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Tony Tanner – Agent der Weißen Väter

Im Wettlauf mit der Zeit – Teil 3

Tony Tanners Tagebuch. London.

Welcher Idiot hat eigentlich diesen Schwachsinn von wegen My home is my Castle in die Welt gesetzt? My Home is my Gummizelle! Ich frage mich, warum sie mich noch nicht kassiert haben. Sie haben doch alles, sie haben Verbindungen, sie haben ihre Leute bei der Polizei, sie haben die herzzerreißend heißen Blondinen, die mir eine Vergewaltigung an den Hals hängen wollen, also warum lebe ich eigentlich noch?

Ich bin den Typen nicht wichtig genug. Vielleicht wollen sie mich ja auch noch etwa studieren, bevor sie mich platt hauen wie eine Kellerassel. Tony Tanner, Versuchsobjekt, Laborratte. Jedenfalls wirkt die Methode. Ich drehe so langsam voll ab.

Oh, Herr Tanner, da es um Ihre eigene werte Person geht, sollten Sie sich doch etwas gepflegter ausdrücken. Also: Herr Tony Tanner, London, beginnt langsam aber sicher unter Verfolgungswahn zu leiden. Durchsucht die Wohnung nach Abhörgeräten. Kriecht auf dem Bauch über den Teppich und holt tausendjährigen Staub unter Sofas hervor, in der festen Überzeugung, dass dort so eine elektronische Wanze versteckt ist.

Francine, sollten wir je wieder zusammenkommen, dann werde ich dich über deine mangelnden Fähigkeiten bei der Bekämpfung des verborgenen Hausstaubes belehren müssen.

Nein, werde ich nicht, ich werde dich – zensiert, zensiert, zensiert. Nein, nichts zensiert, denn dein Balg, das anders aussehen wird als ein Kind, das mich zum Erzeuger hat, würde herumbrüllen und an deinem langsam aus der Form geratenden Busen lutschen und mir würde nichts anderes übrig bleiben, als der Familienidylle Tribut zu zollen, indem ich mich dezent mitsamt einem Hochglanz-Schmuddel-Magazin ins Bad zurückziehe.

Mir geht dieses 1999 nicht aus dem Kopf, das unter dem Blutgemälde von Gainsworth stand. Scheint so, als stünde uns ein Millenniumproblem ins Haus. Hurra, die Welt geht unter.

Vielleicht sollte ich zum Islam übertreten, die sind doch erst im siebzehnten Jahrhundert oder so.

Würde gerne mit Dorkas darüber reden, dann könnte ich mir dieses Chaotengeschreibsel sparen, aber der ist natürlich unterwegs. Fünfzig Jahre oder wie alt er auch sein mag, sitzt Dorkas auf seinem Arsch in London herum und dann entdeckt die Lust an der weiten Welt.

Und natürlich mit seinem neuen Kumpel Little. Tony, du wirst doch nicht so etwas wie Eifersucht in deinem starken Herzen verspüren?

1999, vielleicht ist es ein Schlüsselwort? Oder etwas anderes, was weiß ich.

Gestern hielt ein Auto vor der Tür und zwei Männer stiegen aus und ich wusste, die meinen mich. Ich wusste es, wie ich wusste, wo oben und wo unten ist. Und dann sind die Typen irgendwohin verschwunden und man sah sie nie wieder. Und ich sagte mir, dass ich den Haschmich habe und dann sagte ich mir, dass sie mich bloß nervös machen wollen.

Und dann, der Höhepunkt – Auftritt Pillbury!

Alors, on commence, mes enfants. Am Vormittag gab es eine Gesamtkonferenz des Amtes. Vorstellung neuer Abteilungsleiter. Der dritte Mann nach dem Chef. Ich gestehe errötend, aber mit mannhafter Aufrichtigkeit, dass ich auf den Posten scharf war. Den wollte ich haben. Ich wollte, ich wollte, ich wollte.

Vermutlich hat mich die Nizza-Leider-Krank-Geschichte aus dem Rennen geschossen. Schwamm drüber.

Ich höre schon das Geräusch, mit dem sich Heathercroft in den Allerwertesten des neuen Vorgesetzten reinschleimt. Dieser Pimmock hat sich nicht mal Mühe gegeben, seine Schleimerei irgendwie etwas dezenter zu gestalten.

Gott sei’s getrommelt und gepfiffen, dass ich mit dem Typen nichts zu tun habe, weil ich unserem alten Chef direkt verantwortlich bin. Aber wie lange sich mein liebster Chef noch auf dem Stuhl hält … jedenfalls wird der Neue in einigen Monaten anfangen, an seinem Stuhl zu sägen. Das ist so einer.

Ich bin ungerecht und es macht mir verteufelt Spaß. Ich dachte mir, der Tag könnte außer einem Atomschlag auf London oder der Wahl von Maggie Thatcher zur Miss Britain nicht Schlimmeres mehr bieten, aber ich täuschte mich denn wohl doch ein wenig sehr.

 

Szene: das idyllische Büro von Tony Tanner. Selbiger in Arbeit versunken, und mit Papieren raschelnd. Dunkle Gedanken umwölken seine männlich-herbe Stirn. Er denkt daran, dass er den edlen Heathercroft nicht mehr lange örprösen kann, om seine schöndliche Taten öberall auf der Wölt auf Kosten des brätäschen Steuerzahlers zu troiben. Im ernst, das könnte ein Problem geben. In vier Wochen sitzt Heathercroft korkenfest im Anus des Neuen und wird sich so sicher fühlen, dass meine Drohung ihm nur noch ein müdes Lächeln abringen wird. Eher mache ich die Flatter.

Dann: Auftritt Heathercroft: dreckiges Grinsen auf der Visage. Du hast lieben Besuch, Tanner.

Und dann: Auftritt Pillbury. Entsetzen im Publikum. Pillbury. Glänzende schwarze Lederhose mit Nieten und Tunto-Troddeln. Spitze Schlangenlederstiefel. Lederjacke in Schwarz mit silbernen Applikationen, darunter lila Seidenhemd. Lässiger Zahnstocher im Mundwinkel und Hei, Alter zur Begrüßung.

Und Heathercroft: Dein Besuch hat sein Motorrad auf dem Parkplatz von dem neuen Chef geparkt. Findet der nicht gut. Tschau, Tanner und kicher, kicher und ab durch die Tür.

Und Pillbury sagt noch Das ist kein Motorrad, das ist ‘ne Harley, du Ignorant. Woher hat er soviel Geld? Irgendwie muss die Kriminalstatistik Londons nach oben ausgeschlagen sein oder er hat seine reiche Erbtante im Klo ertränkt.

Pillbury tut arg wichtig und sagt, Dorkas wollte, dass er zu mir kommt, falls er selbst, also Dorkas, gerade nicht erreichbar sei. Und zieht er vom Leder. Irgendeine Schweinerei in der Kanalisation und das müsste ich mir angucken. Und ich Vielleicht ist die Kanalreinigung die bessere Adresse und dann fängt er an, komplett durchzudrehen und schwafelt von Subhumans und Verbrechen und Geheimnis, und dass die Subhumanen sich nie zeigen und nur wenige Kontakt mit ihnen haben, aber er – Pillbury – hat Kontakt zu diesen Märchenwesen, ich krieg’ die Krise – und ich sollte mir den Kram anschauen und Dorkas berichten und Dorkas würde vermutlich stinkig sein, wenn ich nicht pariere.

Wir verabredeten uns für heute Abend. Ätsch, Pillbury, ich gebe dir fünf Minuten und dann mach ich die Fliege, ich will heute noch richtig gemütlich baden. Ich und ab in den Kanal. Vergiss es!

Hurra, es gibt doch noch was Positives. War gerade dabei, um mich für das Pillbury-Meeting fit zu machen, da klingelt das Telefon. Aloo, Tooony, schön deine Stimmä zu ören.

Mann, diese Frau bewirkt bei mir hormonelle Schockwellen in Tsunami-Größe. Oder wie hieß dieses japanische Katastrophengemüse, von dem Dorkas was erzählte?

Sie hat mich angerufen!!!! Ich hatte ihre Stimme in meiner Ohrmuschel! Sie versprach, demnächst mal vorbeizukommen und ich bin sicher – ICH BIN SICHER – dass sie es auch so meint. Wir unterhielten uns eine gute halbe Stunde lang und ich sonderte endlose Girlanden von Charme ab. Und Küsschen zum Abschied. So blöde kann ich gar nicht sein, um diese Sache zu verderben. Und, ich rufe die Welt zum Zeugen, ich will sie! Ich will, ich will, ich will. Na ja, sie ist keine Frau zum Flachlegen. Ist mir sowieso noch nie gelungen. Aber sie ist eine Frau für eine gepflegte göttliche Ekstase, dass die Engel herbeieilen und schauen, woher diese Wogen der Wonne stammen, die die öden Weiten des Universums bis in die tiefsten Tiefen mit Wohlklang erfüllen.

(»Wogen der Wonne« muss ich mir patentieren lassen. Guter Name für einen Badezusatz oder so.)

Sie erzählte auch noch eine Story, die sie von ihrer Nervensägenfreundin hat. Italienischer Bürgermeister, Gegner einer Atomanlage, wird durch kompromittierende Fotos unmöglich gemacht. Lucille meinte, die Sache könnte ähnlich gelaufen sein, wie meine Pseudovergewaltigung. Ich muss mit Dorkas darüber sprechen. Habe mir Namen und Daten aufgeschrieben. Sie fand es übrigens äußerst witzig, dass ein Typ wie ich ein Vergewaltiger sein soll. Ich fühlte mich in meiner Ehre gekränkt und erklärte ihr, dass man mich früher den Tiger genannt hat und zu Tom Jones »Kitten« gesagt hat. War natürlich gelogen. Aber sie lachte sich halb tot. Und für dieses Lachen lohnt sich jede Lüge. Ich fürchte, es hat mich voll erwischt. Amors gröbster Schrott und aus kurzer Entfernung mitten ins Herz.

Francine, ich kann deinen Namen schreiben, ohne dass etwas wehtut.

Lucille Lucille Lucille Lucille Lucille. God bless you. Lucille.

Lucille, pass auf dich auf. Und jetzt mache ich mich auf zum allseits beliebten Pillbury und seinen Subhumanen. Fünf Minuten, nicht länger!!

 

Tony erschien zehn Minuten vor der vereinbarten Zeit am Treffpunkt. Er richtete sich auf eine längere Wartezeit ein, denn dass Pünktlichkeit in Pillburys Verhaltenskodex eine größere Rolle spielen könnte, schien ihm nur schwer vorstellbar. Umso erstaunter – und in das Erstaunen mischte sich die Empörung des Gerechten, dass Pillbury in heimtückischer Weise gegen Tonys Vorurteile anging – war er, als fünf Minuten später und somit äußerst höfliche fünf Minuten vor der Zeit, Pillbury seinen Auftritt hatte.

Pillbury kam nicht einfach. Er lief ein, wie es ansonsten nur einem Luxuszug vergangener Zeiten oder einem exklusiven Kreuzfahrtschiff gelungen sein mochte. Seine Annäherung zwischen den Lichtern der Autos und Busse erweckte bei Tony Tanner den Eindruck, dass sich die Strandpromenade von Blackpool auf wundersame Weise in Bewegung gesetzt hatte und nun durch eine Londoner Straße rollte. Bei näherem Hinsehen entpuppte sich diese Vision als Auswirkung der vielen kleinen Lämpchen, mit denen Pillbury, von den Lederfransen und den Münzen und den Chromleisten und dem Fuchsschwanz und den Silbermedaillons abgesehen, seine Harley verziert hatte. Sein Zweirad war der mobil gewordene Traum eines Cockneys, und insofern verstand Tony jetzt das maliziöse Grinsen, mit dem Heathercroft Pillburys widerrechtliche Nutzung eines Chefparkplatzes vermeldet hatte, ein wenig besser.

Am Heck dieses zwiegeräderten Schlachtschiffes flatterten diverse Flaggen und kündeten von Britanniens Größe über den Weltmeeren und den Londoner Verkehrswegen.

Pillbury rauschte mit einem Kopfnicken an Tony vorbei, machte nach einem Metern eine elegante Bremsung und ließ die Harley mit rauchendem Hinterreifen auf der Stelle drehen. Dann gab er Gas, das Vorderrad stieß in die Höhe und Pillbury trieb die schwere Maschine über die Bordsteinkante. Als er bremste, tauchte die Vorderradgabel so tief ein, dass Tony sofort an ein Kamel, das sich zur Ruhe legte, denken musste.

»Hei Alter, scharfes Büro hast du«, grüßte Pillbury ohne weitere Umstände und stieg von der Harley. Die zahlreichen Passanten mussten um das Motorrad herumgehen, die kleine Gruppe wurde zu einem Verkehrshindernis, und entsprechende Kommentare waren unüberhörbar.

Tony spürte, dass seine Gesichtshaut besonders gut durchblutet war. Zudem überlegte er, was an seinem Büro scharf sein könnte, denn er selbst hätte diesem Raum nur Attribute wie reinlich, praktisch oder gut aufgeräumt zugestanden. Vermutlich verstand Pillbury nicht allzu viel von diesem Biotop des modernen Arbeitnehmers.

»Tja, wie ich schon sagte«, fuhr Pillbury fort, »Dorkas ist fort und ich sollte mich an dich wenden, wenn was anliegt.«

»Schön und was liegt denn nun an?« Drei Minuten, dachte Tony Tanner, bleiben noch zwei und dann ist der Kuchen gegessen.

»Das liegt an.« Pillbury öffnete eine nietenbeschlagenen, fransenverzierte Satteltasche und holte eine Plastiktüte heraus. Er überreichte sie Tony. Der musste sich vor die Scheinwerfer stellen, um den Inhalt zu erkennen. Er schaute eine ganze Weile. Dann schluckte er und gab die Tüte wieder zurück.

Das Plastik war innen mit einer roten Schmiere bedeckt, die unzweideutig Blut darstellte. Daher fiel es schwer, das Papier, das in der Tüte steckte, genauer zu untersuchen. Tony erkannte, dass es ein Stück eines Personalausweises war. Es war die Seite mit dem Passbild, allerdings war von dem Bild nur noch der untere Rand übrig.

Man konnte sehen, dass die abgebildete Person eine Krawatte getragen hatte. Mit einiger Mühe entzifferte Tony die verschmierten Buchstaben unter dem Foto – … rt Bruce. Es bedurfte keiner genialischen Denkarbeit, um auf Herbert Bruce zu kommen, den Assistenten von Puttkammers.

»Arbeit für die Polizei«, stellte Tony fest. Seine Stimme zitterte leicht.

Pillbury schüttelte energisch den Kopf. »Schlag ein Ei drüber, Alter. Nix für die Bullen.«

»Weshalb nicht. Hast du was damit zu tun?«

»Ich?« Pillbury war ehrlich empört. »Ich hab mit Mord oder so nie nix am Hut gehabt und so soll’s bleiben.«

»Schön, aber warum keine Polizei?«

»Weil die Bullen nichts davon wissen und auch nie was davon wissen werden.«

»Warum? Man kann ihnen doch dieses Teil zukommen lassen. Man muss dabei ja nicht mal selbst in Aktion treten. Warum soll die Polizei nicht das machen, wofür sie bezahlt wird?«

»Hab ich doch gesagt. Das Stück stammt aus dem Untergrund. Ich hab’s durch Beziehungen in die Finger gekriegt. Kapierst du, keine Leiche, nix, die Bullen wissen vor gar nichts! Mann!«

»Aber was haben wir damit zu tun. Ich meine, was soll ich jetzt machen?« Die fünf Minuten waren vorbei und Tony Tanner fühlte sich schlecht.

