Der Detektiv – Band 29 – Die Menam-Brüder – Kapitel 4
Walter Kabel
Der Detektiv
Band 29
Kriminalerzählungen, Verlag moderner Lektüre GmbH, Berlin, 1920
Die Menam-Brüder
Wer bleibt Sieger?
Es war halb zwölf, als wir wieder an Bord unseres schwimmenden Fremdenheims angelangt waren.
»Wir wollen uns jetzt auf das Kommende etwas vorbereiten«, meinte Harald. »Ich werde mir in den Ärmelaufschlag mein geöffnetes Federmesser stecken. Tu dasselbe bitte. Man kann nie wissen, was passiert. Dann setzen wir unsere weichen Reisemützen auf, verbergen darunter unsere Pistolen und ziehen die Mützen recht fest über den Kopf. Ich denke das wird genügen.«
Ich hätte gern gefragt, wohin wir uns nun begeben würden. Aber ich fürchtete Harsts gewohntes, vorwurfsvolles »Aber Max Schraut! Weißt du es noch nicht?«
Ehrlich: Ich wusste es nicht! Ich hatte wohl einen Moment an die Prau gedacht, diesen Gedanken dann aber wieder verworfen, denn der alte Kasten von Schiffsrumpf war ja nach Harsts Behauptung ein offizielles Schiff, diente Polizeizwecken.
Wir ketteten nun das Kleinste der Boote von der Schiffstreppe los, so einen aus drei Brettern zusammengeschlagenen Kahn, den man in Deutschland Seelenverkäufer nennt. Diese Dinger kippen sehr leicht. Nur ein Geübter vermag darin sicher die Ruder zu handhaben. Nachher sah ich ein, wie schlau Harst gerade diesen Nachen gewählt hatte.
Der noch vor einer Stunde klare Himmel war nun dicht bewölkt. Es drohte mit Regen. Die Luft war schwül und von Elektrizität gesättigt. Eine düstere Beleuchtung lag nun über dem Fluss. Der Menam sah unheimlich aus. Wir stiegen ein. Harst ruderte. Es begann zu tröpfeln. Bald war es ein kleiner Wolkenbruch. Harald hielt auf das nahe Westufer zu, schwenkte dann links zwischen zwei Flößen ab und näherte sich der Prau.
Also doch die Prau! Wir waren noch fünf Meter von der Schiffsleiter entfernt, als Harst auf seiner Ruderbank zu weit nach links rutschte. Ich schrie auf. Der Nachen schöpfte Wasser, lief im Augenblick voll.
Harst fluchte laut. »Vorwärts – retten wir uns nach der Leiter der Prau hin!«, rief er. »Wenn ein Krokodil …«
Er schwamm der Leiter zu. Ich folgte. Wir kletterten auf das Deck des abgetakelten Seglers. Nirgends eine Menschenseele. Harst schritt auf den hohen Heckaufbau zu. Die Holztür war verschlossen. Harald rüttelte daran. Plötzlich flog sie nach innen auf. Wir schauten in eine völlig leere Kajüte hinein. Harst zögerte erst, trat dann doch ein. Die Kajüte war so breit wie der ganze Aufbau. Aber uns gegenüber gab es noch eine Tür. Diese war unverschlossen. In dem Raum dahinter war es völlig finster. Auf dem Fußboden lag allerlei Gerümpel.
Harsts Taschenlampe beleuchtete nun diese zerfetzten Matten, Taue, zerbrochenen Ruder und Kisten. Dann drückte er die Tür wieder zu, sagte, ohne sich umzudrehen:
»Sie haben gesiegt, Mademoiselle – ich gebe dies zu!«
Ich fuhr herum. Mit dem Rücken gegen die andere Tür gelehnt, die Hand mit dem Revolver halb erhoben, stand da in tadellosem hellgrauen Sportkostüm, den Strohhut auf dem vollen, rotblonden Haar, Eugenie Malcapier.
Sie lächelte ironisch.
