Nick Carter – Band 15 – Ein verbrecherischer Arzt – Kapitel 6
Nick Carter
Amerikas größter Detektiv
Ein verbrecherischer Arzt
Ein Detektivroman
Ein schlauer Gegenzug
Unverzüglich begab sich der berühmte Detektiv zu dem Haus des Dr. Staples, wurde aber von dem ihm öffnenden Diener mit der Bemerkung zurückgewiesen, es sei nun keine Sprechstunde, und sein Herr empfange niemanden.
»Dann muss ich einen seiner Assistenten sprechen«, erklärte Nick Carter im Ton großer Bestimmtheit, indem er sich an dem Diener vorüber in den Hausflur drängte.
»Ich weiß nicht, ob das angeht, und …«
»Ach was«, unterbrach ihn der Detektiv scharf. »Ich bin kein Patient und muss wenigstens einen der Assistenten sprechen – jetzt machen Sie gefälligst etwas schnell!«
Bestürzt entfernte sich der Diener, um bald darauf mit einem jungen Menschen zurückzukehren, der ihn entrüstet vom Kopf bis zu den Füßen maß.
»Sind Sie Dr. Staples’ Assistent?«, redete ihn der Detektiv an. »Ist dies der Fall, so muss ich Sie sofort unter vier Augen sprechen!«
»In welcher Angelegenheit kommen Sie hierher?«, fragte der junge Arzt, seine Brille zurechtrückend, in strengem Ton.
»Machen Sie keine Umstände, junger Mann, ich komme in einer dringenden Angelegenheit!«
Bewogen durch dessen Ton und dessen ganzes Wesen führte ihn der Assistent zu einem Zimmer.
Kaum hatte sich hinter ihnen die Tür geschlossen, so erklärte Nick Carter von Neuem: »Ich muss Dr. Staples unverzüglich sprechen!«
»Das ist ausgeschlossen, denn er ist mit einem Patienten beschäftigt, welcher extra herbestellt wurde.«
»Das ist mir vollständig gleichgültig. Führen Sie Dr. Staples sofort hierher.«
»Aber ich sage Ihnen doch, das ist ausgeschlossen!«
»Entweder führen Sie mich zu Dr. Staples, oder Sie bringen ihn hierher in dieses Zimmer, aber rasch, Mister – ich muss mit ihm sprechen, und sollte ich das ganze Haus nach ihm durchsuchen müssen!«
»Mit welchem Recht wagen Sie sich in fremdem Hause derartig aufzuspielen …«
»Mit dem Recht eines Detektivs. Ich heiße Nick Carter – und nun eilen Sie bitte, mein Herr.«
Im nächsten Moment war der junge Hilfsarzt bestürzt aus dem Zimmer geeilt. Der Detektiv folgte ihm zur Tür nach und sah ihn in einen anderen Raum eintreten. Aus diesem kehrte er wenige Minuten darauf mit der Meldung zurück, Dr. Staples habe erklärt, niemanden empfangen zu können.
»Dann werde ich ihn aufsuchen!«, erklärte Nick Carter mit äußerster Bestimmtheit, indem er sich der Tür des Zimmers zuwandte, in welchem er den Arzt vermutete.
Mit ärgerlicher Gebärde versuchte der Hilfsarzt ihn gewaltsam zurückzuhalten, fand sich aber zu seiner Überraschung den Augenblick darauf an einer ganz entgegengesetzten Stelle des Korridors wieder, wohin er sich durchaus nicht zu begeben gedacht hatte und mit einer Untersuchung beschäftigt war, ob die Wandmauer oder sein Rücken mehr Widerstandskraft besaß.
»Herr meines Lebens, was für ein Wüterich!«, stotterte der Mann mit der Brille. »Ich bitte Sie, Mr. Carter, es kostet mich meine Stelle, bitte, gehen Sie nicht in das Zimmer!«, setzte er kläglich hinzu, als der Detektiv die Hand auf die Klinke legte.
»Well, ich gebe Ihnen noch zwei Minuten Zeit«, erklärte der Detektiv nun mit der größten Ruhe. »Schaffen Sie bis dahin Dr. Staples nicht herbei, so gehe ich ihn suchen – und ich finde ihn, darauf können Sie Gift nehmen!«
Der Gehilfe gehorchte, und schon in der Minute darauf kehrte er mit einem Mann zurück, der kein anderer war als des Detektivs Verfolger vom Tag zuvor.
»Wie dürfen Sie sich unterstehen, sich in meinem Haus so unverschämt aufzuführen!«, rief der Doktor, der allem Anschein nach ein ebenso entschlossener wie furchtloser Mann zu sein schien.