»Hast du in deinem Büro auf den Ohren gesessen, Kumpel? Ich sag’s dir aber gerne noch mal. Dieser Typ, oder wenn es eine Frau war, diese Schlunze, ist unten kaltgemacht worden. Im Untergrund. Im Kanalsystem. Soweit klar? Gut! Also, wo war ich, ich kenne da einige Leute und die sagen mir, dass in der letzten Zeit dort systematisch Typen kaltgemacht werden. Und zwar auf die harte Tour, verstehst du? Mann. Nicht einfach, ex und hopp, um sie loszuwerden, sondern auf die harte, um ihnen wehzutun. Keiner weiß, wer das macht, und die Bullen wissen nicht mal, dass so was stattfindet. Aber es stinkt und das ist genau die Art von Sache, wo Dorkas von gesagt hat, dass ich darauf achten soll.«

»Und was soll ich dabei tun?«

»Nachschauen und Dorkas berichten.«

»Das kannst du doch auch?«

»Pass auf, Alter, ich habe meinen Teil schon erledigt. Wenn es mich nicht gäbe, hättest du den Informationsstand der Metro Police – und das heißt null. Soweit sind wir einig. Zweitens hast du mehr Grips als ich. Nu ja, zumindest in manchen Bereichen, sag ich jetzt mal so – und es wird Dorkas eher helfen, wenn du nachschaust, als wenn ich peile. Soweit sind wir doch auch klar?«

»Soll ich jetzt in den Gully und gucken oder wie?« Tonys Antwort wirkte schon auf ihn selbst rüpelhaft und zeigte, dass er nervös wurde.

»Muffe? Wenn ihr den guten Alex nicht hättet. Ich hab einen Kumpel, der dich führen wird. Wartet auf ‘nem Supermarktparkplatz. Also, schwing die Hufe, wir fahren hin.«

 

Pillbury startete den Motor und so fühlte sich Tony bemüßigt, schon um eine weitere Diskussion in der Öffentlichkeit zu vermeiden, auf den Rücksitz zu klettern. So befand er sich in einem breiten Ledersessel mit Armstützen und hoher Rückenlehne, der alle Voraussetzungen für entspanntes Sitzen bot – wenn er in einem wohltemperierten Zimmer mit leiser klassischer Musik im Hintergrund gestanden hätte.

Dies war nicht der Fall, daher krallten sich Tony Tanners Finger in die Armstützen, wenn er nicht gerade versuchte, seine Frisur vor dem Fahrtwind zu retten.

Sturzhelme gehörten zu jenen Attributen des Spießbürgers, die Pillbury ebenso verachtete wie Pickelcreme oder Verkehrsregeln. Seine Abfahrt vom Bürgersteig konnte sich in ihrer Dynamik mit dem Katapultstart eines Düsenjets vom Deck eines Flugzeugträgers messen.

Tony war geistig sozusagen immer mehrere Meter hinter dem aktuellen Stand des Geschehens und schickte noch Stoßgebete zwecks Vermeidung von Unfällen gen Himmel, die Pillbury schon längst umkurvt hatte. Seine Fahrweise war sehr einfach zu beschreiben. Sie bestand aus lediglich drei Komponenten, die da hießen Vollgas und Vollbremsung, ersteres meistens, letzteres nur in Ausnahmefällen und das Ganze kombiniert durch die Reaktionsgeschwindigkeit eines besonders gut aufgelegten Mungos.

Schließlich kniff Tony die Augen zu und ergab sich in sein Schicksal, wie er es auch getan hatte, wenn ihn Francine auf eine Achterbahn zerrte, um dann neben ihm begeisterte Quiekgeräusche auszustoßen und Tony sich auf die Verhandlungen mit seinen rebellierenden Eingeweiden konzentrierte, während sein Körper von fremden Kräften hin- und hergerissen wurde.

So ähnlich war es auch jetzt – die Beschleunigung drückte ihn gegen die Rückenlehne, der Wind heulte in seinen Ohren und tat seinem Scheitel erlkönigliches Leid. Tony wettete, dass Pillbury den Originalmotor irgendwie manipuliert haben musste, denn dieses heiser-trockene Auspuffgeräusch hatte er noch nie von einem Motorrad zu hören bekommen. (Was nichts besagte, da diese Geräte nie zum Interessenkreis eines Tony Tanner gehört hatten.)

Dann brach das Toben des Motor ab und im nächsten Moment musste er die Knie zusammenkneifen wie eine überzeugte Jungfer, damit es ihn beim Bremsen nicht über den Fahrer hinaus auf die Straße warf.

 

Nach einer Fahrt, in der sich Pillbury durch belebte Straßen gerüpelt hatte, reduzierte er die Geschwindigkeit, zog mit sanft blubberndem Motor an einer Polizeistreife vorbei und bog in eine Seitenstraße ab.

Vorsichtig öffnete Tony die Augen. In seinen Ohren tobte noch das Geräusch des Fahrtwindes, und so vernahm er Pillburys Fluch nur sehr leise. Sein Fahrer schaltete mit schnellem Griff die Festbeleuchtung aus und lenkte die Harley hinter eine Batterie von Müllcontainern. Sie standen am Rand eines großen leeren Parkplatzes. Auf der anderen Seite lag das nur noch schwach beleuchtete Gebäude eines Supermarktes.

Tony hatte keine Vorstellung, wo sie sich befanden, aber es lag ein Geruch in der Luft, der auf die Nähe der Themse zu deuten schien.

»Wains und seine Ratten. Verdammt«, knurrte Pillbury. »Das bedeutet Ärger!«

Tony war sich ganz sicher, dass er auf keinen Fall Ärger mit Leuten haben wollte, die Pillbury kannte. Er wollte aus seinem Sitz herausklettern, aber Pillbury winkte ihn hektisch zurück und deutete dann auf den einzigen Wagen, der noch auf dem Platz stand. Es war ein schwarzes Oldsmobil, einer dieser Wagen, auf deren Motorhaube ein Hubschrauber landen könnte.

»Was ist los?«, fragte Tony, eigentlich eher mechanisch, ohne wirkliche Hoffnung auf eine Erklärung.

»Da«, zischte Pillbury nur und zeigte.

Tony begann zu verstehen. Eine Gruppe von vier Leuten kam aus dem Schattenbereich neben dem Supermarkt und hielt auf den Wagen zu.

Einer lief hinter der Gruppe und drehte den Kopf sichernd in alle Richtungen. Zwei andere hielten einen Dritten in ihrer Mitte, und es war nicht klar, ob die Gestalt in der Mitte schwach und stützungsbedürftig war oder unter Zwang abgeführt wurde. Die Männer bestiegen den Wagen und fuhren los.

»Also«, wandte sich Pillbury nun an Tony. »Plan A, die Sache ist gegessen und ich fahr dich nach Haus. Plan B, wir verfolgen diese Säcke!«

Plan A, fuhr es Tony durch den Kopf, und danke, ich gehe zum nächsten Taxistand.

Und er sagte: »Plan B«, weil er Plan A gedacht hatte.

»Irgendwie hatte ich es befürchtet«, antwortete Pillbury sarkastisch und drückte auf den Anlasser.

 

Nach kurzer Zeit hatten sie das Oldsmobil wieder im Blick. Pillbury hielt sich in sicherem Abstand. Der Wagen bog auf eine mehrspurige Straße in Richtung Süden ein. Der Verkehr war lebhaft. Ein schier ununterbrochener Strom gleißender Fahrlichter strömte über den Asphalt, und Pillbury brauchte eine Weile, bis er zwischen den heranrollenden Wagen eine Lücke fand, die ihm das Einfädeln erlaubte.

Es dauert zu lange, dachte Tony, und das Oldsmobil würde jetzt schon über alle Berge sein.

Er registrierte bei sich eine leichte, eher pflichtgemäße Enttäuschung und gleichzeitig eine riesige Erleichterung. Aber er hatte Pillbury unterschätzt. Unauffällig aber hartnäckig nutzte Pillbury jede Lücke, jeden Sicherheitsabstand, um den schweren Eisenhaufen von einem Motorrad eine weitere Position nach vorne zu bringen.

Es erinnerte Tony an das Gerempel eines Läuferpulks, kurz bevor die Glocke zur letzten Runde anschlägt und jeder Konkurrent sich in die beste Position bringen will.

Sie passierten zwei oder drei Abfahrten.

»Wenn sie hier raus sind, haben wir voll die Arschkarte!«, schrie Pillbury.

Der Fahrtwind und das Motorengeräusch machten seine Worte schwer verständlich. Aber dann stieß Pillbury einen spitzen Jauchzer aus, als vor ihnen die Lichter des Oldsmobils auftauchten, und Tony wünschte, sie hätten die besagte Karte gezogen und nicht diesen Joker.

Pillbury hielt sich einige Zeit hinter dem Wagen, dann gab er Gas, die Harley stieg vorne hoch und zog vorbei. Für einen kurzen Moment konnte Tony drei Gestalten auf dem Rücksitz erkennen und den Fahrer, der den rechten Arm lässig gegen das Wagenfenster gelehnt hatte und das Lenkrad mit drei Fingern hielt.

Pillbury scherte zwei Wagen vor dem Oldsmobil in eine Lücke ein. In den vier Rückspiegeln, die links und rechts neben der Windschutzscheibe befestigt waren, konnte er den Olds bestens beobachten. Manchmal zog er das Motorrad etwas näher an die Mittellinie und hatte dessen orangefarbenen Begrenzungsleuchten deutlich im Spiegel, dann lenkte er zurück auf die Mitte der Fahrspur. Die Männer im Oldsmobil mussten verteufelt misstrauisch oder außergewöhnlich fähig sein, um die beiden Harley-Fahrer im Verdacht zu haben, sie zu verfolgen.

Zwischen Hochhäusern konnte Tony Tanner sekundenkurz die erleuchteten Kräne auf der Baustelle des Millennium Dome erkennen. 1999 fuhr es ihm durch den Kopf, und dann, als hätte er unvorsichtig ein Fädchen weggezupft und würde nun mehr und mehr und einen immer längeren Faden in der Hand halten und dabei ein ganzes Gewebe aufmachen, kamen die Gedanken und Bilder: Gainsworth, der zwischen Irren auf dem Boden hockte und mit seinem Blut Bilder malte, die Raubtiere, die auf seinen Bildern auftauchten, der Papierfetzen mit dem Blut von Herbert Bruce, das Verlies, in dem er, Tony Tanner, gelegen hatte …

 

Die Erinnerungen prasselten einem Hagelschauer gleich in sein Bewusstsein. Er konnte sich nicht dagegen wehren. Vielleicht, wenn er zu Hause gewesen wäre, hätte er sich unter die Dusche gestellt, sich betrunken oder am ehesten noch den Fernseher angeschaltet und wie süchtig die Banalität irgendwelcher Serien eingeschlürft wie übersüßen Likör, der Übelkeit erregt, aber der wenigstens betäubt. Jetzt aber, gefangen auf der Soziussitz einer dahinbollernden Harley, fühlte er sich den pochenden Bildern ebenso ausgeliefert wie dem Fahrtwind.

Etwas stimmte nicht. ETWAS STIMMTE NICHT! Etwas war falsch. Hinter all dem, hinter Motorengeräuschen und Rollen der Räder und vorbeihuschenden Lichtern und Polizeisirenen und Gedudel aus Autoradios und Gestank der Abgase, hörte er das leise Knistern im Balkenwerk der Wirklichkeit, mit der sich der Zusammenbruch ankündigte.

Vielleicht war alles schon geschehen, vielleicht wusste Pillbury mehr und verriet nichts, oder Dorkas wusste etwas und verschwieg die Nachricht. Tony Tanner wurde von dem Gefühl übermannt, dass er allein die Katastrophe noch nicht registriert hatte. Alle anderen wussten davon und sahen sich mit bedeutungsvollen Blicken an, sie verständigten sich mit geheimen Zeichen und hupten sich Signale verschwiegenen Einverständnisses zu, sie wisperten und tuschelten und waren wie Menschen, die auf den rechten Moment warteten, um die schlechte Botschaft endlich auszusprechen.

Ich drehe durch, sagte sich Tony, ich werde paranoid. Aber was nutzte das, was taugten diese rationalen Beobachtungen –ich habe einen Bauchschuss, ich verliere einen halben Liter Blut in der Minute, in drei Minuten bin ich tot – nutzte das etwas? Konnte jemand dadurch länger leben?

Verdammt, sagte er sich, ich sacke ab. Und er sackte ab, er blickte in eine Tiefe und erkannte, dass er fiel und fiel, Ewigkeiten lang und nur gemessen in dem gläsernen Maßstab schriller Angstschreie.

»Kennst e Wains?«

»Was?« Dass ihn jemand ansprach, passte nicht in das Bild. Es war zu alltäglich, zu banal, zu gewöhnlich, zu köstlich.

»Mann, kennste Wains«, wiederholte Pillbury geduldig seine Frage.

»Nie vom ihm gehört.« Pillbury schüttelte missbilligend den Kopf. Für einen Moment wirkte er wie die pickelige, pomadisierte Version eines Cockney-Dorkas.

»Große Nummer. Zumindest in seinem Geschäftsbereich und so im Umkreis von zehn Kilometern um die City herum. Diese Themseseite, versteht sich. Drüben lässt er sich nie blicken.

Hat übrigens eine sentimentale Seite, Alter. Traditionalist – steckt der Konkurrenz tatsächlich noch Frettchen in die Hosen. Echt. Frettchen, wie’s früher so Sitte war unter den schweren Jungs. Ey, man sollte ihn in den Club britischer Traditionalisten aufnehmen.«

 

Die Harley geriet in sanftes Schlingern, weil sich Pillbury vor Lachen schier ausschütten wollte.

Tony war sich nicht sicher, was Frettchen in Hosen anrichten, hätte aber darauf gewettet, dass Pillbury seinerseits keinen ernsthaften Streit mit diesem Wains hatte.

»Was für Geschäfte?«, fragte er. Die Frage interessierte ihn im Augenblick nicht die Bohne, aber er wollte, dass Pillbury endlich mit dem Lachen aufhörte und die Maschine wieder ruhig hielt.

»So Richtung Hehlerei und Prostitution. Zeig auf irgendeine Schlunze, die du haben willst, und du kriegst sie von ihm. Ist nur noch ‘ne Geldfrage.«

»Und wenn die Frau mich nicht mag?«

»Scheiß drauf. Sie soll dich nicht mögen, sie soll stillhalten – oder schreien, falls dir das besser gefällt. Wains hat so seine Tricks. Entweder Geld oder Drohung oder eins in die Fresse oder Drogen. Aber du kriegst sie, das ist so sicher, wie das Amen in der Kirche … Mm, war wohl ’n schlechter Vergleich. Wains besorgt dir alles – von pakistanischen Pornos bis zum Einbau einer versteckten Kamera in die Toilette eines Nonnenklosters.«

»Das klingt ziemlich schmierig.«

»Ist es auch, aber es bringt massig Schotter, Alter.« Damit war für Pillbury die Unterhaltung beendet. Er lenkte wieder an die Mittellinie und warf einen Blick auf den Olds.

Dann setzte er den Blinker und fuhr auf die nächste Abfahrt. An der Einmündung lenkte er nach rechts, peilte in die Rückspiegel, fluchte und warf die Maschine in eine quietschende, nach verbranntem Reifengummi stinkende Drehung.

»Kacke, Mann, ‘ne Fünfzig-Fünfzig-Chance und ich wähle die falsche Seite. Könnt’ ich das Kotzen kriegen, aber echt, Mann … Warum setzt dieser Arsch den Blinker so spät, sag’ mir das mal einer, freundlicherweise, ich könnt’ die Krätze kriegen, ehh.« Pillbury regte sich noch einige Minuten weiter auf und Tony lernte einige neue Begriffe, die er aber in seinem normalen Bekanntenkreis nie würde anwenden können.

