Der Detektiv – Band 29 – Die Menam-Brüder – Kapitel 2
Walter Kabel
Der Detektiv
Band 29
Kriminalerzählungen, Verlag moderner Lektüre GmbH, Berlin, 1920
Die Menam-Brüder
Die Schlangenfalle
Ich blieb wieder hinter ihm. Er zog die oberste der drei Schubladen auf. Leer. Dann die zweite. Leer.
Nun die unterste – aber nur halb. Denn mit einem Satz war er nach rückwärts gesprungen, hatte mich gleichzeitig am Arm gepackt und so heftig zurückgerissen, dass ich beinahe der Länge nach hingeschlagen wäre.
Trotzdem hatte ich noch genug gesehen: Aus der halb geöffneten Schublade waren die ekligen Köpfe und halben Leiber dreier Brillenschlangen blitzschnell hervorgeschossen!
Kaum hatte ich das Gleichgewicht wiedererlangt, als plötzlich die Deckenampel erlosch.
Wir waren im Finstern. Denn Harst hatte seine kleine Lampe vorhin wieder in die Tasche geschoben.
»Hinaus!«, rief er leise und zog mich weiter der Verbindungstür zu.
Doch sie war verschlossen! Harst pfiff leise durch die Zähne.
»Ah – eingesperrt!«, meinte er. »Also darauf lief es hinaus! Deshalb wurde die Tür zugemacht, damit die Kobras in die Schublade eingesperrt werden konnten. In der Tat – ein keckes Spiel.«
Er hatte das alles überstürzt geflüstert, ließ nun seine Taschenlampe wieder aufleuchten, deren Lichtkegel uns sofort drei – vier, – nein fünf ausgewachsene Brillenschlangen zeigte, die neben den Betten über den Fußboden glitten.
Rechter Hand stand an der Wand der mächtige Kleiderschrank.
»Dort hinauf!«, rief Harald, nahm einen Stuhl, benutzte ihn als Tritt, saß nun oben auf dem breiten Möbel und half mir empor.
»So – hier sind wir sicher«, sagte er nun sehr gelassen. »Nun fehlt uns nur eine geeignete lange Waffe, um den kriechenden giftigen Bestien zu Leibe zu gehen, denn die Pistole möchte ich nicht gern gebrauchen. Wozu solchen Lärm machen, wozu unserer Feindin den Triumph gönnen, dass bekannt wird, wie wir hier in eine Schlangenfalle geraten sind! Hm.« Er beugte sich tief herab und rüttelte an der schmalen Türleiste. »Hm, wenn wir die Leiste lossprengen könnten! Sie ist gut anderthalb Meter lang. Der Schrank scheint nicht mehr ganz taktfest zu sein. Ich will doch mal die große Klinge meines Messers in die Fuge klemmen.«
Er klappte das Jagdmesser mit der feststehenden Klinge auf. Während er dann an der Leiste herumarbeitete, hatte ich nur Augen für die nächste Umgebung des Schrankes. Ich hielt nun Harsts Taschenlampe und leuchtete ihm. Der Lichtkegel bildete vor dem Schrank einen scharf abgegrenzten Halbkreis. Von den Brillenschlangen war nichts zu sehen.
Dann – ein Knacken, und Harst hielt die zweifingerbreite Leiste in der Hand.
»Reiße unsere Taschentücher in schmale Streifen«, ordnete er an. »Ich werde mein Messer an die Leiste binden, sodass ich eine Art Speer dann zur Verfügung habe, den ich auch als Hiebwaffe benutzen kann.«
Ich half ihm, das offene Messer recht fest zu knoten. Wir ließen uns Zeit dabei, und der Erfolg war denn auch zufriedenstellend.
