mal drang ein Fäulnisgeruch nach Geschlechtlichkeit in das Bewusstsein Littles, dann drängte die Mutter mit einem Wo bleibst du schon wieder, Lucien, und von der Tür kam die leicht quengelnde Stimme der halbhübschen Schwester, die auch noch eine Bemerkung loswerden musste.

Little schaute Dorkas an. »Ein Monster«, sagte er dann.

»Sie meinen den Knaben, der seinen Pubertätsmief mit zu viel Deodorant überspielen wollte, nehme ich an?«

»Den meine ich.«

»Er ist dabei ein Mann zu werden, was schlimm genug ist. Aber Monster? Sie sollten mit dem Begriff vorsichtig umgehen, sonst fehlt Ihnen eines Tages die Bezeichnung für das, was Ihnen begegnet.«

»Sie wissen ja nicht, was ich gesehen habe.«

»Sicherlich weiß ich das nicht, Herr Little. Ich kann auf das Vergnügen übrigens liebend gern verzichten. Aber egal, was Sie zu erkennen glaubten, bedenken Sie, dass es einen Bereich gibt, in uns allen, den wir nur deshalb ertragen, weil wir wissen, dass er uns alleine gehört. Genauso wenig, wie wir bei gewissen Verrichtungen der körperlichen Hygiene beobachtet werden wollen, würden wir es ertragen, wenn das, was in diesen Grotten unserer Seele lebt, ans Licht käme. Seien wir als optimistisch, dass dieser Knabe in spätestens zehn Jahren die Figur seines Vaters, einen sicheren Job und ein einigermaßen gefestigtes Weltbild hat. Dass er also – kurz gesprochen – das Gegenteil von mir wird.«

 

In der Nacht erwachte Little, weil er ein Geräusch gehört hatte. Das heißt, er erwachte und war sich sicher, dass dieses Erwachen etwas mit einem Geräusch zu tun haben musste. Er lauschte, aber in dem dunklen Zimmer war es völlig still. Nachdem er eine Weile gehorcht hatte, vernahm er das Ticken seines Reiseweckers und das Geräusch eines vorbeifahrenden Autos. Er war sicher, dass es nicht dieses Geräusch gewesen war, das ihn aus dem Schlaf geholt hatte. Eigentlich wollte er nun weiterschlafen, aber dazu musste er sich auf die Seite drehen. Und darauf hatte er keine Lust. Das wäre viel zu anstrengend. So blieb liegen, wie er erwacht war, auf dem Rücken, die Hände gerade neben dem Oberkörper ausgestreckt.

Ihm kam der Gedanke, dass diese Position für einen Schläfer ziemlich unbequem schien und unwillkürlich an die ruhende Figur auf einem Grabmal erinnerte, das sie am vorletzten Tag in einer kleinen Kirche besichtigt hatten. Nun wurde ihm bewusst, dass er tatsächlich unbequem lag, und er fasste nach längerem Nachdenken den Plan, die Position doch zu ändern. Dennoch blieb er starr und unbewegt liegen, weil er merkte, dass sich sein Körper völlig von allen Befehlen seines Gehirns losgelöst hatte. Der Gedanke, sich umzudrehen, tobte noch eine Weile, wie ein General, dem die Truppen den Gehorsam verweigern, dann hörte Little ein anderes Geräusch und konzentrierte sich schlagartig.