 

Die Gegend, durch sie dem Wagen nun folgten, hatte den gediegenen Charakter eines besseren Stadtviertels. Die parkenden Automobile am Straßenrand gehörten zur Kategorie Mittelklasse mit Tendenz nach oben, untermischt mit schnittigen Roadstern, die nach Berufssöhnen oder erfolgreichen Jungaktienhändlern aussahen, und den echten Sportwagen, die meist von den älteren Herren pilotiert werden, die sich trotz grauer Haare damit einen Jugendtraum erfüllen. Die Hausfassaden wirkten viktorianisch verschnörkelt und zierten sich mit Erkern, Säulen und Bögen.

Durch die Fenster konnte man einen Blick auf Kristalllüster unter den Decken erhaschen.

Menschen saßen zusammen auf Ledergarnituren, unterhielten sich, spielten Karten, schauten auf den Fernsehschirm. In einer Haustür erschien ein Mann, und als die Lampe über der Tür aufleuchtete, sah Tony die Frau mit dunklen, langen Haaren, die hinter ihm stand, und für einen Moment begann sein Herz zu pochen, weil er glaubte, die Frau zu erkennen.

Das ganze Viertel roch nach Geld, nach Erfolg, nach Zukunft im Blick, nach Karriere, sicherem Pensionsanspruch und Lebensversicherung. Es war eine Gegend, die es absurd erscheinen ließ, dass ein Mensch wie Tony Tanner, der durchaus hierhin gepasst hätte, auf dem Rücksitz eines Motorrades hindurchglitt, auf der Fährte eines dubiosen Frettchenbenutzers namens Wains und eines anderen Mannes, der Dinge wusste, von denen die Polizei nichts ahnte.

Sie näherten sich nach einer etwa viertelstündigen Fahrt einem Rondell. In der Mitte des Platzes wuchsen einige alte Bäume. Das Oldmobile schwenkte in weitem Bogen aus und fuhr dann in eine Einfahrt. Die Durchfahrt war zu eng für die schwere Limousine, es dauerte eine Weile, bis das hektische Blinken der Bremslichter und der Rückfahrscheinwerfer verlosch und das Heck endlich im Tor verschwand. Pillbury parkte hinter einem Baumstamm.

»Na, Alter, fällt dir was auf?«

»Na schön, die tun sich was an, wenn sie mit ihrem Schlitten in die Einfahrt fahren.«

»Korrekt, Alter. Die fahren in die Einfahrt, weil es nicht anders geht. Und warum geht es nicht anders?« Die Frage blieb unbeantwortet, auch wenn beiden klar war, dass es etwas mit dem Mann zu tun haben musste, mit dem sich Pillbury und Tony treffen wollten.

»Ich fürchte, das war’ s dann. Es sei denn, wir packen die M 16 raus und stürmen den Laden«, bemerkte Pillbury.

Tony schüttelte den Kopf. »Abwarten. Abhauen können wir immer noch. Wir peilen einfach mal noch ein Weilchen.« Das klang gut, auch wenn es eine Schutzbehauptung war. Tony wollte sich von der Motorradfahrt erholen und von dem Anblick der Frau mit den langen, schwarzen Haaren – und es war ein gutes Gefühl, gegen einen Baumstamm zu lehnen und die Rinde unter den Fingern zu spüren. Vielleicht war das ja tatsächlich so etwas wie ein Festpunkt, an dem er seine zerfaserte Wirklichkeit wieder aufhängen konnte – die raue Rinde eines Baumes, das Rauschen der Blätter unter dem sanften Wind und …

»Ey, den kenn’ ich doch!« Pillburys Ellbogenstoß in die Rippen ließ Tony zusammenzucken.

Er schaute auf die Gruppe, die sich vor den Eingangsstufen des Hauses versammelt hatten, in dessen Einfahrt das Oldsmobil verschwunden war. Tatsächlich, den jungen Schnösel an der rechten Seite glaubte auch Tony zu erkennen.

Ein Fußballspieler, einer der millionenteuren Ballkünstler, zu deren Beschreibung die Sportpresse stets zu hymnischen Vergleichen griff. Vor kurzer Zeit hatte er irgend so eine Sängerin geehelicht, aus einer dieser nervtötend schrillen Girliegruppen, die auf der Bühne wirken wie eine Jungmädelturnriege, denen man die Klamotten geklaut hat und die deswegen unter Dope stehen, die Musik für das Autoradio im Stau produzieren, Geld scheffeln wie blöde, Tätowierungen auf der Hinterbacke haben und sich gesellschaftlich relevant vorkommen, weil in ihren Refrains f…, b… und Sch… vorkommen und sie das als Aufbegehren der Jugend gegen die verkrusteten Institutionen undbla undbla undblablablabla. Es lebe das Kulturprogramm der BBC. Aber was machte dieser Schnösel hier?

»Man sollte vielleicht dem Trainer mal stecken, wo sich Mamis Liebling abends rumtreibt«, meinte Tony.

Von Pillbury kam nur ein Grunzen, das aber eindeutig besagte, dass er die Idee ebenfalls in Erwägung zog. Die Gruppe stieg die Treppe hoch und wurde eingelassen.

 

Ruhe senkte sich wieder über die Straße. Sie währte nicht lange, denn in kurzen Abständen fuhren nun Limousinen vor und entließen ihre Passagiere, oder Fußgänger tauchten auf, alleine, aber zumeist in kleineren Gruppen, und alle klingelten an derselben Tür.

Nach kurzer Zeit stand für Tony fest, dass dort eine Party stattfand. Eine Festivität der gehobenen Gesellschaft. Einige der Ankommenden konnte er in dem schummerigen Licht der Laterne erkennen – Gesichter, die zu dem Grundbestand dieser Sorte von Zeitschriften bestanden, die Francine mit Begeisterung und Ernsthaftigkeit las. Sie selbst nannte diese Gazetten Gesellschaftsillustrierte, während Tony von Frauenzeitschriften sprach, was eine eindeutige Boshaftigkeit beinhaltete.

»Was läuft da?«

»Spielclub, Alter, private Swingerparty, so richtig saftiger Gruppensex, Rudelbumsen mit Collegegirls, willige Schäferhunde, zarte Bählämmchen, hähä.«

»Pillbury, ich will nicht deine abartigen Phantasien hören, ich will deine Meinung!«

»A-yu-ya, Alter, nu stress hier mal nich’ rum. Du weißt auch nicht mehr als ich, also halt die Klappe und mach hier keine Welle, wenn ich auch nix weiß. Mann!«

»Ist ja gut. Vielleicht hat Wains sein Geschäftsfeld gewechselt. Oder ist der Typ, mit dem wir uns treffen wollten, mit einem derart schönen Hintern gesegnet, dass er für spezielle Verlustigungen geeignet wäre?«

»Oh, Mann – da müssten aber die Mega-Perversen zugange sein. Nee, kann ich mir eigentlich nicht denken. Es sei denn, die treiben wirklich ‘ne echte Sauerei, so Richtung die Schöne und das Biest, vor Publikum schätze ich dann …«

In diesem Moment fuhr ein Rolls-Royce vor und wartete mit laufendem Motor. Die Haustür wurde aufgerissen. Ein Mann lief die Treppe hinunter und bestieg den Wagen.

Tony erkannte ihn. Er wandte sich an Pillbury. »Gehen wir!«

»Häh?« Pillbury starrte Tony verständnislos an.

»Na los, auf zu den willigen Schäferhunden. Ein Versuch ist es wert!« Tony klingelte an der Tür und atmete tief durch.

»Sie wünschen, Sir?« Der Mann, der die Tür öffnete, war ein Butler der alten Schule. Unter seinem Frack war die undurchdringliche Lederhaut von Diskretion und Distinktion spürbar.

Tony fühlte sich gemustert – auf jene Art, die eigentlich einer Vivisektion ähnelt. Aber er hielt dem Blick stand.

»Sie wünschen, Sir?«

Tony verneigte sich leicht. »Wir kommen auf Empfehlung von Sir Fitzgerald Salville. Er wollte hier auf mich warten, um mich einzuführen.«

»Ich bedauere außerordentlich, Sir, aber Sir Salville wurde vor wenigen Minuten unerwartet in seine Kanzlei gerufen. Er wird heute nicht mehr zurückkommen, wie er mir sagte.«

Tony setzte eine enttäuschte Miene auf. »Oh, das ist jetzt aber eine böse Überraschung. Ich hatte auf Sir Salville vertraut und nur auf ihn.«

»Sie kennen sonst niemanden, der für Sie bürgen würde, Sir?«

»Nein, schließlich ist Diskretion wohl eine Voraussetzung für den Einlass, nicht wahr?«

Der Butler überlegte mit unbewegtem Gesicht. Dann trat er zurück und machte eine einladende Geste. »Ich bin zuversichtlich, Sir, dass mir der Einlass von Bekannten von Sir Fitzgerald Salville auch ohne dessen persönliche Anwesenheit erlaubt ist. Darf ich um Ihre Namen bitten, meine Herren?«

»Timothy Tannhouser«, log Tony Tanner und wunderte sich, dass der Butler einen derart blöden Namen ohne Wimpernzucken akzeptierte.

»Alexander Pillbury of the Northporthhorth«, sagte Pillbury mit gespitzten Lippen. Es klang derart arrogant, dass der Butler zu einer leichtem Verbeugung ansetzte.

Erstaunt stellte Tony fest, dass Pillbury bei Bedarf die arrogantesten sprachlichen Macken der bekannten Universitätszirkel imitieren konnte.

»Hier entlang, die Herren. Ich werde Sie bis zum Garten geleiten, von dort finden Sie den Weg leicht alleine.«

 

Durch einen lang gestreckten Flur, der zugleich exklusiv und seltsam gesichtslos eingerichtet war, gelangten sie durch einen Raum auf eine Terrasse. Der Butler deutete auf den gepflasterten Weg und zog sich mit leisem Rauschen zurück. Er hinterließ einen kaum wahrnehmbaren Geruch nach Sherry, den Tonys Nase aber dennoch witterte.

Es beruhigte ihn, dass sich hinter der perfekten Fassade doch ein kleines Laster eingerichtet hatte.

Pillbury kratzte sich am Kopf. »Endgeiler Schuppen, Alter.« Jetzt klang Pillbury wieder wie Pillbury.

Tony war beruhigt. Die Terrasse zog sich über die gesamte Rückfront des Hauses. Ein gepflegter Rasen schloss sich direkt an. Rechts war die Durchfahrt, und das Oldsmobil stand als riesiger kantiger Schatten auf einem Kiesweg, der vor einem Nebengebäude endete. Links war eine Mauer, und zwischen Mauer und Nebengebäude erhob sich etwas, was früher einmal ein Stall gewesen sein musste. Zur Zeit seiner Erbauung hatte dieses Haus wohl noch in einer recht ländlichen Gegend gestanden und den Bewohnern die Annehmlichkeiten der Stadt kombiniert mit einem eher ländlichen Lebensstil geboten, zu dem wie selbstverständlich auch die eigenen Reitpferde gehörten.

Der Stall war ein großes zweistöckiges Gebäude mit steil aufragendem Dach, das auf den ersten Blick, wegen seines gotisierenden Baustils, wie eine Kapelle wirkte. Durch die hohen Fenster fiel Licht. Es beleuchtete den Rasen und den Weg, auf dem sich Tony und Pillbury dem Eingang näherten.

»Klingt nicht nach Rudelbumsen«, stellte Pillbury fachmännisch fest.

Dem konnte Tony nur zustimmen. Es war nicht so, dass er an derartigen Veranstaltungen Interesse gehabt hätte, noch fühlte er einen auch nur geringen Bedarf an sodomistischen Aktivitäten. Aber die Geräusche, die ihm hier entgegen klangen, waren auch nicht besonders erfreulich …

Es war das tiefe Knurren, das jeder Zweibeiner seit den Zeiten der ersten Vorfahren mit einem sehr starken und sehr gefährlichen Tier verbindet.

»Tja, Alter, hier trennen sich unsere Wege.« Pillbury blieb vor dem Eingang stehen. »Irgendwie habe ich ganz plötzlich keine Lust mehr. Echt, die totale Motivationslücke. Echt peinlich, aber trotzdem – und Tschüss!« Er wollte abdrehen, aber Tony packte ihn am Arm, und so wurde aus der beabsichtigen halben Drehung eine ganze, die Pillbury näher an die Tür brachte.

»Wir ziehen die Sache durch, damit wir da beide ganz klar sehen!«, fauchte Tony.

Die beiden Männer starrten sich an wie Kampfhähne, aber Tonys Zeigefinger, der in starrer Erektion auf Pillburys Brust klopfte, gab den Ausschlag. Pillbury trat einen Schritt zurück und hob die Hände. »Ey, alles easy, Alter. Bleib locker, wenn du Lust auf Ärger hast. Gut, dann tapern wir halt rein und kriegen wir den Ärger.«

In diesem Moment trat eine junge Frau aus dem Eingang. Sie trug ein kurzes Kleid, lange Stiefel und eine durchsichtige Bluse. In der Hand hielt sie ein halb leeres Sektglas, aber ihre Bewegungen verrieten, dass sie vorher schon einige Gläser ganz geleert haben musste. »Hallo Jungs«, kicherte sie, »kommt rein, die Dogge ist gleich in Stimmung. Das wollen wir nicht verpassen.« Sie warf das Glas zur Seite und hakte sich bei Pillbury und Tony unter. »Wusste gar nicht, dass die nettesten Jungs draußen vor der Tür warten«, kickste sie. Sie hatte das zu Pillbury gesagt, der sofort zu seiner an sich bedenklichen Gesichtsfarbe noch eine Spur an Röte zulegte und nun vollends ein Rindersteak (roh) imitierte.

Für Tony bedeutete es ein hartes Stück Frustrationsbewältigung, dass er lediglich als Ballast mitgeschleift wurde, während sich die junge Dame, die bei Licht besehen eine überaus akzeptable Durchschnittsschönheit darstellte, sich völlig auf Pillbury konzentrierte.

Immerhin, sie war angetrunken, das mochte als Entschuldigung hinkommen. Und außerdem sind schöne Frauen sowie immer an den falschen Kerlen interessiert.

Nach dieser bitteren, aber erprobten Lebensweisheit, schaute sich Tony aufmerksam um.

Der ehemalige Stall war aller Decken und Wänden entkleidet worden und bestand nur noch aus einem einzigen großen Innenraum. Dort, wo früher im ersten Stock die Heuvorräte gelagert haben mochten, zog sich eine breite Empore rings um den Raum. Sie stützte sich auf schmucklose Stahlträger. Der Boden war mit Parkett belegt. Man hätte diesen Ort für einen idealen Partyraum oder einen Tanzsaal halten können – und vermutlich wurde er zu diesen Zwecken ebenso genutzt. Aber nun war in der Mitte eine kreisrunde, brusthohe Holzwand aufgebaut, die eine Arena umschloss. In dieser Arena stand ein Mann, der eine riesige Dogge am Stachelhalsband hielt und ein anderer Mann, in einer Rüstung aus dick gepolstertem Leder, trat nach dem Tier und reizte es bis zur Weißglut.

Die Dogge knurrte, Schaum stand ihr vor dem Maul. Immer wieder setzte sie zum Sprung an, um dem Mann an die Kehle zu gehen, aber dann hielt sie das schmerzende Halsband zurück und sie zog für einen Moment jaulend den Schwanz ein. Unterdessen wurden Gitterteile hereingeholt und zu einem Käfig zusammengebaut.

Tony zählte die Leute im Raum. Es mochten an die sechzig sein, mehr Männer als Frauen, mehr jüngere als ältere. Die meisten Anwesenden gehörten zu dem, was sie selbst wohl als bessere Kreise bezeichnet hätten. Es waren nicht unbedingt die Gesichter oder die Kleidung, die Tony davon überzeugten, sondern das selbstsichere Gehabe, das auf einer lebenslange Überzeugung beruhte, alle Privilegien, die man genoss, fraglos, ohne weitere Diskussion und per Geburtsrecht verdient zu haben. Tja, ma chere Lucille, dachte Tony, hier hat sich der lebendige Beweis versammelt, dass eure lächerliche Revolution für die Hose war. Fast zweihundert Jahre Geseire von Freiheit und Gleichheit und Brüderlichkeit – und dort steht das Balg eines Gewerkschaftsfunktionärs und frisst Kaviar und hält es für Marmelade mit Fischgeschmack.