»So – nun werde ich auf die Jagd gehen«, meinte Harald. »Gefahr ist nicht dabei. Gib mir die Taschenlampe.«
Er nahm sie in die Linke, stieg vom Schrank auf den Stuhl und bewegte sich vorsichtig auf die Betten zu, indem er den Stuhl immer leise weiterschob, um auf dessen Sitz stehend vor einem blitzschnellen Angriff geschützter zu sein.
Wer Indien bereist hat, weiß, was gerade die Kobra für dieses Land bedeutet. Die sogenannte Dschungelkobra ist das gefährlichste Reptil Indiens, leicht reizbar, sehr angriffslustig und so giftig, dass der Biss, falls die Wunde nicht sofort ausgebrannt wird, unbedingt tödlich wirkt.
Ich will hier nicht im Einzelnen schildern, wie Harst in zehn Minuten sämtliche fünf Kobras abtat, wie er seine primitive Hiebwaffe so sicher gebrauchte, dass er dem Gewürm stets mit zwei Hieben den Kopf abtrennte.
Ich sah jetzt zum ersten Mal einen Kobrakopf aus nächster Nähe, hielt ihn sogar in der Hand.
Zu meinem Erstaunen wickelte Harst die fünf Köpfe in die Decke, die auf der Kommode lag, warf die Leiber aber in die Schublade zurück.
Dann schnitt er die Füllung aus der Verbindungstür heraus, fasste von der anderen Seite nach dem Schloss, fand den Schlüssel stecken, schloss auf und betrat mit aller Vorsicht den Wohnsalon. Wir fanden hier jedoch keinerlei weitere Überraschungen. Nur die Balkontür stand halb offen. Harst ging auf den Balkon hinaus, der sich an der ganzen Hausbreite entlang zog, und sagte zu mir: »Nun wissen wir, woher die Person gekommen und wohin sie gegangen ist, die die Kobras brachte und uns einsperrte. An diesen Balkon habe ich nicht sofort gedacht.«
Die Flurtür des Salons hatte noch den Schlüssel von innen stecken. Ich musste das Bündel Zeitungen nehmen, und Harald belud sich mit den Schlangenköpfen. Im Flur brannte ebenfalls kein Licht. Wir stiegen die Treppe hinab und trafen unten auf Frau Stanton, die uns erregt mitteilte, dass jemand die Hauptsicherung der elektrischen Beleuchtung herausgeschraubt und gestohlen hätte. »Ich habe meine Tochter erst nach einer neuen schicken müssen«, erklärte sie zum Schluss.
Harst bat sie um Verschwiegenheit und erzählte ihr leise, was uns oben begegnet war. Sie war ganz entsetzt über diese Verruchtheit, wie sie sich ausdrückte.
»Der, der die Schlangen hineinschmuggelte, stahl auch die Sicherung«, sagte Harald nun mit einem leisen Lächeln. »Wir haben zum Glück unsere Taschenlampen stets bei uns. Damit hatte der Attentäter nicht gerechnet. Im Dunkeln wäre die Situation etwas peinlich gewesen!«
»Und die Kobraköpfe, Master Harst? Wozu sollen diese Ihnen dienen?«, fragte Frau Stanton jetzt, indem sie das Bündel ängstlich musterte.
»Oh – nur zu einigen Studien«, erwiderte er und verabschiedete sich dann.
Auf der Straße war bereits die elektrische Beleuchtung eingeschaltet. Wir hatten anderthalb Stunden oben in den Zimmern des angeblichen Ehepaares zugebracht. Zwei Rikschas führten uns schnell zur Anlegebrücke am Menam zurück.
Das Flussbild war nun bei Dunkelheit ein völlig anderes, war vielleicht noch reizvoller und fantastischer als am Tage. Hunderttausende von Lichtpünktchen belebten den Strom: Die Lichter all der Tausende von Fahrzeugen! Hie und da schimmerten riesengroße farbige Papierlaternen in allen Formen auf von Chinesen bewohnten Flößen und Schiffen; Feuerwerk sprühte auf; Gesänge, seltsam melancholisch und eintönig, schallten über den nächtlichen Riesenstrom.