»Also doch!«, sagte sie nur. Sie zielte auf Harst, stampfte dreimal mit dem Fuß auf, und die Tür hinter uns wurde aufgestoßen. Sechs maskierte Kerle in Leinenanzügen packten uns. Im Nu hatten sie uns die Arme auf dem Rücken gebunden. Harst wehrte sich offenbar nur zum Schein.
Die Malcapier lächelte noch immer, sagte nun abermals mit merkwürdiger Betonung:
»Also doch!«
Dann winkte sie den Leuten. Sie schleppten uns in die Rumpelkammer nebenan und zwangen uns, durch eine Falltür im Boden eine schmale Holztreppe hinabzusteigen. Wir wurden in einen Verschlag gesperrt, der so niedrig war, dass wir uns im Sitzen zusammenkrümmen mussten. Die sechs Menam-Brüder verschwanden. Nur das rotblonde, schlanke Weib war vor der Bohlentür dieser Hundehütte stehen geblieben und ließ den roten Lichtschein einer großen Schiffslaterne auf uns fallen. Nun beugte sie sich herab, flüsterte in etwas gebrochenem Deutsch: »Ich wusste, dass Sie beide hier erscheinen würden. Ich habe nicht gesiegt, Harald Harst! Ich durchschaue Ihr Spiel vollständig. Der Trick mit der lila Farbe war bewundernswert. Aber ich bin dadurch gewarnt worden.« Sie lachte kurz auf, warf die Tür zu, schob einen Riegel vor – und alles war still ringsum.
Harst saß ein paar Sekunden regungslos.
»Sie ist theatralisch, aber klüger, als ich sie einschätzte«, flüsterte er dann. »Schnell – Rücken an Rücken, Schraut, dass ich dir das Federmesser herausnehmen kann.«
Gleich darauf waren wir die Fesseln los, steckten die entsicherten Pistolen in die rechte Jackentasche und besichtigten beim Schein meiner Taschenlampe – die Harsts war ihm bei dem Überfall durch die Menam-Brüder aus der Hand geglitten – die Balkentür. Wie erstaunt waren wir, als sie sich sofort öffnen ließ.
»Das Weib hat den Riegel leise wieder zurückgezogen«, meinte Harst. »Sie wusste, dass das Spiel aus war! Da wagte sie es nicht mehr, sich an uns zu vergreifen, war nur darauf bedacht, sich selbst in Sicherheit zu bringen.«
Ich hätte etwas darum gegeben, wenn ich aus alledem klug geworden wäre!
Mit größter Vorsicht bewegten wir uns weiter. Aber wir hatten sehr bald festgestellt, dass die Prau nun leer war.
»Dann können wir ja nach den beiden Mattenrollen suchen, die in der Nacht hier an Bord geschafft wurden«, sagte Harald ganz gemütlich. »Denn die Malcapier holen wir doch nicht mehr ein.«
»Mattenbündel? Was …«
»Oder besser: nach Lord und Lady Aldebary!«, fiel mir Harst ins Wort.
Da ging mir ein Licht auf.
Wir fanden das Ehepaar im Vorschiff in einem Verschlag mit nur leicht gefesselten Händen. Ich will hier alles fortlassen, was nicht unbedingt nötig ist, um dem Leser klar vor Augen zu führen, in wie glänzender Weise sich in diesem Fall wieder Harsts Kombinationstalent bewährt hat.
Wir brachten das Ehepaar in einem Boot, das Harst schwimmend von dem nächsten Wohnschiff holte, zu Madame Pordepierre. Es regnete wieder in Strömen. Der Lord und seine Gattin wurden unserer Wirtin unter anderen Namen vorgestellt und mieteten für heute ein Zimmer, wo sie zu bleiben versprachen, bis wir den letzten Schlag gegen die Menam-Brüder geführt hätten, wie Harst sich ausdrückte.
Wir legten dann wieder unsere Chinesenkostüme an und waren genau zehn Minuten vor ein Uhr in der Vorhalle der Polizeidirektion, stiegen die Treppe zu Walkers Dienstzimmer empor, klopften an und traten ein.