Irgendwann würden die unermüdlichen Forscher das Gen finden, das zu solcher eleganter Arroganz und milder Überheblichkeit befähigte. Da war sich Tony sicher.

 

Während bisher eine fast unbekümmerte Partyatmosphäre geherrschte hatte, die die Aktivitäten in der Arena völlig ignorierte, breitete sich nun Spannung in dem Raum aus. Es war zuerst wie ein feines Knistern von Elektrizität, wie ein kaum merklicher Brandgeruch, bei dem man nie sicher ist, ob die Wahrnehmung nicht auf einer Täuschung beruht.

Die ersten Gäste schlenderten zu jenen Emporenplätzen, die ihnen den besten Überblick auf die Arena boten. Andere zogen es vor, unmittelbar an dem hölzernen Umfassungsring zu stehen. Gläser wurden auf Tabletts abgestellt, Geldscheine raschelten, erste Wetten wurden abgeschlossen.

Tony versuchte Pillbury unter den Gästen auszumachen, konnte ihn aber nicht entdecken.

Plötzlich überkam ihn die Furcht, als Fremder erkannt zu werden, als Eindringling, der sich mit List und Trug in diesen Kreis geschlichen hatte. Vielleicht gab es irgendetwas in seinem Verhalten, das ihn verriet und in der nächsten Sekunde würden sich alle Augenpaare ihm zuwenden und würde zur Salzsäule erstarren im Netz dieser Blicke. Noch spielten sie die Unwissenden, aber er war sicher, dass sie ihn schon längst erahnt und gewittert hatten und nur noch auf das Stichwort warteten …

Tony schüttelte diese Gedanken ab wie ein lästiges Insekt. Keiner beachtete ihn. Keiner kümmerte sich um ihn. Keiner bemerkte etwas. Der Fußballer, den er schon auf der Straße gesehen hatte, schlurfte an Tony vorbei. Er hatte auch in diesem Moment diese provokant lässige Art an sich, die seine Anhänger genial nannten und seine Gegner schnöselig und hochnäsig.

Bis zu diesem Zeitpunkt war Tony Tanner im Wesentlichen neutral gewesen, aber nun, als der Jungmann ihn beim Vorbeigehen anrempelte, wünschte er sich, einmal im Leben als Verteidiger einer Fußballmannschaft auflaufen zu dürfen. Und dann ein gekonntes Foul am Schnösel, ein raffinierter Tritt gegen die Knöchel und dann ein hebelartiges Beineinklemmen und schließlich das finale Krachen seiner hochversicherten Knochen – und Schnösel windet sich schreiend am Boden – und das Publikum tobt, und Verteidiger Tony Tanner, genannt der Reißwolf, macht eine wegwerfende Handbewegung und akzeptiert schulterzuckend die Gelbe Karte – es gibt einen Freistoß und die Sanitäter kommen mit der Bahre – und nach dem gewonnenen Spiel sagt Tony Tanner in die Kameras, dass Schnösel mal wieder eine Schwalbe gezeigt und sich dabei aus eigener Blödheit die Gräten gebrochen hätte und er, Tanner, habe ihn überhaupt nicht berührt und überhaupt, wenn Schnösel Angst vor blauen Flecken habe, dann solle er doch in den Mädchenchor Young Voices seiner Frau eintreten, denn Fußball sei schließlich nichts für Weicheier.

 

»Scheint loszugehen.« Pillbury nahm keine Rücksicht auf Tony Tanners frustrationsabbauende Imagination.

»Wo warst du?«, keifte Tony und stellte fest, dass er wie eine unleidliche Mutter von sechs Kindern in einem brüchigen Sozialbau klang.

»Ich musste doch die Süße irgendwie entsorgen«, entschuldigte sich Pillbury und malte mit den Händen zwei dicke Brüste in die Luft.

»Und? Hast Du ihr einen Staublappen in die Hand gedrückt und gesagt, sie soll auch unter den Schränken wischen?« Tony hatte einen eindeutigen Verdacht, auf welche Weise Pillbury sich der jungen Dame entledigt hatte, aber er wollte lieber nicht nachfragen. Außerdem hielt diese Methode nicht länger vor, denn dort hinten tauchte sie bereits wieder auf, mit einer pantherhaften Geschlechtsgenossin im Arm. »Besuch für dich, Pillbury«, konstatierte Tony grinsend.

Pillbury lächelte leicht säuerlich. In der Zwischenzeit war der Hund, der sich in einem Zustand geifernder Raserei befand, angeleint worden, und die beiden Männer hatten den Ring verlassen. Die Atmosphäre in dem Raum wurde hektisch und erinnerte Tony sehr an ein Börsenparkett, kurz nach dem Abrutschen der Kurse um fünfzehn oder mehr Punkte. Wetten wurden angeboten und angenommen, man schrie durcheinander, winkte sich zu und gab sich mit den Händen Zeichen.

Dann, auf ein Klopfzeichen, brach der Lärm ab, als hätte man bei einem Radiogerät den Ton ausgedreht. Aus einer hinteren Ecke des Raumes wurde ein Mann hereingeführt. Er trug schwere, schwarze Lederhosen, sein Oberkörper war nackt, seine Augen mit einem schwarzen Tuch verbunden. Für einen Moment glaubte Tony an eine sadomasochistische Aufführung, dann schien ihm ein sadistisches Ritual die wahrscheinlichste Erklärung – und endlich erkannte er, um was es hier wirklich ging. Der Mann wurde vor einen Tisch geführt, der mit einem Tuch bedeckt war. Er zögerte kurz, bewegte sich auf gut Glück einige Schritte hin und her und berührte dann das Tuch. Das Tuch – es handelte sich um schweren, sicherlich enorm teuren Stoff, wie Tony kurz registrierte – wurde weggezogen. Darunter verbarg sich eine Auswahl von Waffen, von einem Florett über eine Stachelkeule bis zu einem Kurzspeer.

Ein Raunen ging durch die Gesellschaft, als die Waffe, die ausgewählt worden war, hochgehalten wurde.

»Oh Scheiße«, raunte Pillbury mit großer Verachtung im Unterton. »Damit kommt er so einem Köter aber nur mit ‘ner ganzen Menge Glück bei, ist es nicht so?«

Tony schaute Pillbury von der Seite an.

Der war etwas außer Atem und hatte eine merklich gerötete Hautfarbe. In seinem Haar klebte ein abgerissenes Blatt.

»Wo ist denn deine neue Freundin«, zischte Tony boshaft.

»In die Küche geschickt. Also, mit dem Speer hätte er ‘ne echte Chance gehabt. Aber so, mit diesem Teil …« Die Waffe, die sich der Mann zufällig ausgesucht hatte, war ein kurzer schwarzer Dolch mit geriffeltem Griff.

»Fairbairn-Sykes-Dolch«, knurrte Pillbury leise. »Als ich jung war, war das ’n Statussymbol in meiner Straße. Aber damit gegen ’n wütenden Köter … kannst du genauso mit dem Besenstiel ‘ne Attacke gegen ’n Schnellzug reiten, ist es nicht so? Mann, Alter, das wird hier die Fetze und nich’ mehr. Das Ding ist im Krieg dafür gebaut worden, um Krauts von hinten die Kehle aufzuschlitzen …«

»Es ist schließlich eine deutsche Dogge … ist doch so, oder?«

 

Noch einmal wurden Wetten ausgehandelt. Pillbury wurde merklich hektisch und schaute sich um, ob sich für ihn nicht auch die Möglichkeit einer Wette ergeben könnte. Gerade war er mit einem älteren Herrn ins Gespräch gekommen, als seine neue Begleiterin wieder auftauchte und sich an seine Seite schob. Das Lächeln, mit dem Pillbury sie begrüßte, wirkte schon etwas ermattet. »He, Kumpel, kannst du dich nicht mal für ein paar Minuten mit dieser Dame … ähh unterhalten«, wandte er sich Hilfe suchend an Tony.

»Keine Chance, ich passe nicht mehr in die Altersklasse.«

»Alter, du bist ein Scheiß-Kumpel, mich hier hängen zu lassen, ich muss gerade noch ‘ne Wette abschließen …«

»Pech im Spiel, Glück in der Liebe«, stellte Tony sarkastisch fest und drehte Pillbury den Rücken zu.

Ein weiteres Klopfen zeigte an, dass die Zeit für die Wetten abgelaufen war. Der Mann wurde in die Arena gelassen, der Eingang verschlossen, der Hund von außen losgeleint.

Tony schaute sich um. Der Kampf war ein Trichter, in den jede Aufmerksamkeit hineinstrudelte, und alle Gesichter lagen offen und unbedeckt, sodass Tony fast das Gefühl überkam, etwas Verbotenes und Unanständiges zu tun, als er sich ihnen zuwendete. Dasselbe Gefühl, das ihn früher einmal überkommen hatte, als er in einer Bar nicht auf die Entkleidungskünste der Mädchen auf der Bühne geachtet hatte, sondern auf die Gesichter der Zuschauer.

Es schien so, als wäre er selbst unsichtbar oder würde, hinter einer durchscheinenden Folie gefangen, in eine andere Dimension gehören. Da waren die Herren mit den grauen Schläfen, Monumente der Seriosität und der Verlässlichkeit, Stützen der Gesellschaft, geborene Führungspersönlichkeiten, liberal und doch prinzipienfest – und in ihrem Schlepptau die sonnenbankgedünsteten Schönheiten mit den aufgespritzten Entenschnabellippen und der Ich bin begehrenswert-Geste, sich die samtweich-gespülten Haare zurückzustreichen; da war die junge Elite der Wirtschaft, die schnittigen Aktienhändler mit dem Gespür für die Vibrationen der weltweiten Börsengeschäfte, die Avantgarde der Globalisierung und die jungen Frauen, die Töchter der Emanzipation, der Frühstücksfernseh-Moderatorinnen-Typ mit dem immer bereiten Lächeln und der Freundlichkeit einer Harpunenspitze und der Feinfühligkeit einer Büffelherde. Menschen mit Macht, mit Geld und Ansehen.

Und sie standen und johlten und kreischten und klatschten, und Tony hörte das Belfern der Dogge und ihr Aufheulen und das Kratzen ihrer Krallen auf dem Parkettboden und dann den Schrei des Mannes und die Zurufe der Zuschauer, die sich steigerten und ohrenbetäubend wurden.

 

Tony musste raus. Er rannte vor die Tür und kühlte seine schweißnasse Stirn in der Nachtluft. Hier draußen war von dem Aufruhr nichts zu bemerken. Seltsam, dachte er, man könnte an der Hölle vorbeigehen und würde nichts davon merken.

Aus dem Dunkel raschelte Pillbury heran. Er lief etwas vorgebeugt und wirkte ermattet. »Was läuft?«, fragte er hektisch und rückte sich die Jacke zurecht.

»Aktion Hundefutter, schätze ich.«

Als Pillbury eilig in den Saal zurückgeschlüpft war, hätte Tony seinen Sarkasmus gerne rückgängig gemacht. Er wartete noch eine Weile, bis auch er wieder eintrat. Die Vorstellung war vorbei, die Gäste standen wieder in Gruppen beisammen und unterhielten sich. Die Wettgewinne wurden ausgezahlt. Der Kampfring war leer.

Tony näherte sich. Ein großer Blutfleck war auf dem Boden. Er glänzte matt in dem Licht, das den Raum erhellte. Tony gegenüber stand eine Frau und starrte auf diesen Blutfleck, als wollte sie ihn mit ihren Blicken aufsaugen. Dann schaute sie auf und bemerkte Tony, der den Wunsch hatte, hinter einem Pfeiler zu stehen oder besser noch tausend Meilen weit entfernt zu sein. Der Blick dieser Frau schälte ihm die Haut von den Knochen, er fühlte sich offen, nackt und wehrlos.

 

Während er noch dem Nachklang dieser Empfindung lauschte und versuchte, sich darüber klar zu werden und sich fragte, was Dorkas wohl an psychologischen oder esoterischen Theorien parat gehabt hätte, hörte er das leise Rauschen des Seidenkleides, als sie auf ihn zukam.

Sie war schwarz gekleidet, sie hatte kurzes schwarzes Haar, große schwarze Augen, und ihre Lippen waren in dem Dunkelrot geronnen Blutes geschminkt. Ihre weiße Haut wirkte wie der letzte Rest einer Hülle, aus der sie sich noch nicht vollständig befreit hatte, und darunter musste sie schwarz sein wie poliertes Ebenholz.

Sie war anders als die übrigen Gäste, ebenso anders wie Tony Tanner, aber auf ihre eigene andere, erschreckende Art. Sie war mit der großen gebogenen Nase und dem schmalen Mund weder schön noch hübsch, aber interessant und, wie sich Tony widerwillig eingestand, äußerst anziehend. Er wünschte sich, sie würde an ihm vorbeigehen.

Sie hatte eine eigenartige Art zu gehen, die nichts Weibliches an sich hatte, nichts von schwingenden Hüften, sondern die zugleich sanft, behutsam und unglaublich energisch war und Tony sofort an ein Raubtier auf der Pirsch denken ließ, das lautlos durch das dichteste Gezweig steigt.

»Sie haben sich den Kampf nicht angeschaut!«, sagte sie. Es war weniger als eine Frage als eine Feststellung.

»Stimmt. Mir war nicht danach. Dafür sind meine Büroburschen-Nerven nicht gemacht.«

Die Frau zeigte ein leichtes Lächeln. »Sie haben sich die Zuschauer angeschaut. Dazu braucht man wesentlich mehr Nerven. Denn der Kampf ist das Ergebnis einer Rechnung, die auf den Gesichtern der Menschen erkennbar ist. »Sie war etwas kleiner als Tony, stand jetzt ganz nahe vor ihm und schaute ihn mit ihren schwarzen Augen an, mit einem Blick, der alles in sich aufsog und bestimmte.

Tony versuchte sich wieder einmal an diese Augen zu erinnern. Serebriakoff fiel ihm ein, aber da war noch ein anderer, und das war jetzt unwichtig, und wieso kümmerte er sich um diesen Kinderkram und konzentrierte sich nicht darauf, mit konzentriertem Charme seine Duftmarken in der Aufmerksamkeit dieser Frau zu setzen? Sie roch nach einem schweren abendlichen Parfum, das Bilder von dunklen Boudoirs und Opium rauchender Wollust hervorrief, und unter dessen Moschusnote Tony den Duft ihrer Haut zu spüren glaubte. Über ihren Lippen war ein ganz leichter dunkler Flaum. Zwischen den Perlmuttknöpfen ihres Kleides schimmerte die glänzende Seide ihres Dessous.

Tony spiegelte sich in ihren Augen. Und …

 

»Eyh, Alter, bist du weggetreten oder was?« Pillbury schlug Tony klatschend auf die Schulter. Wie lange hatte er versucht, Tonys Aufmerksamkeit zu erregen? War Tony aus der Zeit herausgefallen? Nein, ein Typ wie Pillbury hatte mit dezentem Räuspern im Hintergrund und höflichen Warteschleifen nichts am Hut.

Die Frau lächelte und legte Tony mit überraschender Vertrautheit eine Hand auf die Schulter. Ihre Hand waren lang und schmal, wunderbare Frauenfinger mit dunkel gemalten langen Nägeln und einem Ring, auf dessen schwarzem Stein Tony eine Sonne erkannte, mit zwölf Strahlen, aber vielleicht waren es ja auch dreizehn.