Wir ruderten zum schwimmenden Pensionat Madame Sarah Pordepierres zurück, gingen in unser kleines, gemeinsames Gemach, das im Achterdeck-Aufbau lag, ließen uns hier das Abendbrot auftragen und begannen bei weit offenen Fenstern zu speisen.
»Der Reispudding ist großartig«, lobte Harst. »Noch großartiger ist die Ausbeute der Durchsuchung der beiden Zimmer.«
»Aha – der Kalender!«, meinte ich.
»Ja – der auch! Das Wichtigste aber sind die Kobraköpfe und die Zeitungen.«
»Die Köpfe zu Studienzwecken, wie du der Stanton erklärtest«, meinte ich und trank einen Schluck Eislimonade.
Harst blieb ernst »Besser: zu Vergleichszwecken!«, sagte er und suchte aus dem Bündel Zeitungen eine bestimmte Nummer heraus. »All diese Blätter, mein Alter«, fuhr er fort, »enthalten Berichte über das Treiben jener Räubergilde, die man hier die Menam-Brüder nennt, wie uns schon Madame Sarah vor drei Tagen erzählte. Die älteste Nummer hat das Datum des 2. Januar vorigen Jahres. Und sechs Wochen vorher sind die Geschwister Malcapier und der Major Trimal hier eingetroffen, wie du weißt. Die Malcapier bezogen sofort die Zimmer bei der Stanton. Und deshalb dürften sie gerade diese Nummern des REKORDER gesammelt haben, in denen sich in jeder einzelnen etwas über die Menam-Brüder findet. Höre nun, was der REKORDER vom 2. Januar schreibt. Ich lasse aber alles Unwichtige weg.
… diese plötzlich sich häufenden Überfälle auf Touristen lassen die Vermutung zu, dass man es hier mit einer gut organisierten Bande zu tun hat. Stets werden die Opfer auf einem Fahrzeug von maskierten Banditen gefangen gehalten, bis sie das verlangte Lösegeld – und so weiter.
»Nun die Nummer vom 28. März«, sagte Harst und las vor:
Unsere Polizei ist dem Treiben dieser Menam-Brüder gegenüber machtlos. Im Volk hat man diese Räuberbande längst so getauft. Es mag ja schwierig sein, bei der Unmenge von Fahrzeugen, die den Strom beleben, einen richtigen Fang zu machen. Aber bei einiger Energie sollte – und so weiter.
»Dann die Nummer vom 14. Juni …«
Die Ausplünderung einer ganzen englischen Reisegesellschaft durch die Menam-Brüder (wir haben gestern darüber berichtet) sollte unserer Polizei ein Ansporn sein, endlich unter diesen Flusspiraten gründlich aufzuräumen. Die Frechheit dieser fraglos tadellos organisierten und geleiteten Bande übersteigt jetzt alle Grenzen. Heute erhielt unsere Redaktion einen Brief aus feinstem chinesischen Büttenpapier …
Harst betonte die letzten Worte sehr stark.
»Büttenpapier mit einem mit verstellter Handschrift geschriebenen Spottgedicht auf die Polizei. Unterzeichnet war das Gedicht mit verschlungenen Linien in roter Farbe, die entfernte Ähnlichkeit mit einem Frauenprofil mit hoher Frisur haben.«
Harst legte jetzt die Zeitungen weg und tat sich Fischpastete auf den Teller, aß ein paar Happen und sagte: »So – das wären die Zeitungen. Nun zu dem Kalenderblock. Bitte – da ist er, lieber Alter. Schau ihn dir an.«
Ich sah sofort, dass es ein Abreißkalender des vorigen Jahres war, von dem nur die Blätter bis zum 3. Februar fehlten. Als ich die noch vorhandenen durch die Finger gleiten ließ, bemerkte ich auf einigen unter dem Datum kurze Notizen. So stand zum Beispiel auf dem Blatt des 12. Juni: Acht – 700 – 350 – 4232.