Walker wollte erst grob werden über dieses freche Eindringen zweier so schmieriger Kulis, erkannte uns dann, schüttelte uns lachend die Hände und meinte: »Ich habe hier wie auf Nadeln gesessen und alle Augenblicke nach der Uhr gesehen.«
Harst setzte sich. Wollen Sie bitte Ihre sämtlichen Detektivbeamten zusammenrufen«, sagte er auffallend ernst. »Wie viele sind es?«
»Achtzehn. Sie sind in drei Sektionen geteilt: eine für die Überwachung des Flusses, die andere für …«
»Danke, Master Walker. Die Flusssektion steht wohl unter Kong-Penj’s Befehl?«
»Ja. Kong-Penj ist ein sehr pflichteifriger Mensch.«
Harst sagte nichts weiter. Walker telefonierte dann, erklärte danach: »In einer halben Stunde sind die Leute hier. Weshalb aber dieses Chinesenkostüm, bester Harst.«
»Die Menam-Brüder hätten uns sonst hier sehen und fliehen können.«
Walker schüttelte den Kopf. »Hier im Polizeigebäude?«, meinte er.
»Ja. Doch … auch davon später.«
Mir war plötzlich eine Vermutung gekommen, die mir unmöglich schien, und die doch offenbar richtig war. Der Schleier vor meinen Augen zerriss. Ich erkannte nun, was es mit der Prau auf sich hatte.
Wir unterhielten uns über gleichgültige Dinge. Dann erschienen die ersten Detektivbeamten. Es waren auch zwei Franzosen darunter. Als alle versammelt waren, erhob sich Harst, schloss die Tür ab und steckte den Schlüssel zu sich. Die Leute wussten nicht, wen sie in diesen beiden dreckigen, nassen Chinesenkulis vor sich hatten. Harst setzte sich wieder.
»Kong-Penj!«, rief er dann. Der Siamese trat vor. Er sah plötzlich ganz verstört aus und zitterte am ganzen Körper.
»Kong-Penj, Sie sind der Führer der Flusssektion«, begann Harald. »Sie haben uns jetzt wohl erkannt. Ihnen und Ihren fünf Leuten war die Suche nach den Menam-Brüdern übertragen. Ich las das schon im Rekorder in einer alten Nummer. Dort stand auch so allerlei über die ungenügende Besoldung der Polizeibeamten. Der Rekorder verlangte bessere Bezahlung, damit das Bestechungsunwesen aufhöre. Mir war nun gleich aufgefallen, dass die Bemühungen der Polizei, den Menam-Brüdern auf die Spur zu kommen, so vollständig ergebnislos geblieben waren. Ich argwöhnte, dass die Bande die Beamten bestochen hätte. Dann beobachtete ich, dass die Prau in der Nähe des Wohnschiffes der Madame Pordepierre verankert wurde. Ich hörte das Schelten der Nachbarn auf die Verengerung des Fahrwassers durch diese Prau, sah Sie, Kong-Penj, auf dem Deck der Prau, hörte weiter, wie Sie befehlend einem Siamesen zuriefen, er solle das Maul halten, die Prau sei Eigentum der Flusspolizei. Kong-Penj, Sie hätten die Prau nicht so dicht bei uns verankern sollen. Das verstärkte nur meinen Argwohn gegen Sie und Ihre fünf Kollegen. In der verflossenen Nacht habe ich die Prau beobachtet. Man brachte zwei Mattenrollen an Bord. Als das Boot wieder in den Fluss hinausruderte, spritzte ich mit einer Nickelspritze einen Strahl unverwaschbare lila Tinte darüber hin, um vielleicht einen der Bootsinsassen zu zeichnen. Sie haben einige lila Tropfen abbekommen, Kong-Penj. Sie waren also dabei, als man die Mattenrollen auslud, das heißt: Lord und Lady Aldebary. Und vorhin waren Sie auch einer der Maskierten, die uns fesselten. Ich sah auf Ihrem Handrücken den lila Fleck. Weshalb zittern Sie so?!«
Da warf der Siamese sich aufheulend vor Walker auf den Boden und winselte um Gnade. Walker versetzte ihm einen Fußtritt.