»Wir sehen uns«, sagte sie mit einer Stimme aus dunklem Nebel. Sie nahm ihre Hand von seiner Schulter, streifte dabei sanft seinen Hals und ging. Sie war schon einige Schritte weit von ihm weg, als sie sich noch einmal zu ihm umdrehte. »Ich soll übrigens Grüße von meiner Freundin Sarah ausrichten.«

Bevor sich Tony Gedanken über ihre Freundin Sarah machen konnte, und während er mit pochendem Herzen der Empfindung ihrer weichen Finger an seinem Hals nachlauschte, stürzte sich Pillbury förmlich auf ihn. »Was ist das denn fürn Gerät, Alter? Steigst du jetzt voll in die Gruftiszene ein oder wie?«

»Wie kommst du mir denn vor«, fauchte Tony Tanner zurück. »Kümmerst dich um hormonüberschüssige Halbwüchsige und redest von Dingen, die du nicht verstehst? Was willst du überhaupt? Eierbär!«

»Was will ich überhaupt, fragt er. Klasse! Humor hat er, das muss man ihm lassen. War es meine Idee hier hereinzuplatzen? Was jetzt Eierbär?«

Tony holte tief Luft. Die Frau war verschwunden und er erinnerte sich, dass er sich mit einer bestimmten Absicht in diese Veranstaltung gemogelt hatte.

»Also, rrring rrring – alles auf Anfang. Warum musstest du mich sprechen, Pillbury?«

»Weil ich«, Pillbury sprach langsam, als müsse er einem Betrunkenen den Heimweg erklären, »eben den Typen gepeilt habe, mit dem wir uns treffen wollten!«

»Was?« Tony schaute sich wie elektrisiert um.

»Nicht hier und mach hier keinen Aufstand, Alter. Es gibt hier ’n Nebengebäude. Als ich ähh, Dings, da habe ich durch das Fenster gesehen. Wains und eins seiner Arschgesichter ist bei ihm.«

»Wie kommen wir an ihn ran?«

»Vergiss es, Alter. Kapierst du, um was es hier geht? Die schicken ihn in die Arena. Gegen Köter oder vielleicht gegen einen Kerl. Und hinterher is’ er nicht mehr brauchbar, da kannste einen fahren lassen drauf. Mit Sternchen.«

Die letzte Bekräftigung bekam Tony Tanner schon nicht mehr mit, denn er hüpfte wie von der Tarantel gestochen los und nahm Kurs auf einen dieser ungemein seriösen Herrn, die den Saal bevölkerten.

 

Pillbury war zwischen Neugier und dem Zwang, cool zu wirken hin und her gerissen und machte sich dann lässig schlenkernd auf die Verfolgung. Er verpasste den Beginn des Gespräches, konnte aber unschwer erkennen, dass der angesprochene Gentleman äußerst amüsiert zu sein schien. Er schüttelte den Kopf und machte eine abwehrende Geste.

»Schlagen Sie sich diese Idee aus dem Kopf, mein Herr«, vernahm Pillbury. »Sie können die Summe noch weiter erhöhen, meinethalben um ein Dutzend Nullen, aber das wird an den Gegebenheiten nichts ändern.« Väterlich legte der Mann seinen Arm auf Tony Tanners Schulter und deutete in die Runde. »Diese Leute hier haben sicherlich eine Menge Probleme. Aber Geld ist keines dieser Probleme. Es sei denn, junger Mann, Sie müssten versuchen, wenigstens einen Teil der monatlichen Zinsen zu verjubeln und würden feststellen, dass weder Ihre Gesundheit noch Ihre Phantasie dieser Aufgabe gewachsen sind. Nein, diese Leute sind früher auf den Everest geklettert, bevor dieses Fleckchen Erde von Japanern und abtrünnigen Kolonialisten überlaufen wurde, diese Leute haben in Afrika die Big Five gejagt, zum Teil mit Pfeil und Bogen, weil das Jagdgewehr zu wenig Kitzel bietet, sie sind monatelang vor pazifischen Küsten gekreuzt, nur um einen Schwertfisch an die Angel zu kriegen. Und wenn es nicht das war, dann schlucken sie Drogen bis zum Exzess, fahren illegale Autorennen und lassen sich auf einem Hochaltar entjungfern, um ein wenig Adrenalin in die trockenen Adern zu bekommen. Das hier ist keine Wohltätigkeitsveranstaltung! Wer hier ist, hat alles andere schon ausprobiert und abgelegt. Und Sie kommen mit Geld? Welch ein prächtiges Missverständnis.«

»Schön«, sagte Tony, »wenn das so ist, biete ich eine Wette an.«

»Wette, hm. Klingt besser als Geld. Lassen Sie mal hören.«

»Ich steige anstelle des, wie sie sagen, Objektes in den Ring.«

Der seriöse Herr ließ seinen Arm von Tonys Schulter gleiten, trat einen Schritt zurück und musterte ihn. »Ich darf annehmen, Sie setzen sich als Einsatz gegen das Objekt?«

»Exakt. Gewinne ich, bekomme ich ihn. Verliere ich, hat das Publikum einen zusätzlichen Kampf gesehen und hat ansonsten keinen Verlust.«

»Ich werde mich mit den anderen Herren besprechen.«

Als der Mann gegangen war, schob sich Pillbury an Tony heran. »Ey Alter, bist du jetzt auf dem Selbstmord-Trip oder was?«

»Hast du eine bessere Idee, Pillbury? Ich bin für alle Vorschläge offen.«

»Tja, im Film kommt jetzt die Kavallerie: Ich hör’ aber nichts. Scheint am Drehbuch zu liegen. Also, ich hab’ null Idee, aber ich sag’ dir, dass du nach dem Kampf in ‘ne Plastiktüte vom Saveways passen wirst, Alter.«

»Es gibt sehr große Plastiktüten!«

»Ich meine aber die ganz kleinen, die wo welche du in der Apotheke kriegst, wenn …«

»Pass auf, Pillbury, wenn du noch weiter die Kassandra abmeierst, dann steht für mich die Gewaltfrage im Raum.«

»Klingt echt geil. Und was soll das heißen?«

»Dass ich dir deine Schneidezähne in Kontakt mit der hinteren Hirnschale bringe – und zwar innen.«

Ihm war nicht unbedingt zum Lachen zumute, aber Tony konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen, als er Pillbury beobachtete, der versuchte, diese anatomische Information adäquat zu verarbeiten. Er drehte die Augen nach oben und fuhr sich mit den Fingern an die Schneidezähne und dann nach hinten. Schließlich ging ihm ein Licht auf.

»Du willst mir eins in die Fresse hauen, Alter?«

»Inhaltlich ist deine Aussage korrekt, an der Form musst du noch arbeiten.«

»Mmh, sag’ mal, du bist doch nich’ etwa so einer dieser Profiprügler, die sich samstags verabreden und nach den Spielen Rabatz machen?«

»Ich werde mich doch nicht mit diesen akademischen Weicheiern messen wollen – sechs Tage miese Geschäfte mit Aktien und einmal pro Woche die Sau raus lassen und die Fäuste schwingen. Kinderkram!«

»Ey Alter, irgendwie machst du mich neugierig. Was ist denn so dein Hobby?«

»Kasernen!«

»Häää?«

»Kasernen«, erklärte Tony ernsthaft. »Du stellst dich vor eine Kaserne, wo die richtig harten Jungs drin sind, Marine-Kommandos oder SAS oder so.«

»Schön und dann zeigst du deine Strapse oder was?«

»Ich warte, bis mindestens vier, aber nicht mehr als acht rauskommen. Und dann sage ich beispielsweise Hach neiiiiin, ihr Süüüßen, seit wann gibt’s denn in der Army Schwuchtelregimenter? Dann ergibt sich der Rest von alleine.«

»Und das findste geil?«

»Das ist die Art von Herausforderung, die ein Mann manchmal braucht.«

»Hab’ noch nie gehört, dass der SAS auf die Art Ausfälle gehabt hat.«

»Ja, Pillbury, wenn du so ein Elitekiller wärst und dich mit einem Schädeltrauma im Lazarett wiederfindest, würdest du sagen He Doc, ich hab’ vor der Kaserne einem Zivi eins auf die Nuss geben wollen, mit ein paar Kumpels und dann kann ich mich an nichts mehr erinnern. Das wäre dir wohl ebenso peinlich wie deinen Kumpels in den Betten nebenan.«

Pillbury begann nervös die Finger zu kneten. »Hör mal, Alter, nehmen wir mal an, diese Säcke gehen auf den Deal ein. Du meinst also, ich könnte was auf dich setzen? So zum Spaß? Ich meine, du weißt nicht, was die dir als Gegner andrehen.«

»Wenn es kein Eisbär oder ein sexgieriges Walrossmännchen ist, haue ich ihn weg. Also, um deine Frage umfassend zu beantworten: Wer seine Vermögensverhältnisse umfassend verbessern will, sollte auf mich setzen!«

»Ich verlass mich auf dich, Alter«, frohlockte Pillbury und zog ab.

Tony Tanner blieb stehen und war sich darüber im Klaren, dass er gerade den Verstand verloren haben musste. Es gab nur eine Möglichkeit, das Gegenteil zu beweisen – sofortiger Rückzug, Taxistand, Heimweg, heiße Milch mit Honig und Bett sowie drei Tage Urlaub.

Tony wartete, dass was passierte, aber nichts geschah. Er blieb stehen, seine Beine versagten den Dienst und ihr Besitzer floh nicht. Also musste er durchgeknallt sein. Aber die Selbstdiagnose Ich bin durchgeknallt widersprach ihrem eigenen Inhalt. Es musste etwas anderes sein – Neugier, ein verqueres Pflichtgefühl als Prätorianer in Dorkas’ Garde – oder das Bedürfnis, eine Sache durchzuziehen, die einmal begonnen hatte.

 

Der seriöse Gentleman kam zurück, mit einigen anderen Herren desselben Kalibers im Kielwasser. Es wirkte die Professorenversammlung einer Eliteuniversität. »Wir sind einverstanden. Sie machen einen Faustkampf gegen einen Gegner, der noch zu ermitteln sein wird. Ist das in Ihrem Sinne?«

Tony nickte. Er hätte sich schlecht fühlen müssen – wenigstens nach allem, was er von sich dachte und wusste. Aber tatsächlich empfand er lediglich eine gesunde nervöse Anspannung, die zu der Situation passte und ihm das beruhigende Gefühl vermittelte, dass er vorbereitet war.

Die Nachricht von dem geänderten Kampfprogramm verbreitete sich schlagartig.

Tony achtete nicht darauf, aber schließlich bemerkte er, dass er selbst im Mittelpunkt des Interesses stand, von allen dezent beobachtet und eingeschätzt wie ein noch unbekanntes Rennpferd, aber dennoch allein, denn seine Position als einer, der in die Arena stieg, hob ihn aus der Gemeinschaft dieser Menschen heraus.

Er versuchte ruhig und gelassen zu bleiben und sich auf das vorzubereiten, was ihn erwartete.

Aber was erwartete ihn? Schmerz? Demütigung? Vielleicht der Tod? Ein zynisches Grinsen formte sich auf Tony Tanners Gesicht. Er bemerkte es zuerst in der Reaktion der anderen Anwesenden wie in einem Spiegel, bevor er sich dessen selbst bewusst wurde. Was sollten diese Gedanken über den Tod? Noch lebte er, und sollte es anders sein, dann brauchte er sich darüber keine Gedanken mehr zu machen. Und die Schmerzen? In den letzten Monaten hatte er derart oft Prügel bezogen, dass er eine zweibändige Abhandlung über dieses Thema verfassen konnte. Vom ersten aufgeschlagenen Knie und dem ersten Zahnarztbesuch bis zu dem Moment, in dem ihm Francine das Ende ihrer Beziehung verkündete, hatte er Schmerzen erlebt. Und er hatte sie überlebt, sie zurückgelassen wie eine alte hässliche verschrumpelte Haut, unter der der Körper gewachsen war.

Und wenn er sich eine schreiende Blamage einhandelte, dann brauchte er sich nur an seine Schulzeit zu erinnern, in der Demütigungen zu den Gräben gehörten, die er täglich zu überspringen hatte. Tatsächlich, Tony stellte es mit amüsierter Distanz fest, er war bereit. Er wartete, bis er den Gentleman, dessen Namen er bisher nicht gehört hatte, in der Nähe sah und trat auf ihn zu. »Gibt es Probleme oder warum steht mein Gegner noch nicht fest?«

»Es gibt in der Tat Probleme. Ihr Begleiter, so wurde mir zugetragen, äußerte tief gehenden Zweifel an Ihren Fähigkeiten auf dem Gebiet, auf das Sie sich nun vorzuwagen belieben. Er behauptet sogar, dass Sie, Verzeihung für den Ausdruck, aber so wurde es mir zugetragen, nicht mal beim Damenboxen, Federgewichtsklasse, eine Chance hätten, die erste Runde zu überleben.«

»Sie werden sich doch nicht durch Gerüchte beeinflussen lassen? Abgerechnet wird zum Schluss.«

»Ich werde unter diesem Aspekt nach einem Gegner suchen.«

»Sie haben doch angeblich genügend abenteuerlustige fixe Jungs hier, die zu blasiert sind, um sich mit Touristen um den besten Platz auf dem Gipfel eines Achttausenders zu balgen. Sagen Sie ihnen einfach, hier wäre ein Sechzehntausender. Und der wartet auf seine Erstbesteigung. Das sollte sie reizen.« Mit einer knappen Verbeugung verabschiedete sich Tony und machte sich auf die Suche nach Pillbury.

 

»In den letzten Minuten haben mir mehrere alte Damen ihren Sitzplatz angeboten. Was erzählst du eigentlich über mich, Pillbury?«

»Reg dich ab, Alter. Alles psychologisch …«

»Es heißt psychologisch.«

»Ich weiß nich’, was du meinst, Alter, aber man muss die Leute ein wenig weich klopfen. He, wenn ich allen erzähle, was für ein Killer du bist, dann kriege ich keine anständige Quote.

Sag’ mal, hast du keinen Geschäftssinn, Kumpel oder wie? Außerdem, wenn sie dir eine Gurke präsentieren, dann hast du noch weniger Arbeit, weil der kann ja eh nix und den hauste gleich weg. Übrigens, da drüben ist unser Kumpel vom Parkplatz.«

In der Nähe einer Tür erkannte Tony drei Gestalten und bei näherem Hinsehen glaubte er wahrhaftig in ihnen die schemenhaften Gestalten wiederzuerkennen, die er auf dem Parkplatz beobachtet hatte.

Er schlenderte wie zufällig näher und musste sich dann kneifen, um sich zu vergewissern, dass er nicht träumte. Die beiden Männer links und rechts sahen aus, als wären sie Titelmodelle für eine Illustrierte, die Der Vorstadt-Ganove heißen müsste. Piekfeine Klamotten, aber zu viele Goldkettchen und Klunkerringe und die Farbzusammenstellungen passend zum Thema Wir spielen Verkehrsampel. Durchschnittsgesichter, zumindest auf den ersten Blick und auf den zweiten vielleicht ein allzu unruhiger Blick und eine Beimengung von Skrupellosigkeit und Gier, die gesellschaftliche Karriere versprochen hätte, wenn Intelligenz dazugekommen wäre. Aber die fehlte, sonst wären sie nicht als Helfer ihres Herrn und Meisters hier.

Aber was war mit dem Mann in der Mitte, demjenigen, den Pillbury treffen wollte und den Wains hierhin geschleppt hatte? Tony hätte ihn für einen Asozialen der unteren Kategorie halten können, eines dieser heruntergekommenen Geschöpfe, an denen die Mehrheit schnell vorbeigeht und die auch für das mitleidigste Herz einer Sozialromantikerin eine schwere Prüfung darstellen. Aber wieder einmal überfiel ihn das Gefühl, das hier etwas nicht stimmte.