Statt jeder Antwort bedeutete Nick Carter dem Hilfsarzt, ihn mit seinem Vorgesetzten allein zu lassen. Als der junge Mann widerstrebend gehorcht hatte, wendete der Detektiv sich gelassen an den vor Erregung zitternden Arzt.
»Ich bin nur hergekommen, um Sie davon zu benachrichtigen, dass Ihr Patient, Mr. Charles Collins jun., in absehbarer Zeit nicht zum Verlassen seines Hauses imstande sein wird!«
»Unsinn!«, erklärte Dr. Staples hochmütig, mit seinen stahlharten blauen Augen den Detektiv herausfordernd von Kopf bis zu den Füßen messend. »Mr. Collins wird sich nach wie vor jeden Nachmittag hier in meinem Haus zur Behandlung einfinden!«
»So, von muss ist keine Rede – oder vielmehr werden Sie sich zu seinem Haus begeben müssen, wünschen Sie die Behandlung Ihres Patienten fortzusetzen«, erklärte Nick Carter seelenruhig. »Noch mehr, da Mr. Collins seine eigene Schwäche Ihnen gegenüber kennt, so hat er ausdrücklich angeordnet, dass er nötigenfalls unter Anwendung von Gewalt bis zu seiner vollständigen Wiederherstellung am Verlassen seines Hauses gehindert wird.«
»Eine solche Anordnung hat mein Freund Collins erteilt?«, fragte der Arzt, zum ersten Mal wirklich überrascht. »Was soll das heißen?«
»Sie müssen selbst am besten wissen, da Sie ja sein behandelnder Arzt sind, dass Mr. Collins gewissen Anfällen ausgesetzt ist, während deren Dauer er unzurechnungsfähig wird. Es ist mir gelungen, ihn davon zu überzeugen, dass es gefährlich für ihn sein würde, sich an dritten Orten zu zeigen, solange seine Krankheit andauert, und er hat eingewilligt, sich bis dahin streng einzuschließen.«
Es entging dem Detektiv nicht, dass seine Mitteilungen auf den Arzt höchst enttäuschend einwirkte und dieser kaum seinen Ärger darüber zu verbergen vermochte.
»Ich denke, mein Beweggrund muss Ihnen vollständig einleuchten«, erklärte nun Nick Carter voll eisiger Höflichkeit, »und noch weniger zweifle ich daran, dass Sie, als der behandelnde Arzt, die getroffenen Anordnungen, welche ja nur Ihren Patienten und Freund schützen sollen, in jeder Hinsicht billigen – ich setze dabei natürlich voraus, dass kein Zweifel an dem wirklichen Vorhandensein derartiger merkwürdiger Zufälle besteht?«, setzte er fragend hinzu.
»Nein«, erklärte der Arzt ebenso kalt, »das Vorhandensein dieser Anfälle ist über jeden Zweifel erhaben.«
»Wissen Sie auch, was sich Mr. Collins während derartiger Zufälle zuschulden kommen lassen hat?«, fuhr der Detektiv gelassen fort, dabei den anderen forschend betrachtend.
»Ich verstehe Sie nicht – ein Gentleman von der Bedeutung des Mr. Collins und sich etwas zuschulden kommen zu lassen, sind in meinen Augen unüberbrückbare Gegensätze«, erklärte Dr. Staples kopfschüttelnd.
»Dann sind Sie als behandelnder Arzt über einen sehr wichtigen Punkt im Unklaren«, entgegnete der Detektiv, »denn Mr. Collins hat sich in seinem unzurechnungsfähigen Zustand eine ganze Reihe von Diebstählen zuschulden kommen lassen. Erst in vergangener Nacht stahl er im Haus seines Vaters angelegentlich einer Abendgesellschaft, an welcher auch ich teilnahm, einer der eingeladenen Damen ein wertvolles Armband. Wenige Tage zuvor verübte er unter ganz ähnlichen Umständen einen ebensolchen Diebstahl. In beiden Fällen gelang es mir, die entwendeten Geschmeide ihren Eigentümerinnen unauffällig zurückzugeben. Ich hielt es für nötig, Mr. Collins persönlich von seinen Verfehlungen, für die man ihn natürlich nicht verantwortlich machen kann, in Kenntnis zu setzen, zumal ich ihn heute früh bei vollem Bewusstsein fand!«
»Das wagten Sie zu tun«, rief Dr. Staples und schlug entsetzt die Hände zusammen.