Das Acht war in französischer Sprache also huit, geschrieben, und die Handschrift war ohne Zweifel die Eugenie Malcapiers.
Ich sah Harst fragend an. »Was bedeutet das?«, meinte ich.
»Kommst du nicht darauf? Nun, die »huit, also acht sind die acht Mitglieder der englischen Reisegesellschaft, von der ich dir soeben etwas vorlas. Die 700 stellt die erpresste Summe dar – 700 Pfund haben die Menam-Brüder damals den acht Engländern abgenommen –, die 350 bedeutet den Beuteanteil der Anführerin und die 4232 die Gesamtsumme des Beuteanteils dieses weiblichen Rinaldo Rinaldini, wie du aus den Notizen der vorhergehenden Blockblätter berechnen kannst.«
Ich schaute Harst ganz sprachlos an.
»Also die Malcapier soll …«
»Nicht soll – sie ist die Anführerin dieser Bande!«, fiel Harst mir ins Wort. »Sie war es, die gerade die Nummern des REKORDER sammelte, in denen von den Menam-Brüdern die Rede war; sie hat die Arabesken erfunden, die einem Frauenkopf gleichen. Dies entspricht so recht ihrer weiblichen Eitelkeit: Sie spielt mit einer Gefahr, indem sie andeutet, dass eine Frau die Hauptmacherin ist! Willst du noch mehr Beweise, dass unsere Feindin mit den Menam-Brüdern in Verbindung steht, mehr noch, dass sie die Gründerin dieser Verbrechergilde ist? Denn am 14. November treffen die Malcapiers hier ein, und am 2. Januar berichtet der REKORDER zum ersten Mal von den Touristen-Ausplünderungen unter Hinweis auf die Wahrscheinlichkeit des Bestehens einer organisierten Bande. Nun, ich habe noch einen weiteren Beweis, mein Alter: die Kobraköpfe! Hättest du sie dir ganz eingehend betrachtet, so würdest du auf dem Kopf der Reptile genau dieselben Arabesken in Rot gefunden haben, also den angedeuteten Frauenkopf! Stell dir vor: Diese Eugenie ist so unverfroren, die fünf Kobras vorher dergestalt zeichnen zu lassen, die uns dann eine unangenehme Stunde bereiten sollen! Also wieder weibliche Eitelkeit, aber auch großes Selbst- und Sicherheitsgefühl! Mit einem Wort: Wir kämpfen hier nicht lediglich gegen eine einzelne Frau, sondern gegen eine ganze Verbrechergesellschaft, von der man bisher nichts kennt als nur den Namen Menam-Brüder, der im Volk entstanden ist! Nun, etwas mehr wissen wir doch: eben dass Eugenie Malcapier die Anführerin und – eitel, dazu Liebhaberin von Patschuli-Parfüm ist! Und damit lässt sich schon etwas anfangen und auch vielleicht etwas fangen, nämlich diese ganze Bande, die endlich ausgelöscht werden muss!«
Harsts graue, lebhafte Augen strahlten förmlich.
»Ich hoffe, dieser Kampf wird noch interessanter werden als der gegen die Gesellschaft der roten Karten in Batavia«, fügte er hinzu. »Und heute um Mitternacht beginnt dieser Kampf mit dem Wurf der Antwort-Flasche in den Menam! Diese Antwort werde ich jetzt sofort niederschreiben. Sie wird so lauten, wie ich vorhin andeutete, aber noch mit dem Zusatz: ›Ich weiß mehr als Sie ahnen, Mademoiselle Malcapier!‹ Und ich weiß tatsächlich mehr, als auch du ahnst, mein Alter. Doch davon später. Jetzt werde ich dir meinen Schlachtplan entwerfen, der von uns so allerlei Vorbereitungen verlangt.«
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