Der Mann trug zerfetzte Reste von Hemd und Hose, die vor Schmutz steif waren und deren Gestank durch das aufdringliche Rasierwasser seiner Bewacher hervorstach. Er war mittelgroß, breitschultrig mit kräftigen Armen, krummen Beinchen und einem aufgeblasenen Bauch. Unter einer Schmutzschicht konnte man eine ungewöhnlich helle Haut erkennen, die Tony zu der Vermutung führten, dass dieser Mann ein Albino war. Dazu passten auch die rot umränderten Augen, die ängstlich in die Umgebung starrten. Es waren diese Augen, die Tony misstrauisch machten. So schaute keiner, der sich den Verstand durch jahrzehntelangen Fuselkonsums weggesoffen hatte. Und erst recht keiner, der sich seit Jahrzehnten mit der Mitleidsmasche durch das Leben schnorrte!

Der Mann schien vor Angst fast starr. Manchmal machte er einige ungeschickte Bewegungen. (Tony dachte boshafterweise sofort an die Videos mit Rapgruppen und ihrer wirren Gestik, die er sich in letzter Zeit verstärkt reingezogen hatte.) Dann rammten ihm seine Bewacher den Ellbogen in die Seite oder rissen seine Arm herunter, wobei man ihnen den Ekel deutlich ansah. Eine Zuschauergruppe kam vorbei. Eine Frau, die leicht angetrunken schien, rümpfte theatralisch die Nase und kippte, nach einem neckisch-verschwörerischen Blick auf ihre jüngeren Begleiter und längerem Wühlen in ihrer Krokodilledertasche, den Inhalt eines Parfumflakons über den Mann in der Mitte. Der schüttelte sich und saß dann wieder still und verschüchtert. Dieser Mann mit dem großen, hässlichen Kopf und der schorfigen Glatze, auf der lediglich einige drahtige Haare von Schmutz festgeklebt waren, erinnerte Tony instinktiv an einen Fisch, der an Land geworfen wurde und nach Luft schnappt.

Der Mann gehörte nicht in diese Stadt und Tony hatte keine Vorstellung, wie die Welt, in welche dieser Mann gehörte, aussehen würde und wo sie zu finden war.

 

Pillbury trat neben ihn.

»Was ist das für ein Monster, Pillbury? Wolltest du mich mit dem Gestank umbringen? Rück raus, was ist das für ein Typ?«

Pillbury bekam einen sturen Gesichtsausdruck. »Gewinn erst mal deinen Kampf, Alter. Dann verrate ich es dir. Vorher nutzt es dir sowieso nichts, und wenn du verlierst, dann können wir ihn sowieso vergessen. Übrigens – irgendwoher haben die Wind gekriegt, dass du ein Killer bist. Jedenfalls sieht der Typ, den du wegputzen musst, ziemlich fit aus.«

Pillbury hatte leicht untertrieben, stellte Tony bald darauf fest, als er seinem Gegner Auge in Auge gegenüberstand. Der Typ sah aus, als wäre er dem Plakat eines Fitnessstudios entsprungen. Außerdem war er anderthalb Köpfe größer als Tony.

Aber Tony war wenig beeindruckt. Er hatte seine Entschlossenheit wie eine Schienenstrecke in die Zukunft verlegt und nun rollte er glatt und erschütterungslos darauf hin.

Er richtete einen ruhigen Blick in das Gesicht des Gegners, der antwortet mit einem Blick aus wasserblauen Augen, und einige Sekunden lang starrten sich die beiden Männer gegenseitig an. Dann senkte der andere den Blick und ging lässig zur Seite, wo einige junge Frauen auf ihn warteten. Nur zwei Unbeteiligte hatten Tony Tanners ersten Punktgewinn registriert – der eine war Pillbury, der ein zufriedenes Lächeln zeigte, und der andere war der seriöse Gentleman.

Dieser wandte sich an Tony. »Der Fairness halber muss ich Sie darauf hinweisen, dass Ihr Gegner mehrere Jahre hintereinander Boxchampion seiner Universität war.«

»Schön, hat er außer den platten Nasen seiner Kommilitonen noch weitere akademische Meriten erworben?«

»Das wiederum entzieht sich meiner Kenntnis. Die Kampfregeln lauten wie folgt – Kampf mit unbekleidetem Oberleib, keine Waffen, nur die Arme werden eingesetzt, der Kampf ist erst beendet, wenn der Kampfmeister das Zeichen gibt. Kein Beißen, kein Ausdrücken der Augen, kein Kneifen, kein Kratzen – Regelverstöße werden vom Kampfmeister durch Stockschläge geahndet. Haben Sie die Regeln verstanden?«

»Im Rahmen meiner beschränkten Möglichkeiten, ja!«

»Akzeptieren Sie die Regeln?«

»Ich akzeptiere sie.«

»Dann geben Sie mir Bescheid, wenn Sie bereit sind.«

In dem Moment, in dem Tony Tanner sich seiner Jacke und seines Hemdes entledigte, verfluchte er die vielen Tafeln Schokolade und den ganzen anderen süßen Kram, der ihm in der letzten Zeit über lange einsame Abende hinweggeholfen hatte. Nicht, dass er sich völlig außer Form gefühlt hätte – aber ihn selbst erinnerten seine Hüften an einen zu heftig wachsenden Hefeteig, der über den Rand eines Topfes quoll.

Als er versuchsweise einige tänzelnde Schritte machte, geriet dieses subkutane Fett nebst leicht gewellter Haut in eine lächerliche, schwingende Bewegung, und Tony brach seine Aufwärmübungen mit rotem Kopf ab.

Sein Gegner schien in Bestform. Als er theatralisch und etwas übertrieben langsam das schwarze Seidenhemd aufknöpfte und auszog – die Szene hatte etwas von einer Strip-Show für die begüterte Hausfrauenschaft – ging ein Raunen durch die Zuschauer, und Tony registrierte durchaus, dass sich dieses Geräusch vorzugsweise aus weiblichen Stimmen zusammensetzte.

Sonnenbankbräune, eine Figur wie eine italienische Renaissancestatue, dazu eine Bauchmuskulatur, als trüge der Mann einen Sechserpack Bierdosen unter der Haut.

Um Pillburys Quote brauche ich mir keine Sorgen zu machen, dachte Tony. Er hatte durchaus recht, obwohl es einige Herren mit scharfem Kennerblick gab, die die deutlichen Narben auf Tonys Oberkörper bemerkten und ihre Schlüsse daraus zogen.

Tony stellte sich in den Ring und beobachtete seinen Gegner. Er sah auf ein schmales, lang gezogenes Gesicht, wasserblaue Augen und dunkelblondes, strähniges Haar. Ein Frauentyp, nicht hübsch, aber auf eine oberflächliche Weise markant. Reklamegeeignet, Werbeplakat-kompatibel. Ein Gesicht, das man am Bug eines Forschungsschiffes vermuten könnte, den Blick finster entschlossen in unentdeckte Weiten gerichtet oder in einem Bunker an vorderster Front (Ich zwinge keinen von euch mitzukommen, Männer, aber ich werde jetzt da hinausgehen und ich werde diesen Schweinebacken Feuer unter dem Hintern machen – und wenn es sein muss auch alleine!).

Der Mann hatte nur eine Schwäche, da war sich Tony sicher, und diese war seine Eitelkeit. Er würde glänzen wollen. Er würde immer an den Eindruck denken, den er auf die Zuschauer, vor allem die weiblichen, machte. Er würde tänzeln, fintieren und tricksen und zeigen, wie gut er war, und versuchen, Tony lächerlich aussehen zu lassen.

»Geiles Tattoo hast du auf ‘m Rücken!« Pillbury beugte sich über den Holzrand der Ringabsperrung zu Tony herunter. »Sieht fast aus wie ‘ne Kralle. Wo hast du das her?«

»Nicht aus London.«

»Dachte ich mir. Ich kenne die meisten Hautmaler. Und hier würde keiner einem so ’n Ding machen. Sieht aus, als wäre es mit dem Messer geschnitzt. Das ist doch nicht etwa ein Gang-Abzeichen? Na gut, brauchst nichts zu sagen, ich weiß ja, darüber redet man nicht. Tja. also. Halt dich wacker, Kumpel. Wenn du verlierst, bin ich bis zur nächsten Steinzeit pleite.«

»Du ziehst diese Möglichkeit doch nicht etwa ernsthaft in Betracht, Pillbury?«

»Nee, aber wenn ich auf die Quote schaue, dann gibt dir hier kein Schwein mehr als ‘ne halbe Minute. Also, halt dich wacker. Kannst du mir nicht antun!« Mit einem aufmunternden Klatsch auf die Schulter verabschiedete sich Pillbury und machte sich auf die Suche nach weiteren Wettpartnern.

 

Während sein Gegner auf der anderen Seite des Ringes hin und her stolzierte, humorige Bemerkungen mit seinen Fans unter den Zuschauern austauschte und dabei die strammen Muskeln mit bombastischen Bewegungen erwärmte, lehnte Tony ruhig atmend an der Holzwand. Der andere war nicht nur eitel, er war ein waschechter Angeber. Spätestens seit er den protzigen Siegelring bemerkt hatte, war sich Tony seiner Einschätzung sicher. Es galt, die ersten Minuten zu überstehen und einige gute Treffer zu landen, dann hatte er seine Chance.

Chance?

Der Begriff hatte in diesem Moment in Tony Tanners Denken keinerlei Marktwert. Tony befand sich im Zustand eines Passagiers, der bemerkt, wie sein Flugzeug in den Sturzflug übergeht und der mit allem abschließt und ruhig der Dinge harrt, die da unvermeidlicherweise auf ihn zukommen werden.

Der Kampfmeister betrat den Ring. In den Händen hielt er eine mannshohe, armdicke Bambusstange, zugleich Zeichen seines Ranges und Strafinstrument. Er betrachte die beiden Männer und winkte Tony zu sich heran. »Nehmen Sie dieses Armband ab«, befahl er und deutete auf die Peitsche, die Tony um sein Handgelenk gewickelt trug.

Zum ersten Mal spürte Tony Unsicherheit. »Nein«, sagte er entschlossen. »Ich behalte mein Armband, mein Gegner kann im Gegenzug seinen Ring am Finger behalten.«

»Ich hätte Ihren Gegner dazu aufgefordert, sich des Ringes zu entledigen. Wenn er einverstanden ist, bleibt es bei Ihrem Vorschlag.« Der Blonde nickte nur kurz. Erwartungsgemäß war er zu hochnäsig, um sich um derartigen Kleinkram zu kümmern.

Tony hingegen hatte sich einen Nachteil eingehandelt, denn der Ring am Finger seines Gegners war ein schweres Stück mit scharfen Kanten, das ihm die Schläfenader aufschlitzen konnte. Die Peitsche konnte Tony dagegen wenig Nutzen bringen. Er musste das unangenehme Gefühl niederringen, dass er sich auf einen falschen Weg begeben, irgendwo eine falsche Abzweigung genommen hatte, während der Kampfmeister noch einmal die Regeln wiederholte und sich dann an den Rand des Ringes stellte.

Der Blonde nahm Boxerhaltung an. Rechtsauslage, dachte Tony, vermutlich Linkshänder.

Er dachte es, und als er zu Ende gedacht hatte, erwischte ihn eine linke Gerade und platzte auf seine Wange. Tony Tanner riss die Arme zur Deckung hoch. Es schien weniger der Reflex eines geübten Kämpfers zu sein, als die Bewegung eines Kindes, das sich vor den Schlägen seines betrunkenen Vaters schützen will.

Aus dem Publikum erklang Gelächter. Die Schläge seines Gegners hämmerten auf Tonys Unterarme. Jedes Mal trieben sie mit ihrer Wucht Tonys Arme in dessen eigenes Gesicht. Tony wurde rückwärts gegen die Umrandung getrieben, stand dort einige furchtbare Momente lang, den Kopf hinter den Armen verborgen, das Kinn fast zwischen den Bizeps, gefangen und umklammert von der Kraft seines Widersachers. Die grob gehobelten Bretter der Umrandung schmirgelten gegen seinen Rücken. Dann tauchte Tony nach unten weg, und es gelang ihm ein blitzschneller Seitschritt.

Die Faust des Blonden krachte gegen das Holz, während Tony seine Drehung vollendete und mit aller Kraft einen Schlag gegen die Nierengegend des Blonden ansetzte.

Er landete einen Treffer, seine Faust klatschte auf die Haut des anderen, der Blonde schnappte laut gurgelnd nach Luft und knickte ein. Jetzt hätte Tony nachsetzen müssen, aber er zögerte und der Blonde bekam die entscheidenden Sekunden, die er zur Erholung brauchte.

Dennoch – Tony hatte ihn an seiner empfindlichsten Stelle getroffen: seiner Eitelkeit. Der Blonde zügelte sein Ungestüm. Er tänzelte, nutzte seine überlegene Reichweite und deckte Tony mit vereinzelten, aber gut gezielten und kräftigen Schlägen ein.

Tony ahnte, wo diese veränderte Taktik herrührte. Der Blonde hatte die erste Warnung verstanden und versuchte nun, diese Scharte auszuwetzen. Er musste sich und seinen Bewunderern bestätigen, wie gut und überlegen er doch war, und dazu schien es notwendig, Tony zu demütigen. Der versuchte, sich auf die neue Situation einzustellen. Aber seine Möglichkeiten waren begrenzt. Der Blonde war größer, war schneller und war kräftiger.

Bisher hatte Tony seine Handicaps zwar gekannt, aber nicht besonders ernst genommen. Er hatte sie verdrängt. Nun spürte er sie. Jeder Schlag, der ihn traf, seine Nervenbahnen zu schrillen Schmerzsignalen aufforderte und ihn fast aus dem Gleichgewicht brachte, ließ ihn körperlich und existenziell spüren, was es bedeutete, der Unterlegene zu sein.

Der Blonde zielte auf Tonys Schultern, setzte einen Treffer über den anderen und verschüttete einen Schmerz durch den nächsten. Tony taumelte unter den Schlägen, die sich zu einem steten Hagel steigerten. Seine Schultern wurden taub, die systematische Arbeit des Blonden trug ihre Früchte.

Am liebsten hätte Tony dem Impuls nachgegeben und die Arme gesenkt. Ihm war klar, dass sein Gegner genau diese Reaktion bezweckte. Und so hielt Tony mühevoll die Deckung hoch, verbiss sich die Qual und bemühte sich, den Schlägen auszuweichen, mit dem Oberkörper weich zu pendeln und den harten Hieben die Wucht zu nehmen. Er selbst schätzte seine Reaktionen noch als ganz passabel ein, für die Zuschauer wirkte er wie ein ermüdeter Tanzbär, der nach einer leisen Melodie mit dem Kopf wackelt.

Nun hatte der Blonde seine Befriedigung. Er täuschte und fintierte und ließ Tony genau in seine Schläge hineinlaufen. Tony versuchte einen Angriff, verfehlte den Gegner und wurde von seinem eigenen Schwung mitgerissen. Er stolperte an dem Blonden vorbei, musste sich an der Umrandung abstützen und drehte sich in eine Schlagserie des Blonden hinein.

Höhnische Rufe wurden aus dem Publikum laut.

»Zieh’ hier keine Show ab, Kumpel, hau ihn weg!« Dieser schrille Ruf stammte von Pillbury.

Sarkastische Gegenrufe antworteten seiner Aufmunterung. Frauenstimmen, wie verstimmte Schlachttrompeten, forderten den Blonden zu einer neuen Attacke heraus. Tony ließ alle Rücksicht fahren und machte das, was er noch am besten konnte – sich zurückziehen. Er beobachtete den Gegner, versuchte weiter, die Schläge auszupendeln und ging gleichzeitig so schnell rückwärts, dass der Blonde keine Möglichkeit hatte, festen Stand für einen festen Schlag zu finden.