»Hund … Du und die fünf anderen der Sektion, Ihr seid die Menam-Brüder! Gestehe!«, brüllte er.
»Ja … aber wir sind verführt worden!«, wimmerte der entlarvte Verbrecher. »Die Malcapier hat uns nacheinander in ihre Netze gelockt, hat …«
»Ja … und jetzt ist sie geflohen!«, warf Harst ein. »Geflohen und hat euch im Stich gelassen! Die Prau wurde dort verankert, damit wir bequem beobachtet werden konnten. Einer von euch war diese Nacht in unserer Kabine. Ich schwamm seinem Boot nach. Es legte an der Prau an. Und als die Malcapier dann heute die lila Flecke auf deiner Hand und deiner Wange bemerkte, da wird sie dich gefragt haben, wie die Flecke entstanden sind. Und Du wirst geantwortet haben: ›Ich weiß nicht. Seit der vergangenen Nacht habe ich sie!‹ Und das warnte das Weib. Sie ist klug. Sie ahnte, dass ich euch zeichnen wollte. Nun ist sie geflüchtet, und ihr werdet allein für alles büßen.«
Kong-Penj legte dann ein restloses Geständnis ab. Die Menam-Brüder waren sechs Staatsdetektive gewesen – jedenfalls eine Verbrecherbande von einer Art, wie sie nicht häufig sein dürfte! Kong-Penj hatte auch die Brillenschlangen in das Haus der Frau Stanton gebracht, ebenso dann bei uns das Gitter durchschmolzen. Weinend bekannte er, dass er Eugenie Malcapier bis zum Wahnsinn liebe.
Also auch Liebe war dabei! Armer genarrter Teufel! Er und seine fünf Genossen wurden gehängt. Walker schonte sie nicht trotz Harsts Fürsprache.
Am Abend dieses Tages erhielt Harst mit der Post einen Eilbrief der Malcapier, der in Bangkok aufgegeben war. Darin stand:
Halb haben Sie gesiegt! Siegen Sie ganz, aber rechnen Sie nicht mehr damit, dass Sie auch nur einen Schritt tun können, ohne Ihr Leben bedroht zu sehen!
Eugenie Malcapier.
Harst hatte mir diesen neuen Drohbrief zu lesen gegeben und sagte dazu: »Es dürfte doch für uns ratsam sein, Bangkok zu verlassen und in einer Verkleidung wiederzukehren. Es muss doch irgendetwas hier vorhanden sein, dass die Malcapier an diese merkwürdige Stadt fesselt. Der Brief ist um 6 Uhr nachmittags zur Eilbeförderung am Schalter abgegeben. Um 4 Uhr sind zwei Passagierdampfer ausgelaufen und um 5 ging der Schnellzug ins Innere Siams ab. Also hat unsere Feindin diese drei Gelegenheiten von hier fortzukommen, natürlich in tadelloser Maske, vorübergehen lassen. Sie ist noch hier und wird auch vorläufig noch hier bleiben. Hm, … ob sie etwa darauf hofft, dass die Priester des P’hrabat das tun werden, was mir Kong-Penj vorschlug: Eine Million für Rückgabe der Edelsteine zu bieten? Der famose Detektiv und Menam-Bruder dürfte mir den Vorschlag auf Anraten der Malcapier gemacht haben, damit die Bande vielleicht die Million und mich dazu bekam. Dieses Nebenplänchen war recht gut erdacht und wäre vielleicht geglückt, wenn mich nicht die Notiz im Rekorder über die schlechte Besoldung der Polizeiorgane argwöhnisch gemacht hätte. Na, … jedenfalls reisen wir morgen früh ab. Um acht Uhr geht ein Dampfer nach Singapore. Den werden wir benutzen.«
Hiermit schließen unsere Erlebnisse in Bangkok. Wo und wie wir nochmals mit Eugenie Malcapier zusammentrafen, schildere ich in:
Der Stern von Siam