»Gewiss, das wagte ich zu tun!«, wiederholte der Detektiv gelassen.
»Aber das ist ja entsetzlich, wie konnten Sie sich unterstehen, derart störend in meine Behandlung einzugreifen!«, schrie der Arzt, kreidebleich vor Wut im Gesicht. »Nein, dass diese Herren Detektive ihre Nase doch in alle erdenklichen Angelegenheiten, von denen sie nicht das Geringste verstehen, stecken müssen! Wissen Sie auch, Herr, dass ich Himmel und Hölle in Bewegung gesetzt habe, um meinem armen Freund gegenüber seine Verfehlungen streng geheim zu halten?«
»Das setzte ich voraus«, entgegnete der Detektiv, indem er den Aufgebrachten mit einem eigentümlichen Lächeln maß. »Doch ich konnte mir nicht anders helfen, denn die Gefahr stand nahe, dass Mr. Collins bei einem neuerlichen Diebstahl entlarvt werden und dann am Pranger der öffentlichen Meinung entehrt dastehen, mit einem Wort, gesellschaftlich unmöglich gemacht werden würde. Sie als sein Arzt und Freund müssen zugeben, dass dies unter allen Umständen verhindert werden musste, und da Mr. Collins auf keine andere Weise dazu gebracht werden konnte, in seinem Haus zu bleiben, so mussten wir notgedrungen die traurige Wahrheit enthüllen!«
»Unsinn«, knurrte der Arzt. »Sie sehen Gespenster am helllichten Tage – man würde Mr. Collins niemals ertappt haben!«
»Das überlassen Sie besser meiner Entscheidung, denn in dieser Beziehung bin ich sachverständiger als Sie«, erklärte der Detektiv kaltblütig.
Der Arzt gab keine Antwort, sondern begann plötzlich, den Detektiv unverwandt starr anzusehen, während ein eigenartiger, metallischer Glanz in seine Augen kam.
Auch Nick Carter äußerte nichts, sondern ließ volle zwei Minuten den magnetischen Blick des Arztes auf sich einwirken – dann lachte er spöttisch und sagte: »Geben Sie sich keine Mühe, Doktor, denn Sie sind lange nicht so geschickt wie ein Berufskollege von Ihnen, ein gewisser Doktor Quartz, unseligen Angedenkens – der Mann war der beste Hypnotiseur, den ich je getroffen habe – aber bei mir versagte seine Kunst, und wenn Sie mich auch noch bis zum nächsten Schaltjahr derart überwältigend anschauen, meine Willenskraft nimmt es mit der Ihren auf, und ich bin kein solch geeignetes Versuchsobjekt wie etwa Mr. Collins.«
Mit einem unterdrückten Schrei wendete sich der Arzt ab und durchmaß mit großen Schritten das Zimmer.
»All right«, rief Dr. Staples schließlich, unfähig, den in ihm gärenden Ärger länger zu unterdrücken, »alle Verantwortung auf Sie, Mr. Carter. Wird meine Behandlung jetzt unterbrochen, so stehe ich für nichts …«
»Das braucht ja nicht zu geschehen«, unterbrach ihn der Detektiv lächelnd. »Alles, was Sie zu tun haben, ist, sich zum Haus Ihres Freundes zu begeben und dessen Behandlung dort fortzusetzen – das sollen Sie ja nicht umsonst tun, sondern Sie werden dafür bezahlt – und schließlich sind Sie doch keine solch große Kapazität«, schloss er mit einem spöttischen Lächeln, indem er sich ironisch verbeugte. »Selbst Ihr ungleich berühmterer Fachkollege, Dr. Anthony, wohl der beste lebende Nervenspezialist, dessen persönlicher Freundschaft ich mich rühmen darf, verschmäht es nicht, seine Patienten in deren eigenen Wohnungen aufzusuchen – und sollten Sie zu dem Entschluss kommen, die weitere Behandlung abzulehnen, so lassen Sie es mich ruhig wissen, dann werde ich Dr. Anthony zur Übernahme der Behandlung bestimmen – und alle Verantwortung für die daraus entstehenden Folgen will ich gerne übernehmen!«
Dr. Staples erwiderte nichts, sondern schaute den Detektiv nur mit einem Blick an, aus welchem Enttäuschung und Wut, vielleicht auch Furcht zu sprechen schien.
Nick Carter aber erwartete auch keinerlei Antwort.
Er verneigte sich nur leicht und verließ ohne weiteren Aufenthalt das Haus des Arztes, um auf des Letzteren Fährte einen seiner Gehilfen zu hetzen.