Einige Male wischten seine Schläge haarscharf an Tonys Kopf vorbei. Der Blonde wurde wütend, griff ungestümer an und trieb Tony zu beschleunigtem Rückzug. Einem heftigen Schwinger konnte Tony durch einen Sprung nach hinten ausweichen. Die Wucht des eigenen Schlages riss den Blonden mit und trieb ihn in eine Pirouette hinein. Gelächter und ironischer Beifall brandete auf.

Plötzlich peitschte die Bambusstange des Kampfmeisters über Tonys Rücken. Die Haut platzte unter dem sausenden Schlag auf wie eine reife Frucht.

Tony spürte das Blut über seinen Rücken schießen, sein Schweiß biss sofort in der Wunde wie Feuer.

»Bestrafung wegen Passivität«, schrie der Kampfmeister und wurde mit Beifall für seine Entscheidung belohnt.

Wütend strich sich Tony eine Haarsträhne aus dem Gesicht. Seine Arme waren schwer wie Blei, sie schienen nicht mehr zu ihn zu gehören, sondern waren nur noch störende Auswüchse wie die tumorösen Krebsscheren auf alten Darstellungen von Marsbewohnern.

Er wünschte sich, diese Last abzuschütteln, sie einfach fallen zu lassen. Er versuchte es sogar, aber in seinem Bewusstsein war eine Sperre, die diesen Befehl an die Arme blockierte und Tony zwang, sich weiter mit diesem Gewicht abzugeben. Wie war er nur in diese völlig absurde Situation geraten? Tony Tanner, Sprössling des grundsoliden britischen Bürgertums ließ sich bei einer illegalen Kampfveranstaltung zu Brei schlagen! Die Wut, die dieser Gedanke in Tony aufschießen ließ, gab ihm neue Kraft. Er schlug zu und landete einige gute Haken, aber der Blonde wich sofort zurück, und Tony wirbelte nur noch die Staubwolken in der Luft durcheinander und kassierte seine Bestrafung in Form weiterer Körpertreffer.

Jedes Mal, wenn ihn die knochige Faust des Blonden traf, wurde Tony durchgerüttelt wie ein Alleebaum, der den Endpunkt eines Mitternachts-Privatrennens markiert.

Der Boden war von Schweiß und Blut rutschig geworden. Tony glitt aus und prallte mit einem dumpfen Aufschrei auf den Rücken. Sein Hinterkopf knallte auf den Boden. Für einen Moment flirrten bunte Lichter vor seinen Augen, dann, als würde die Blende einer Kamera langsam geschlossen, floss Dunkelheit aus den Rändern seines Gesichtsfeldes vor seine Pupillen. Tony riss die Augen auf und versuchte mit allem, was ihm an Willen geblieben war, den Schleier der Schwärze zu vertreiben. Er rollte sich auf die Seite und stützte sich auf alle viere.

Jetzt musste dieser Typ mit dem lächerlichen Titel Kampfmeister ihn anzählen. Einige köstliche Sekunden der Erholung, die ihn wieder zu Kräften bringen konnten. So war es bei jedem regulären Boxkampf. Aber dies war kein regulärer Boxkampf, und so griff der Blonde, unter dem Kreischen des Publikums, Tony wieder an.

Tony konnte sich nicht wehren. Er versuchte zwar, sich auf die Knie zu setzen und die Arme zur Deckung zu heben, aber da traf ihn schon ein Leberhaken und er krümmte sich mit einem gurgelnden Aufschrei zusammen. Sein Herz pochte und polterte, Tony strampelte wie ein Ertrinkender in der steigenden Flut einer Ohnmacht. Er stieß die Arme nach oben und richtete sich auf, aber im nächsten Augenblick brachte ihn ein Treffer ins Taumeln und er glitt auf einer roten Lache aus.

In seinem Mund war der metallische Geschmack von Blut, die Unterlippe war angeschwollen, der Pulsschlag fuhr wie eine rostige Säge schmerzhafte durch das geschwollene Fleisch hindurch. Ein Tritt erwischte das Schienbein des Blonden; der sprang mit einem Fluch zurück. Bevor Tony einen weiteren Gedanken fassen konnte, knallte die Bambusstange über seine Brust.

»Bestrafung wegen Regelverstoßes.«

Ächzend rappelte sich Tony auf. Er taumelte und musste mit ausgreifenden Armbewegungen um sein Gleichgewicht kämpfen.

Der Blonde kümmerte sich nicht um Tony, sondern humpelte fluchend durch den Ring und schüttelte das getroffene Bein.

Tony war sicher, dass diese Aktion zu neunundneunzig Prozent eine Showeinlage war, die den heroischen Endkampf des Blonden einläuten sollte.

Taumelnd, aber entschlossen näherte sich Tony seinem Gegner. In seinem Mund war bereits der bittere Geschmack der Niederlage, er hatte Angst und er hasste die Schmerzen, die er schon jetzt wie die ungewollte Gabe einer bösen Fee erhalten hatte, aber ein unsterblicher Rest von Stolz trieb ihn wieder vorwärts. Der Blonde sah Tony kommen und fletschte wütend die Zähne. Er stellte sich in Position und erwartete Tonys Ansturm. Tonys Ansturm war ein laues Lüftchen, das sich in der Abwehr des Blonden totlief. Zu müde, um noch ein schnellen Rückzug riskieren zu können, riss Tony die Arme erneut hoch und verkroch sich hinter seinen Armen. Er schloss die Augen, als würde er sich damit in eine andere Welt retten können.

 

Die Schläge seines Gegners hämmerten auf ihn ein, sein Ohr brannte und dröhnte nach einem Treffer. Dennoch konnte Tony deutlich das Geschrei der Zuschauer wahrnehmen. Es war kein guter Kampf, den sie zu sehen bekamen, es war im Grunde überhaupt kein Kampf mehr, nur noch eine einseitige Prügelei, aber vielleicht war es gerade das, was das kalte Glitzern in die Augen des Publikums brachte und raue Schrei aus ihren Kehlen löste. Was sie sahen war abstoßend, unschön, unkultiviert und grausam, und es war faszinierend und zwang mit einer dunkel magischen Macht zum Hinschauen. Und auch Tony begann zu verstehen. Er duckte sich hinter seine Arme, die Rechte umklammerte das linke Handgelenk und spürte beiläufig das blutnasse Leder der Peitsche unter den schweißigen Fingern. Tony versuchte seinen Atem zu beruhigen, obwohl ihm nur ein hastiges Keuchen gelang und er bemühte sich, unter den Treffern des Blonden einen Rest von klarem Bewusstsein zu behalten. Was er verstand, war die Einfachheit der Situation. Zwei Männer, einige Regeln – kein Sozialplüsch, kein Pfaffengeschwätz, kein weinerliches Weibergesülze, nur Muskeln und Fäuste und Sehnen und blitzschnelle Reaktionen und Schläge und Schmerz. Der pure Stoff, die reine Essenz des Daseins, Reptilien, die sich im Urschlamm gegenseitig belauern und auffressen.

Und es war gut so. Ja, es war sogar verteufelt gut so!

Gib mir mehr davon, Blondie, ich liebe den Schmerz, ich mag es, wenn die Blutgefäße unter meiner Haut platzen und mich mit den Ehrenzeichen blauer Flecken tätowieren, ich mag das Klatschen, wenn deine Faust auf meine Haut trifft, es klingt süß in meinen Ohren, weil es ein lebendiges Geräusch ist und so ganz anders als das Zischen pneumatischer U-Bahn-Türen, die mich in den Alltag saugen wollen, ja, es zeigt mir, dass ich immer noch lebe, dass ich noch Schmerzen spüren kann und Wut und Angst und dass ich noch zuschlagen kann, trotz christlicher Kultur und Labourparty und Wohltätigkeitsfeiern alter Tanten, ich kann Schmerzen empfinden und Schmerzen zufügen, ich lebe noch, komm, Blondie, wir machen noch eine Runde weiter, ich wanke, aber ich weiche nicht, du kannst mich zum Krüppel schlagen, aber unter den Wunden wird mein Herz jubeln, denn es hat sich lebendig gefühlt wie noch nie zuvor.

Der bittere Schleim der Niederlage wandelte sich, der Eisengeschmack in Tonys Mund war wie ein Aufputschmittel. Ohne zu überlegen schlug Tony zu und setzte seine Faust mit vorgereckten Fingergelenken knallhart über die Herzspitze seines Gegners. Er spürte den Aufprall und wie der Körper des anderen für einen Augenblick weich zu werden schien, als hätte er seine Substanz gewechselt. Über seine Fäuste hinweg schaute Tony in das Gesicht des Gegners. Ihre Augen begegneten sich. Blonde verschwitzte Haarsträhnen, Schweißbäche in den Falten des schmalen Gesichtes, wasserblaue Augen – Tony schaute und wurde angeschaut, und während sich Millisekunde auf Millisekunde schichtete und die Zuschauer sich in eine tobende Masse verwandelten, öffnete sich vor Tony ein Gang, und er trat in einen geheime Kammer hinter den wasserblauen Augen und er sah einen kleinen blonden Jungen und seine große Schwester, und diese Schwester holte aus und landete eine krachende Ohrfeige, die den Kleinen umwarf, und dann lachte sie das schreiende Kind schallend aus und ging hinaus, und der kleine blonde Junge warf sich auf den Boden und strampelte und kreischte erbärmlich vor hilfloser Wut.

Das Bild verschwand, es löste sich auf wie eine ins Nichts verschwindende Filmleinwand und machte den Blick frei auf das Gesicht des Blonden. Bevor irgendeiner registrierte, was überhaupt geschah, holte Tony ansatzlos aus und verpasste seinem Gegner mit der weit geöffneten Hand eine knallende Ohrfeige. In den wasserblauen Augen war Unverständnis zu lesen und dann der Schimmer aufsteigender Panik. Noch einmal landete Tonys Hand mit einem unverschämten Knall auf der gegnerische Wange und dann noch einmal, bevor dieser überhaupt eine Reaktion zeigte. Er versuchte eine Schlagkombination, aber da wo er hinzielte, stand kein Tony Tanner mehr.

Tony sprang zur Seite und holte aus. Seine rechte Hand umfasste die Peitsche und gab der Linken zusätzliche Wucht. Es war, als würde Tony linker Arm von einer unsichtbaren Stahlfeder losgeschleudert. Der Ellbogen bohrte sich in die Nierengegend des Blonden, glitt an der verschwitzten Haut ab und ratschte über das Rückgrat hinweg. Der Blonde stieß einen hellen Schrei aus und wand sich wie eine Schlange. Seine Abwehr ging ins Leere.

Tony war immer noch hinter ihm – und wie er sich auch drehte und wendete, Tony Tanner war in seinem Rücken und rammte mit ungebremster Kraft seinen linken Ellbogen in den Körper seines Gegners.

 

»Yeeeah, Alter, Mann, Todesmeister! Gib’s ihm, das will ich sehen. Gib mir mehr davon, mach ihn zum Mädchen!« Das war Pillbury. Seine kreischende Stimme ging in dem aufsteigenden Gebrüll unter. Die Schreie stiegen auf wie ein Schwarm fetter Schmeißfliegen.

Der Blonde taumelte und lief rückwärts. Alle seine Aktionen waren nur noch Versuche, Tonys wütende Angriffe zu vermeiden. Der Blonde war gelähmt, er wollte wieder attackieren und er konnte nicht, weil etwas, das er selbst nicht verstand, seinen Mut und seine Kraft in wimmernde, eitle, kindische Wut verwandelt hatten. Und diese Wut kehrte sich gegen ihn selbst, raubte ihm den Atem, verstärkte jeden Schmerz, legte sich wie ein Gewicht auf seine Reaktionen.

Seine Rückzugsbewegung war nur noch eine Flucht. Er prallte gegen die Holzumrandung, hob die Arme, da war Tony Tanner schon bei ihm und rammte seinen linken

Arm, der zu seiner fürchterlichsten Waffe geworden war, in den Plexus solaris. Der Blonde schrie noch einmal kurz, wie ein Erstickender. Er taumelte krachend gegen die Holzbracke und krümmte sich vornüber.

Die Zuschauer sprangen schreiend zurück, als sich die Planken zur Seite neigten und umzustürzen drohten. Noch ein Stoß. Das Mark zerreißende Geräusch, als die Nase des Blonden mit einem Knall zerplatzte. Ein Schauer von Blut und Schleim bedeckte Tony und sprenkelte dunkel das Holz der Umrandung und betupfte aufschießend selbst die Zuschauer, die sich über die Umrandung beugten wie Schiffspassagiere über die Reling, wenn unten im wild schäumenden Wasser jemand ertrinkend um einen Rettungsring bettelt.

Tony schaute dumpf hoch und sah in blutfleckige Gesichter mit aufgerissenen Augen und zum Schreien geöffneten Mündern. Das hier war besser als eine Linie Koks, es war besser als Sex, als Bungee-Springen, besser als Geldverdienen. Das war das, wonach sich das Reptilienhirn seit Jahrmillionen sehnte, wonach das Rückgrat gierte, seit sich parasitäre Nervenzellen zu Neuronenklumpen ballten und Schemen von Kultur, Anstand und Sitte daherlallten. Hier war das wirkliche Leben, das Ich will nicht sterben– und das Ich bring dich um-Leben. Tonys Ellbogen krachte gegen das Holz. Der Schmerz raubte ihm fast die Besinnung.

Der Blonde war zu Boden gerutscht, hatte seine Chance erkannt und war zur Mitte der Arena gekrochen, als Tony für einen Augenblick abgelenkt war. Tony wirbelte herum, war mit ein, zwei Schritten bei dem Blonden und riss ihn hoch. Dann ließ er ihn rücklings auf den Boden knallen. Die Nase des Blonden war nur noch eine flache, blutige Masse, Blut schmierte um den Mund und die Augen starrten blicklos und zeigten fast nur noch das Weiße. Tony setzte sich breitbeinig auf die Brust des Blonden und holte aus. Ein wildes, kosmisches Gefühl von Triumph erfüllte ihn, er krampfte seine Faust zusammen und lechzte blind und aufgepeitscht nach dem Moment, in dem er sie als finalen Hammer in die blutige Masse von Gesicht hineinprallen lassen konnte. Bevor er seine Absicht verwirklichen konnte, fuhr ihm wie ein Blitz ein scharf geschnittener Schmerz in die Schulterblätter, der ihn fast völlig lähmte.

Tony glaubte, der Kampfmeister habe zugeschlagen, aber der stand in einiger Entfernung und hatte sich auf seinen Stock gestützt. Noch einmal versuchte Tony, seine Faust ins Ziel zu bringen und wieder fuhr ihm der brennende Schmerz in die Schulter. Er drehte sich um, aber niemand war hinter ihm, der für diese blockierende Behinderung verantwortlich sein konnte.

Er fürchtete für einen Moment, ein Messer im Rücken zu haben, aber er konnte den Arm ansonsten frei bewegen.

Tony drückte sich vom Boden ab und raffte sich auf. »Ich schätze, die Sache ist auch so klar«, sagte er. Er nuschelte und hielt sich die Unterlippe. Der Kampfmeister nickte, schritt zu dem Blonden, der sich noch nicht gerührt hatte, und betrachtete ihn eine Weile. Dann schlug er den Stock dreimal laut auf dem Boden und vollführte mit der Rechten eine ausgreifende Geste.

»Kampfende, Aus. Aus!«, schrie er in das Toben der Zuschauer hinein. Pillbury hatte irgendwoher eine nasses Handtuch organisiert und brachte es Tony.

»Alter, du hast es echt spannend gemacht. Dachte doch schon fast, meine Piepen wären tralala. Aber dann – Junge, für diesen Ellbogen brauchtest du ‘nen Waffenschein. Wär ’n Thema für ‘ne Abrüstungskonferenz. Mach dich sauber, Alter, ich muss schnell mal abkassieren.«

Pillbury verschwand im Gedränge.

