Nick Carter – Band 15 – Ein verbrecherischer Arzt – Kapitel 9
Nick Carter
Amerikas größter Detektiv
Ein verbrecherischer Arzt
Ein Detektivroman
Patsys Triumph
Während Dr. Staples sich nach seinem zuverlässigen Krankenwärter umschaute, hatte Patsy sich in aller Eile nach Long Island City zurückbegeben. Eine lange Weile stand er unschlüssig dem kleinen Haus, in welchem der alte Chemiker wohnte, gegenüber. Unter allen Umständen wollte er versuchen, mit dem alten Mann näher bekanntzuwerden. Doch ein Rundgang durch verschiedene Saloons der Nachbarschaft ließ ihn den Gesuchten nicht finden. Auch in der Eckwirtschaft, aus welcher ihn am Morgen seine Tochter geholt hatte, war der alte Mann nicht anwesend, wohl aber seine Zechkumpane, die ihn vergeblich zurückzuhalten versucht hatten.
Durch ihren vielstündigen Aufenthalt in der Wirtschaft waren die Burschen nicht nüchterner geworden. Sie erkannten Patsy bei seinem Eintreten augenblicklich, stimmten in ein allgemeines Gebrüll ein, schauten den jungen Detektiv herausfordernd an und wendete ihm dann wie auf Verabredung sämtlich den Rücken.
Doch Patsy ließ sich dadurch nicht anfechten, denn er sah wichtigere Aufgaben vor sich, als sich mit einer Rotte Trunkenbolde herumzustreiten.
Seine ruhige Art und Weise schien den Burschen indessen noch weniger zu gefallen.
»Heda, junger Mann, du musst zur Strafe eine Runde für uns blechen!«, rief einer der Strolche.
Statt jeder Antwort zog Patsy einen Nickel aus der Tasche und bezahlte damit das ihm inzwischen von dem Bartender, einem wüst und roh ausschauenden Menschen, verabreichte Glas Ale. Dann nahm er einen Dollarschein aus der Tasche, kniff ihn der Länge nach zusammen, brannte ihn am anderen Ende an und entzündete sich an der rasch verbrennenden Banknote seine Zigarre.
Die ihn umstehende Bande war sprachlos.
»Ich will verd… sein, wenn du nicht das verrückteste Huhn bist, das ich je gesehen habe – einen ganzen Dollar zu verbrennen – zwanzig Whiskeys einfach ungetrunken aus der Welt zu schaffen, das ist schlimmer als ein kleiner Raubmord«, schrie schließlich einer von ihnen.
»Es kommt mir auch auf einen zweiten Dollar nicht an«, meinte der junge Detektiv leichthin. »Ich wollte euch damit nur zeigen, dass es mir nicht ums Geld zu tun ist und dass es mir gar nicht einfällt, auch nur ein Glas Bier für euch zu bezahlen!«
Die vier Burschen steckten die Köpfe zusammen, und dann wendete sich ihr Wortführer drohend wieder an den jungen Detektiv.
»Well, nun zahlst du drei Runden, du grüner Loafer – oder wir machen dir auch Feuer an, aber ganz woanders – verstanden?«
»Blödsinn!«, sagte Patsy unter einem Achselzucken. »Kerle euren Schlages mögen einen alten Mann ausnutzen können, aber doch mich nicht!«
»Einschenken!«, wendete sich der Wortführer befehlend an den Bartender. »Verstanden, Bob, eine Runde für alle, und das Geld kassierst du von dem jungen Großmaul ein!«
Gleich dem Bartender lachten die übrigen Burschen, und der Erstere machte sich daran, schnell die Gläser zu füllen. Auch vor Patsy stellte er ein neues Glas hin, doch der junge Detektiv schob es gleichmütig zurück.
»Vierzig Cent«, forderte der bei ihm stehengebliebene Bartender.
»Sie sind wohl verrückt?«, fragte Patsy ruhig zurück. »Lassen Sie den Mann, der die Getränke bestellt hat, auch bezahlen, falls er überhaupt vierzig Cent in der Tasche hat.«
»Ich werde dir schon zeigen, was ich in der Tasche habe!«, rief der Strolch.
Damit sprang er auf Patsy zu und wollte ihn mit einem Faustschlag ins Gesicht treffen. Zu seinem höchst unangenehmen Erstaunen bekam er aber plötzlich einen Stoß vor die Magengrube, welcher ihn um die eigene Achse wirbelte und ihn bewog, auf dem mit Sägemehl bestreuten Boden Platz zu nehmen, wo er mit einem nichts weniger als geistreichem Gesichtsausdruck um sich starrte.
Patsy wartete den Angriff der beiden Übrigen nicht erst ab, sondern landete einen derart eleganten Linkshänder auf des Dritten Kinnlade, dass dieser sich neben seinen beiden Vorgängern häuslich niederließ.