Wo es herkam, war nicht festzustellen. Nicht einmal die Art des Geräusches war für ihn eindeutig auszumachen. Es hatte etwas leise Schabendes, Raspelndes und verstohlen Mahlendes. Als Little sich zu erinnern suchte, wo er schon einmal solche Töne gehört hatte, fiel ihm noch langer Zeit ein Film ein. Es war ein Kulturfilm gewesen, die Art von Streifen, in die jeder Lehrer seine Schüler mit gutem Gewissen führen darf, und er handelte von Insekten. Es gab eine Szene, in der ein in der Vergrößerung monströs erscheinendes Tier, eine Gottesanbeterin, eine Beute zerteilte und verschlang. Und aus den Lautsprechern des Kinos war exakt ein solches Geräusch gedrungen, wie es Little in diesem Moment vernahm. Unwahrscheinlich, dass hier im Zimmer so ein Kerbtier sitzt und frisst, dachte Little. Aber dieser Gedanke wurde von der überwältigenden Wirklichkeit überdeckt, die in dem deutlich hörbaren Geräusch lag.

Eine Maus, dachte Little noch. Es könnte eine Maus sein. Er konnte den Kopf nicht wenden, aber zumindest die Pupillen konnte er zur Seite drehen, wo sie jedoch nichts erfassten als Dunkelheit.

 

Das Knistern und Raspeln hielt unverändert an. Langsam, ohne sein Zutun, sogar gegen seinen Willen, entstand in Littles Kopf ein Bild. Die Dunkelheit hatte nichts Verbergendes mehr, er konnte nun deutlich erkennen, dass die scheinbar undurchdringliche Schwärze nichts anderes war als ein Lebenselement, so wie das Wasser für die Fische. Und eines der Wesen, die durch die Dunkelheit lebten, saß neben ihm. Deutlich erkannte Little riesige, glänzende Facettenaugen, in denen sich nun seine liegende Gestalt widerspiegelte. Kieferzangen öffneten und schlossen sich, lang gestreckte, dürre Glieder mit knorpelig hervorstehenden Gelenken führten in mechanischer Wiederholung ihre Bewegungen aus. Was mochte dieses Wesen sich gerade einverleiben, dachte Little. Im nächsten Moment gewann er auch darüber Klarheit, denn aus der Art des Geräusches konnte er nun auf Farben schließen. Ein helles Rot kam ihm in den Sinn. Blutrot. Entsprungen aus einer festen Masse, die unter dem Zangengriff des Wesens bebte, bevor sie in Fetzen auseinanderriss. Fleisch. Und als das Raspeln und Schaben weiter anhielt, erkannte Little, dass nun sein Fleisch im Griff der Zangen war. Millimeter um Millimeter schabten die stahlharten, bedächtigen und so hinterhältig vorsichtigen Glieder seine Haut ab. Fast sanft, wie Wind, der Sandkörner von einem Stein weht. Die Hautschichten wurden abgetragen, das Muskelgewebe, die Eingeweide; die Knochen schwanden, bei jeder Bewegung des Wesens um hauchdünne, durchsichtige Blättchen vermindert. Schließlich war John Little nur noch ein Bewusstsein, das körperlos in der Luft schwebte. Bis hierhin hatte er diese Empfindung mit Neugierde verfolgt. Nun aber merkte er mit wachsender Unruhe, wie die Wände des Zimmers langsam schwanden und sich um ihn Weite und Einsamkeit ausbreiteten.

Das Haus löste sich auf, die Stadt, der Kontinent, der Erdball schließlich, bis das Universum eine einzige von Unendlichkeit zu Unendlichkeit ragende Leere wurde. Der Gedanke an diese Grenzenlosigkeit, in der er schwebte, hatte für Little schon etwas Grauenvolles. Zwischen ihm und dieser Leere gab es keine Barriere. Nichts außer der Illusion, dass er Ich, John Little war, und einigen Erinnerungen, die diese Vorstellung unterstützen konnten. So lag er regungslos und nur schwach atmend, bis die Dämmerung kam, im Hotel Wasserleitungen rauschten und ein Servierwagen über den Gang klapperte. Dann erst wagte Little, sich zu regen. Er begab sich unter die Dusche und ließ eine halbe Stunde lang das heiße Wasser über seinen Körper rinnen, als müsste er sich selbst beweisen, dass seine irdische Hülle Substanz und Festigkeit hatte.

Fortsetzung folgt …