Tony tupfte vorsichtig das Blut aus seinem Gesicht, wehrte höflich diverse Angebote ab, die ihm weiblicherseits medizinische Hilfe und hormonelle Entlastung versprachen und schaute zu, wie der Blonde auf eine Bahre gelegt und weggeschafft wurde. »Keine Angst, er wird medizinisch versorgt und ist bald wieder voll auf dem Damm.« Der seriöse Herr schüttelte Tony emphatisch die Hand, aber nicht, ohne seine blütenweißen Manschetten vorher ein wenig nach oben gezogen zu haben. Weiche Hände, deren Besitzerin Tony nicht sehen konnte, reinigten seinen Rücken und deckten die Platzwunde mit Gaze ab. Klebeband ratschte, und Tony wurde verpflastert. Jemand brachte Tonys Hemd und half ihm hinein.

»Es war ein guter Kampf, wahrhaftig. Habe mich selten so gut unterhalten. Und dass sie den Gegner geschont haben zuletzt – sehr faire Geste, Respekt. Britisch, durch und durch. Very british! Die Nase Ihres Gegners, na ja, es gibt schließlich genügend Meister der plastischen Chirurgie in dieser prächtigen Stadt. Sie haben die Wette gewonnen. Äh – Nehmen Sie diese Kreatur mit – Sie haben sie schließlich ehrlich verdient?«

Pillbury war mit dem Abkassieren eine ganze Weile beschäftigt, und so nutzte Tony die Gelegenheit, seinen Durst zu löschen. Er tat es mit Champagner, weil er sicher war, dass er sich heute etwas gönnen durfte. Schließlich kam Pillbury auf ihn zu. Hinter ihm taperte die schmutzige Gestalt, die Tony schon ausführlich betrachtet hatte. In der Zwischenzeit hatte ein neuer Kampf begonnen, und sie erreichten die Straße, ohne dass sich jemand weiter um sie kümmerte.

»Du solltest zu ‘nem Doc gehen und dich ein bisschen dicht machen lassen«, stellte Pillbury nach einem kritischen Blick auf Tony fest. »Wenn du n Öltanker wärst, hätten wir nämlich eine Ölpest vor der Küste, wenn du verstehst, was ich meine.« Tony nickte. Er verstand vollkommen, was Pillbury meinte.

»Oberse nich gut Freund zu Olms, aber du bissn guta Kumpel!« Tony zuckte zusammen, als ihn die schmutzige Gestalt plötzlich ansprach. Die Stimme war hell wie die eines Jungen und sprach in einem schwer verständlichen Dialekt, den Tony noch nie gehört hatte, wenn er auch Anklänge an Cockney hatte.

»Kommse morgn, wenn Helle weg is, annen Fluss zum großen Rohr, zeig ich euch dann, wo was zu sehen gibt. Stalka red kein Scheiß, isn gute Kumpel zu gute Kumpel, dann tschö! Nich vergisst.«

Tony war angeschlagen, erschöpft und leicht angesäuselt. Und nun musste er noch zusehen, wie ein schmutziges Monster, das sich Stalka genannt hatte, über die Straße ging, prüfend an den Gullys roch und schließlich fast mühelos einen schweren Kanaldeckel hochwuchtete.

Die bucklige Gestalt verschwand in der Öffnung, der Deckel wurde von innen wieder an seine Stelle gebracht.

Als das schleifende Geräusch des zurechtgerückten Deckels verklungen war, lag die Straße friedlich und im grauen Glanz fest gefügter Alltäglichkeit da und leugnete alles, was Tony in den letzten Stunden erlebt hatte.

»Woher kennst du diesen Typen?«, fragte Tony.

»Is ‘ne komplizierte Geschichte. Erzähl ich dir bei Gelegenheit.«

»Jetzt ist die Gelegenheit?«

»Vergiss es, Kumpel, Alter. Wir müssen dich zum Doc bringen, sonst läufst du mir aus. Wär schade um dich, bist’n richtiger Killer, ‘n richtiger. Mann!«

Sie bestiegen die Harley und fuhren stadteinwärts. Dann fiel Tony etwas ein. »Sag mal, Pillbury,« brüllte er am Ohr des Fahrers, »wie viel hast du eigentlich bei deiner Wette gewonnen?«

Pillbury nannte eine Summe. Tony ließ sich die Summe drei Mal wiederholen, um sicher zu sein, dass er sich nicht verhört hatte. Und dann legte er den Kopf in den Nacken und lachte, so laut, dass er selbst das Motorengeräusch der Harley übertönte.

»Gib Gummi, Alter! Das sagt dir ’n Killer!«, brüllte Tony in die Nacht hinaus, und Pillbury schaltete einen Gang runter, um Anlauf zu nehmen.

In der Glasscheibe der Telefonzelle spiegelten sich die Lichter von Pillburys Motorrad.

Der Anblick erinnerte Tony ein wenig an einen nächtlichen Rummelplatz, allerdings passte diese Assoziation wenig zu Tony Tanners derzeitiger Stimmung. Seine Unterlippe hing wie ein schlecht angebautes Ersatzteil in seinem Gesicht, ein Auge zeigte die Tendenz zuzuschwellen, und bei jeder Bewegung meldete sich eine halb zertrümmerte Muskelpartie.

Er tippte eine Nummer in die Tastatur und bemerkte, dass er einen Blutrand unter dem Fingernagel hatte. Das Freizeichen kam. Tony wartete, lauschte auf das Rauschen in der Leitung und auf das Pochen seines eigenen Pulsschlages.

»John Tanner hier.« Die Stimme war plötzlich da, als wäre Tony für einige Sekunden abwesend gewesen und hätte das Geräusch des Abnehmens auf der Gegenseite überhört.

»Hi Dad, ich bin’s, Tony.«

»Sie sind vielleicht ein guter Stimmenimitator, aber Sie sind auch ein verteufelter Lügner. Mein Sohn ist schon vor Jahren auf irgendeiner seiner wahnwitzigen Expeditionen in der Arktis verschollen und hat sich seitdem nicht mehr gemeldet.«

Tony verdrehte die Augen. Er konnte sich die Szene am anderen Ende der Leitung so genau vorstellen, als stünde er neben seinem Vater. John Tanner, wie üblich die linke Hand in der Tasche seiner Manchesterhose – wahlweise dunkel- oder hellbraun, aber auf jeden Fall an Knien und Sitzfläche deutlich verschossen – vergraben, mit einem ziemlich überproportionierten Pullover, der an den Ellbogen Lederflecken trug und nach Pferdestall und Fuchsjagd im Herbst ausschaute; die ganze hagere Gestalt gegen die Wand gelehnt und mit einem jubelnden Glitzern in den Augen, seinem Jungen eins auswischen zu können.

»Was haben wir heute wieder für einen Humor, ich lach mich ja grad weg«, sagte Tony denn auch säuerlich. »Können wir kurz mal die Pädagogik ausblenden? Ich habe nämlich ein gewisses Anliegen.«

»Oh, ich dachte, es wäre dein Anliegen, deinem alten Vater einmal die Freude deiner jugendfrischen Stimme zu gönnen?«

»Gut, ich weiß, ich habe mich in der letzten Zeit nicht oft gemeldet und …«

»Der Anfang war verheißungsvoll, allerdings alsdann vermisse ich jene Nähe zu den Tatsachen, die die Rede eines Mannes zieren sollte, mein Junge.«

»Also gut, ich habe mich in den letzten Monaten überhaupt nicht gemeldet. Das war mies, aber ich hatte meine Gründe. Und jetzt brauche ich deine Hilfe.«

»Alles klar, mein Sohn, der ganze Witz besteht darin, das Kondom nicht sofort vollständig auseinanderzudröseln, sondern nach dem ersten Aufsetzen auf den damit zu umhüllenden Körperteil sukzessive zu entrollen. Sonst noch was?«

»Ja, sag mir bitte, wie ich es mit einem Vater wie dir ausgehalten habe, ohne wahnsinnig zu werden.«

»Du gehst von falschen Voraussetzungen aus. Du BIST wahnsinnig geworden.«

»Ich könnte es mir wirklich nicht verdenken. Sag mal, habe ich da eben Francine im Hintergrund gehört?«

»Korrekt. Deine schwangere Ex-Freundin hat sich hier schon vor ein paar Tagen einquartiert und kaut mir das Ohr ab, von wegen wie ungerecht die Welt ist und dass sie zu dir zurück will. Heirate sie, zum Teufel, damit ich sie loswerde.«

»Ich habe im Moment keine Lust.«

»Das ist ein verdammter Befehl, Tony Tanner. Deine Ex, die im übrigen auch im schwangeren Zustand verteufelt gut aussieht, hat sich mit deiner Mutter und ein paar von deren Kumpaninnen zusammengetan, und wenn ich nicht meinen Hund immer bei mir hätte, dann hätten mich die Weiber schon auf den Küchentisch gezerrt und mit einem rostigen Kartoffelskalpell kastriert, als Racheakt für alle Frauen dieser Welt, die von Männern jemals mies behandelt worden sind, angefangen bei Eva.«

»Braves Hundchen, schließlich hast du ihn ja davor gerettet selbst kastriert zu werden, da soll er sich mal revanchieren. Hm … gibt es einen Grund, warum Francine bei euch eingelaufen ist?«

Im Hintergrund hörte Tony die Stimme seiner Mutter mit einem »Wer ist dran, John-Liebling« und das Organ seines Vaters, der sich vom Telefon abgewandt hatte und sagte: »Es ist Harold Pimble, wegen der Vorderachse von meinem 47er Jaguar.«

»Grüß ihn von mir.«

»Ja, sicher doch, mach ich.«

»Was hattest du noch gefragt, Tony? Ach so, Francine … woher soll ich das wissen, warum sie sich hier eingenistet hat. Meine Vermutung geht dahin, dass es damit zusammenhängen könnte, dass sie uns als deine Eltern kennt. Im Grunde ist es auch egal, denn deine Mutter hat erkannt, dass das Versorgen von schwangeren Ex-Freundinnen befriedigender ist als das Durchfüttern räudiger und bissiger Köter oder stinkender Katzen. Nun ja, gerechterweise muss ich sagen, dass sich Francine in der Praxis nützlich macht und zumindest die männlichen Patienten finden das gut.«

»Aber sie hat keinen bestimmten Grund genannt, ich meine Francine … hat sie oder hat sie nicht?«

»Nanu, höre ich da etwa Besorgnis in dem Sprechorgan meines lang verschollenen Nachwuchses? Nein, sie hatte einfach nur einen Moralischen. Sie brauchte jemanden, der verständnisvoll nickt, wenn sie einen Sermon über die Schlechtigkeit der Welt und deren Bewohner, soweit mit einem Genitale virilis ausgestattet, absondert.«

»Klingt so, als ob meine Mutter diese Aufgabe übernommen hätte?«

»Hat sie, hat sie, mein Junge. Niemals in den letzten zwanzig Jahren habe ich mit derartiger Begeisterung Gartenarbeiten erledigt wie jetzt. Nur um dieses Weibergewäsch nicht mehr hören zu müssen. Eine Frau im Haus ist ja schon fast so was wie Überfluss, aber zwei davon und dann noch eine, die permanent eine Gurken-Schokoladen-Diät durchführt und völlig unmotiviert in Tränen ausbricht, ich sage dir, es ist der Horror. Also, komm hierhin, heirate sie, egal von wem unser Enkelkind ist, und dann zieht ihr bitte nach St. Helena oder ersatzweise an den abgelegensten Teil des Nordpols.«

»Sie hat mir den Laufpass gegeben, um das noch mal klarzustellen.« Die Betonung lag auf »Sie«.

»Wenn du glaubst, mir wäre es gelungen, auch nur einem Teil eures Zusammenseins zu entgehen, dann täuschst du dich. Ich kann die ganze Sache inzwischen singen. Und deshalb weiß ich auch, dass du Idiot sie vernachlässigt hast und deshalb bist du schuld. Und so weiter …«

»Ist das jetzt auch deine ehrliche Meinung?«

»Junge, tu mir einen Gefallen und heirate sie oder besorg ihr einen Typen, der ihr das hübsche Mäulchen stopft, mit welchem Mittel auch immer. Sie ist ein wirklich nettes Mädchen und ich mag sie, aber sie geht mir irrsinnig auf den Geist und inzwischen bin ich soweit mit den Nerven runter, dass ich den grünen Jaguar in den Graben gesetzt habe – das mir, ICH setze einen Jaguar in den Graben, das sagt doch alles.«

»Du wirst nicht jünger ….«

»Na Gott sei Dank. Ich gehöre zu den Männern, die mit jedem Jahr besser werden. Frag meine Patientinnen. Aber nachdem wir nun die Datenbanken unseres Privatlebens abgeglichen haben, kannst du mir sagen, was los ist. Du klingst nicht gut. Brauchst du Geld? Oder hast du die Queen kaltgemacht? Hauptsache, es ist keine Weibergeschichte.«

»Ich habe eine dicke Lippe. Und deshalb brauche ich einen Arzt.«

»Wie wäre es mit der Notaufnahme des Krankenhauses? Sag mal, so bescheuert ist doch selbst mein geliebter Tony nicht, dass er mich mitten in der Nacht anruft, um sich eine Arztadresse in London geben zu lassen.«

»Danke, wirklich, ich danke dir für dein väterliches Verständnis und deine aufbauenden Worte. Danke, ich bin gerührt. Ich brauche, sagen wir mal so, ich brauche einen Arzt, der keine Fragen stellt.«

»Du willst doch keine Abtreibung im achten Monat machen lassen oder sonst eine Schweinerei? Also doch eine Weibergeschichte …?«

»Ich habe mich geprügelt.«

»Sonst nichts?«

»Ich brauche jemanden, der mich zunäht und der dafür sorgt, dass ich morgen einigermaßen passabel im Büro die Flanellhose durchscheuern kann. Wenn ich mich ganz offiziell irgendwo melde, kriege ich eine ganze Latte blöder Fragen gestellt. Ich habe aber keine Lust auf blöde Fragen. Und da dachte ich, du als Arzt hättest vielleicht jemanden, der ganz inoffiziell, du weißt schon …«

»Dich inoffiziell unter die Nähmaschine legt? Jetzt mal raus mit der Sprache. Hast du Schwierigkeiten? Soll ich zu dir kommen? Tony, du bist doch nicht etwa auf die schiefe Bahn gekommen?«

Doch, dachte Tony Tanner, das bin ich. Irgendwie schon und irgendwie doch nicht. Aber erklären kann ich es nicht, denn ich verstehe es selber ja kaum.

»Ich bin doch viel zu feige, um auf die schiefe Bahn zu kommen. Ich habe mich schlichtweg ein wenig geprügelt und ich möchte vermeiden und so weiter. Also, hast du eine Adresse, bevor meine Telefonkarte völlig nackt ist.«

»Junge, Junge! Pass auf, es gibt einen alten Freund von mir, den du eigentlich auch kennen solltest, Harvey Grands. Der ist nach London gezogen, um eine Privatklinik zu gründen, dann begann er irgendwelche furiosen Theorien über abnorme Immunsysteme bei Menschen zu entwicklen, seine Frau starb, und er selbst kam seinem Medikamentenschrank zu oft zu nahe. Armer Kerl. Manchmal telefonieren wir noch. Er hat seine Approbation verloren, aber ich bin sicher, dass er die notwendigen Stiche noch drauf hat. Ist es im Gesicht? Und denk an Tetanus …«

»Ich fasse also zusammen – du schickst mich zu einem versponnenen Junkie, der überhaupt nicht mehr praktizieren darf, richtig?«

»Klar erkannt, Söhnchen. Hast du Schmerzen? Er soll Dir kein Baralgin geben …«

»Dann schieb mal die Adresse rüber – Väterchen.

Fortsetzung folgt …