Auch dem Letzten des vierblättrigen Kleeblatts kam die schmerzliche Erkenntnis, dass sie an den Falschen geraten waren, als er, mit einem wuchtigen Fausthieb gegen die Magengrube bedacht, gleich darauf ausfindig zu machen versuchte, ob er auf dem Kopf oder auf den Füßen besser zu stehen vermochte.
Kein Wunder, dass der Bartender dadurch in Aufwallung geriet und dem schlagfertigen Patsy einen leeren Schooner an den Kopf warf.
Wohl vermochte Patsy mit geschickter Kopfbewegung dem schweren Glas derart auszuweichen, dass dieses ihn nicht mit voller Wucht traf und niederschlug. Immerhin aber erlitt er eine heftig blutende Schramme oberhalb des rechten Auges, und sein Hut fiel in den Sägemehlstaub hinunter.
Augenblicklich hatte Patsy zwei Revolver hervorgerissen und die Mündung des einen gegen die vier immer noch in holder Eintracht nebeneinander auf dem Boden sitzenden Strolche gerichtet, während er mit der anderen Schusswaffe wie mit einem Zauberstab den Glaswerfer hinter der Bar hervorholte.
»Komm einmal etwas näher heran, du irischer Giftmischer!«, rief Patsy mit einer Entschlossenheit im Ton, welche die an allen Gliedern Zitternden nichts Gutes ahnen ließ. »Augenblicklich hebst du meinen Hut auf – oder ich schieße dir ein Loch durch den Heuschober.«
Wie ein begossener Pudel kam der Bartender mit schlotternden Knien heran und hob den Hut auf.
»So, ihr feiges Gesindel, nun vergnügt euch allein weiter!«, meinte der junge Detektiv spöttisch. »Ihr seid wirklich Helden – geht lieber nach Hause und lasst euch von eurer Mutter die Nase wischen!«
Lachend hatte er sich der Tür genähert, und gleich darauf stand er wieder auf der Straße. Schnell steckte er nun die Waffen ein und ging nach dem kleinen Haus zu, in welchem der Chemiker wohnte. Keinen Blick warf er zurück, denn er wusste nur zu gut, dass keiner von den Burschen ihm nachzufolgen wagen würde.
Kurz entschlossen zog Patsy die Türklingel an dem kleinen Haus. Er sah sich nicht enttäuscht, es war seine junge Freundin vom verflossenen Morgen, welche ihm gleich darauf die Tür öffnete. Ihr hübsches Gesicht erhellte sich, als sie den Einlass heischenden erkannte; in der nächsten Sekunde aber blickte sie wieder erschreckt, als sie von dem Schnitt über Patsys rechtem Auge Blut herabfließen sah.
»Pah, es ist nicht der Rede wert«, erklärte der junge Detektiv auf ihre besorgte Frage. »Der Zufall brachte mich mit den Burschen zusammen, welche Ihren Vater heute Morgen zurückhalten wollten. Well, ich brachte ihnen die Flötentöne bei, doch der Bartender war feige genug, mir ein Glas an den Kopf zu werfen, davon habe ich die kleine Schramme. Ich denke, Ihr Vater ist Arzt und wird es reparieren können. Darum erlaubte ich mir anzuklingen.«
»Mein Vater ist zwar kein Arzt«, entgegnete das junge Mädchen, ihn ins Haus geleitend, »doch das macht nichts, er wird Sie gern verbinden.«
Sie hatte ihn zum Laboratorium geführt, in welchem der alte Mann sich befand, augenscheinlich völlig in eine wichtige Arbeit vertieft. Sein Destillierapparat befand sich in voller Tätigkeit, und da waren, wie Patsy im Flug wahrnahm, verschiedene gläserne Retorten und Reagenzgläser, in welchen eine Flüssigkeit, die durch Glasröhren von einem Gefäß zum anderen geleitet wurde, siedete, zischte und verdampfte.
Auch der Alte erkannte Patsy sofort wieder; die Arbeit hatte ihn inzwischen wieder vollkommen nüchtern werden lassen. Er bot seinem Besucher die Hand und war gern bereit, die kleine Wunde zu behandeln. Das geschah alsbald, blutstillende Watte wurde aufgelegt, dann der Hautkratzer sorglich ausgewaschen und schließlich ein Stück Heftpflaster darüber geklebt.
»So«, meinte der alte Mann, »das wäre geschehen. In ein bis zwei Tagen ist der Schaden wieder geheilt!«
»Well, schönen Dank auch«, erklärte Patsy, dessen helle Augen inzwischen unablässig im Laboratorium herumgewandert waren. »Das ist eine merkwürdige Werkstatt, wie ich sie in meinem Leben noch nicht gesehen habe!«
»Dann sind Sie nie in eines Chemikers Hexenküche gewesen?«, gab der Alte lachend zurück. »Ich möchte wetten, die ganze Chemie ist Ihnen ein Buch mit sieben Siegeln, eh?«
Gutmütig erklärte er sich bereit, Patsys Wissbegierde zu befriedigen und ihm die Einrichtung seines Laboratoriums zu erklären. Er deutete auf den im Betrieb befindlichen Destillierapparat, versuchte dem aufmerksam Lauschenden alles klarzumachen, was da vor sich ging, warf aber dabei derart mit unverständlichen Formeln und gelehrten Fachausdrücken um sich, dass dem jungen Detektiv ganz schwindlig wurde.
Er begriff nur, dass es sich um die von Dr. Staples bestellte Arznei handeln musste, denn der alte Mann sprach viel von der Giftigkeit des Präparates und wie man es nur mit ganz besonderer Vorsicht bei einigen wenigen, selten auftretenden Nervenkrankheiten mit Erfolg anzuwenden vermochte.
Dabei war er unausgesetzt damit beschäftigt, die aus den verschiedenen kleinen Retorten in den Sammelbehälter tropfenden Flüssigkeiten zu rühren und zu mischen, von dem Inhalt in ein Reagenzglas zu füllen, es prüfend gegen die Lampe zu halten, mit dem angefeuchteten Finger sorglich zu kosten, bis er endlich mit zufriedengestellter Miene erklärte, dass das schwere Werk gelungen sei. Damit löschte er die Spiritusflammen, stellte die Hauptretorte mit der darin gesammelten Flüssigkeit zum Abkühlen ans Fenster und machte sich nun an eine umständliche Reinigung des Apparates.
Mittlerweile war Patsy mit dem jungen Mädchen ins Plaudern gekommen und erzählte ihr, dass er eine gute Stellung in New York habe und nur zufällig einmal auf einen Sprung nach Long Island City herübergekommen sei. Auch der Alte beteiligte sich am Gespräch, zumal Patsy inzwischen aus dem nächsten Saloon einen Liter schäumendes Bier geholt hatte, für den Alten offenbar ein wahres Labsal, denn er beanspruchte den Inhalt des blechernen Bierkessels so ziemlich für sich allein.
Unterdessen war die Flüssigkeit in der Hauptretorte abgekühlt, und der Alte füllte sie in ein Dutzend winziger Fläschchen ab, die er dann sorgfältig verkorkte und mit Aufschriften versah.
»Well, Sally«, wendete sich der Alte dann an seine Tochter, »ich habe versprochen, die Fläschchen hier noch heute zu der Apotheke in der Grand Street zu schicken, da wirst du dich wohl oder übel fertigmachen und die Besorgung übernehmen müssen, denn ich bin zu müde.«
»Aber warum das«, warf Patsy anscheinend gleichmütig ein, während es ihm in Wirklichkeit unter den Fingernägeln brannte, »ich fahre ohnehin nach New York zurück und bin mit Vergnügen bereit, die Arznei in dem von Ihnen bezeichneten Geschäft abzugeben.«
Der Alte wusste offenbar nicht, wie er sich zu dem freundlichen Anerbieten stellen sollte, doch das Mädchen war sofort bereit, es anzunehmen, denn sie hatte augenscheinlich keine sonderliche Lust, selbst die Fahrt nach New York zu machen.
»All right!«, versetzte der Alte schließlich bedächtig. »Wenn Sie so freundlich sein wollen … ich kann mich doch darauf verlassen, dass Sie sorgsam mit dem Päckchen umgehen?«
»Aber selbstverständlich«, beschwichtigte ihn der junge Detektiv. »In dem Geschäft, in dem ich tätig bin, muss ich tagtäglich Wertsachen befördern, die viele Tausende Dollar kosten, und es hat sich noch niemand über mich beklagt.«
»Well, ich nehme Ihr Anerbieten mit Dank an«, erklärte der alte Mann, der inzwischen mit dem Einpacken der Flaschen fertig geworden war. »Bitte, richten Sie Mr. Choate aus, dass ich morgen oder übermorgen mit der Quittung kommen werde.«
In der Tat hielt Patsy sein dem Alten gegebenes Versprechen und lieferte das Paket samt Inhalt wohlbehalten in dem kleinen Apotheke in der Grand Street ab – demselben, in welchem Dr. Staples sich wiederholt zu schaffen gemacht hatte. Nur eine kleine Eigenmächtigkeit erlaubte sich der junge Detektiv dabei, indem er nämlich in einem anderen Apothekengeschäft eine leere Flasche mit Glasstöpsel erwarb, sich dann in das unbesuchte Nebenzimmer eines Saloons setzte, das Paket öffnete und aus jeder der zwölf winzigen Flaschen gleichmäßig wenige Tropfen in die von ihm gekaufte Flasche schüttete, sodass er auf diese Weise selbst eine halbvolle Flasche des seltsamen Mittels für sich gewann. Diese verwahrte er nun sorglich in seiner Tasche. Die anderen dagegen, welchen der kleine Raub nicht anzumerken war, schnürte er sorgfältig wieder ins Paket und gab dieses mit einer schönen Empfehlung in der Apotheke ab.kundigte sich Nick Carter, der sofort an den Wagenschlag herangetreten war und die Insassen des Fuhrwerks nun überrascht musterte.